Zahlen - Strategie - Stimmung So ist die Pandemie-Lage in Europa
02.09.2021, 20:02 Uhr
Inzidenzen und Corona-Regeln unterscheiden sich in den europäischen Ländern stark.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Die Corona-Lagen könnten in den europäischen Ländern nicht unterschiedlicher sein. Während für die einen fast keine Regeln mehr gelten, erleben andere scharfe Regeln. Welche Strategien fahren die einzelnen Staaten und wie wirkt sich das auf die Stimmung der Menschen aus? Acht Länder im Schnellcheck.
Menschen in unterschiedlichen Ländern erleben auch unterschiedliche Pandemie-Situationen. Während das Virus für manche schon keine Rolle mehr spielt, sind andere stärker eingeschränkt. ntv.de hat sich die Lage in Europa genauer angesehen: Corona-Fakten, Strategie und Stimmung - ein Vergleich.
Frankreich und Italien: Die mit den strengen Regeln
Die harten Corona-Fakten
Die Corona-Infektionslage schwächt sich in Frankreich auch in den von Deutschland als Hochrisikogebiet eingestuften Urlaubsregionen ab. Ungeimpfte oder noch nicht vollständig geimpfte Franzosen lassen sich seit den verschärften 3G-Regeln intensiv testen, wodurch auch etliche symptomlose Infektionen entdeckt werden. In Frankreich erhielten bereits rund 59 Prozent der Erwachsenen eine vollständige Impfung. Bis Anfang 2022 will die Regierung zudem etwa 18 Millionen Menschen ein drittes Mal geimpft haben. Italien bewegt sich mit seiner Inzidenz von 73 nahe an Deutschland. 61 Prozent der Bevölkerung sind durchgeimpft.
Strategie: strenge Regeln
Frankreich ist derzeit der Streber Europas, was die Corona-Regeln betrifft. Das Land reagierte auf die vierte Welle diesen Sommer mit strengen Vorgaben. Als im Juli die Inzidenz anstieg, beschloss die Regierung eine Impfpflicht für das Gesundheitswesen. Seit Anfang August muss beim Betreten von Restaurants und Cafés, in Einkaufszentren und Gesundheitseinrichtungen sowie für Fernreisen in öffentlichen Verkehrsmitteln eine Impfung, eine Genesung oder ein Negativ-Test nachgewiesen werden - der sogenannte Gesundheitspass. Dies galt seit Juli schon für Kultur- und Freizeiteinrichtungen. Seit dem 30. August gilt die 3G-Regel zudem für rund 1,8 Millionen Beschäftigte in Bereichen mit viel Publikumsverkehr. Wer die Vorschrift missachtet, könnte ohne Lohnfortzahlung nach Hause geschickt werden.
Auch in Italien gelten ab dieser Woche verschärfte Corona-Regeln. Wer mit Langstreckenbussen oder im Bahnverkehr mit Hochgeschwindigkeits- sowie Intercity-Zügen reist, braucht einen 3G-Nachweis. Diese Nachweise werden in Italien auch als Green Pass (Grüner Pass) bezeichnet. Es handelt sich dabei um ein digitales oder ausdruckbares Zertifikat. Die Regierung hatte sich wegen der gestiegenen Corona-Infektionszahlen Anfang August auf weitere Regeln geeinigt. Zunächst führte sie die Green-Pass-Pflicht für Restaurantgäste ein, die im Innenbereich sitzen wollen.
Weitere Regeln gelten in Italien für das im September wieder beginnende Schuljahr. Das Schulpersonal darf nur mit dem Green-Pass zur Arbeit kommen - eine teils umstrittene Regelung. Wer sich nicht impfen lassen kann, bekommt kostenlose Corona-Tests. Ansonsten sind diese in Italien in der Regel kostenpflichtig. Den Beschäftigten in Schulen ohne Green Pass kann damit die Kündigung drohen, wenn sie länger als fünf Tage ohne Grund fehlen. An den Universitäten gilt die Nachweispflicht dagegen für Studierende und alle, die dort arbeiten, also Menschen in der Lehre oder Forschung.
Stimmung: gemischt
In Frankreich stehen die Corona-Regeln von Präsident Emmanuel Macron weiterhin in der Kritik. Bereits das siebte Wochenende in Folge gab es Demonstrationen gegen den Gesundheitspass und eine Impfpflicht für einige Berufsgruppen. Die Teilnehmerzahlen sind allerdings rückläufig. Auch in Italien hatten im Vorfeld der nun geltenden Regeln landesweit Impf- und Green-Pass-Gegner teils heftig gegen die Maßnahme demonstriert.
Zitate
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron: "Was ist Ihre Freiheit wert, wenn Sie mir sagen: 'Ich will mich nicht impfen lassen'? Wenn sie morgen Ihren Vater oder Ihre Mutter oder mich anstecken, bin ich Opfer Ihrer Freiheit. Weil Sie die Möglichkeit hatten, sich und mich zu beschützen. Das nennt man Unverantwortlichkeit oder Egoismus." - Juli 2021
Italiens Ministerpräsident Mario Draghi: "Wer die Menschen ermuntert, sich nicht zu impfen, ermuntert sie zu sterben." - Juli 2021
Großbritannienn und Schweden: Die mit den vielen Freiheiten
Die harten Corona-Fakten
Hohe Inzidenz aber auch hohe Impfquote. Wie der "Guardian" berichtet, ist die aktuelle Zahl der Coronavirus-Infektionen in England inzwischen 26-mal so hoch wie zur gleichen Zeit im letzten Jahr. Die Inzidenz lag für ganz Großbritannien zuletzt bei über 350. Jedoch sei die Zahl der Todesfälle und Krankenhauseinweisungen deutlich kleiner als zu Hochzeiten der Pandemie, beispielsweise im vergangenen Januar. Das zeige die Schutzwirkung der Impfstoffe. Etwa 63 Prozent der Briten sind vollständig geimpft.
Die hohe Zahl der Fälle im ganzen Land beunruhigt Wissenschaftler jedoch weiterhin. "Eine steigende Zahl von Infektionen in der Bevölkerung bedeutet immer noch eine wachsende Zahl sehr kranker Patienten und eine unnötig hohe Belastung für den National Health Service (NHS)", so Simon Clarke, Professor für zelluläre Mikrobiologie an der Universität Reading. Das kühlere Herbstwetter werde wahrscheinlich in den kommenden Wochen zu einem weiteren Anstieg führen.
In Schweden liegt die Sieben-Tage-Inzidenz derzeit bei etwa 70. Damit liegt das Land leicht unter dem EU-Durchschnitt. Dasselbe gilt für die Zahl der Corona-Todesfälle je Einwohner. 57 Prozent der Schweden sind vollständig geimpft.
Strategie: Freiheiten für alle
Am 19. Juli zelebrierten die Briten den "Freedom Day", also den "Tag der Freiheit". Seitdem sind fast alle Corona-Beschränkungen in Großbritannien aufgehoben. Es gibt keine Maskenpflicht und keine Abstandsregeln mehr. Außerdem durften Diskotheken, Theater und Sportstadien wieder öffnen und sämtliche Plätze belegen. Premierminister Boris Johnson begründete die Entscheidung mit der hohen Impfquote im Land.
Schon 2020 fiel Schweden mit seinem Corona-Sonderweg auf. So gab es beispielsweise nie eine Maskenpflicht. Fitnessstudios, Gastronomie und Geschäfte blieben immer geöffnet. Die Regierung setzte auf Empfehlungen und nicht auf Beschränkungen - und musste dafür im Ausland viel Kritik einstecken. Zwischenzeitlich sah es dann auch so aus, als würde Schwedens Strategie scheitern: Im April hatte das Land die höchste Inzidenz Europas. Doch die Zahlen gingen wieder nach unten.
Auch aktuell merkt man in Schweden von Corona nur wenig. So wird das Tragen einer Maske im öffentlichen Raum empfohlen - mehr aber auch nicht. Auch die 3G-Regel spielt dort bislang keine Rolle. Im Vergleich mit vielen anderen europäischen Ländern haben die Schweden viele Freiheiten.
Stimmung: Sorge vor Schulstart in England
Zum Schulbeginn in England haben Lehrer und Wissenschaftler die Wiedereinführung der Maskenpflicht in Schulen gefordert. "Warum geben wir Maßnahmen auf, die die Übertragung in einer ungeimpften Altersgruppe in einem überfüllten Gebäude drastisch reduziert hätten?", fragte Mary Bousted, Vorsitzende der Lehrergewerkschaft National Education Union, in der Zeitung "Daily Mirror". "Wir werden erleben, dass sich Tausende Schüler und Hunderte Lehrer selbst isolieren müssen." Sie verwies auf Erfahrungen in Schottland, wo das Schuljahr bereits begonnen hat. Dort sind die Neuinfektionen zuletzt deutlich gestiegen. Die Inzidenz liegt bei knapp 640. Besonders viele Neuinfektionen gibt es bei Jugendlichen.
In Schweden ist das Stimmungsbild gemischt. Das zeigt eine neue Umfrage im Auftrag des European Council on Foreign Relations (ECFR). Demnach finden 52 Prozent der Schweden, dass die Corona-Maßnahmen nicht streng genug waren - der höchste Wert unter den 12 befragten Staaten. Gleichzeitig traut 76 Prozent der Bevölkerung den Beweggründen der Regierung für die Corona-Maßnahmen.
Zitate
Premierminister Boris Johnson zum Freedom Day: "Wann sollten wir es tun, wenn nicht jetzt?" - Juli 2021
Schwedens Chef-Epidemiologe Anders Tegnell im Gespräch mit "Deutschlandfunk": "Wir haben nie daran geglaubt, dass dieses ständige Öffnen und Zumachen der Gesellschaft funktioniert. Uns war klar, dass das zu viele negative Effekte mit sich bringt." - Juli 2021
Kosovo und Montenegro: Die mit den vielen Fällen
Die harten Corona-Fakten
Die Inzidenzen im Kosovo und in Montenegro sind im vergangenen Monat rasant angestiegen. Zuletzt vermeldeten die Balkan-Staaten jeweils Werte von über 600 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in den vergangenen sieben Tagen. Besonders ins Auge fällt außerdem die niedrige Impfquote verglichen mit anderen europäischen Ländern. In Montenegro sind nur 29 Prozent der Menschen vollständig geimpft. Kosovo bildet das Schlusslicht - dort sind es gerade einmal knapp 14 Prozent.
Strategie: schärfere Beschränkungen
Die steigende Inzidenz hatte im Kosovo strengere Regeln zur Folge. Seit dem 29. August gilt eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit, private Feiern sind verboten und die Gastronomie ist stark eingeschränkt. Die Regierung hat außerdem eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Der Beginn des Schuljahres wurde um zwei Wochen auf Mitte September verschoben.
Eine nächtliche Ausgangssperre gibt es in Montenegro zwar nicht, doch auch hier wurden die Beschränkungen im August angesichts der kritischen Lage verlängert. Es gilt eine Maskenpflicht. Geschäfte und Gastronomiebetriebe sind geöffnet, aber es gilt die 3G-Regel.
Stimmung: kritisch
Wie das ARD-Studio Wien berichtet, sind die Kliniken im Kosovo an der Belastungsgrenze. Stand 27. August lägen rund 1100 Covid-19-Patienten in den Krankenhäusern - die Betten seien knapp. Es würden aktuell nur noch Notfälle behandelt und dringende Operationen durchgeführt.
Besonders Schweizer Medien berichten verstärkt über die Lage im Kosovo, denn in der Schweiz leben rund 200.000 Personen mit kosovarischen Wurzeln. Auf den Intensivstationen der Schweiz häuften sich die Corona-Fälle bei Reiserückkehrern, heißt es in Berichten. Viele von ihnen hielten sich im Kosovo oder in Nordmazedonien auf und müssten nun von der Schweizerischen Rettungsflugwacht (Rega) nach Hause geflogen werden.
Zitate
Kosovos Präsidentin Vjosa Osmani-Sadriu: "Wir alle müssen unsere Verantwortung in dieser Coronakrise wahrnehmen. Ich rufe alle Kosovaren in der Schweiz und in Kosovo auf, sich impfen zu lassen." - September 2021
Polen und Tschechien: Die mit den wenigen Fällen
Die harten Corona-Fakten
In Tschechien gab es am ersten September null neue Todesfälle durch Corona. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei gerade mal 13. Nachbarland Polen weist ähnlich niedrige Zahlen auf - hier gab es zuletzt sogar nur 4,6 Neuinfektionen pro 100.000 Menschen. Die Impfquoten beider Länder liegen allerdings unter dem deutschen Durchschnitt - mit 53,4 Prozent in Tschechien und 49,7 Prozent in Polen.
Strategie: strenge Einreiseregeln und Auffrischimpfungen in Tschechien
Tschechien führte am 30. August strengere Einreiseregeln für Touristen und Reiserückkehrer aus Deutschland ein. Wer nicht seit mindestens 14 Tagen vollständig geimpft ist, muss einen negativen PCR-Test vorweisen und sich nach der Ankunft in Quarantäne begeben. Diese kann frühestens am fünften Tag mit einem zweiten negativen PCR-Testergebnis beendet werden. Für Berufspendler und den kleinen Grenzverkehr zum Beispiel zum Einkaufen gibt es Ausnahmeregeln.
Außerdem beginnt Tschechien noch diesen Monat mit Corona-Auffrischimpfungen für Ältere und Risikogruppen. Die Registrierung startet am 20. September und ist freiwillig. Wer infrage kommt, soll eine SMS-Benachrichtigung erhalten. Verwendet werden ausschließlich die mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer sowie Moderna.
Das öffentliche Leben in Polen ist weiterhin eingeschränkt. Es gelten noch immer Hygieneregeln wie eine Maskenpflicht in geschlossenen Räumen und öffentlichen Verkehrsmitteln - hier gibt es auch eine beschränkte Platzbelegung. Der Mindestabstand von 1,5 Metern in der Öffentlichkeit muss weiterhin eingehalten werden. Hotels und Restaurants sind derzeit noch in ihren Kapazitäten beschränkt. Strenge 3G-Regeln wie beispielsweise in Frankreich gibt es allerdings noch nicht. Kostenlose Bürgertests werden in Polen auch nicht angeboten.
Stimmung: Viele Polen geben Regierung Schuld
Nur 38 Prozent der Polen traut den Beweggründen hinter den Corona-Beschränkungen, zeigt eine neue Umfrage. Damit belegt Polen den letzten Platz unter den 12 befragten EU-Ländern. Im Vergleich: In Dänemark sind es 77 Prozent und in Deutschland 65. In dem Bericht heißt es: "In Polen ist der Anteil der Menschen am größten, die der Meinung sind, dass die Regierung pandemiebedingte Beschränkungen als Vorwand nutzt, um die Öffentlichkeit zu kontrollieren. Folglich glauben die meisten Polen, dass die größte Bedrohung ihrer Freiheit von oben kommt - sie machen ihre Regierung und andere wichtige Institutionen für die Auswirkungen der Pandemie auf ihr Leben verantwortlich."
Zitate
Polens Präsident Andrzej Duda zur Idee einer Impfpflicht:"Ich bin der Meinung, dass das Unruhe in der Gesellschaft auslöst." - August 2021
Tschechiens Ministerpräsident Andrej Babis: "Wir dürfen die Fehler des vorigen Sommers nicht wiederholen. Besonders, was die neuen Mutationen angeht, müssen wir vorsichtig sein." - Juli 2021
Quelle: ntv.de, mit AFP/dpa