Politik

Denis Trubetskoy im Interview "Die Ukrainer verstehen, dass das Russland-Problem gelöst werden muss"

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Zu Weihnachten hat der Schweizer Lichtkünstler Gerry Hofstetter mehrere Baudenkmäler in Kiew zum Leuchten gebracht. Hier die St.-Nikolaus-Kathedrale.

(Foto: IMAGO/NurPhoto)

Der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy konnte kurz vor Weihnachten für zwei Wochen nach Polen und Berlin reisen. Denis berichtet für mehrere deutschsprachige Medien aus Kiew, für ntv.de bereits seit 2019. In Berlin haben wir mit ihm über den Krieg gesprochen, die Stimmung in Kiew, die Kriegsziele der Ukraine, die "russische Brille" der deutschen Medien und den überraschenden Optimismus der Ukrainer, den Denis selbst nur bedingt teilt.

ntv.de: Seit drei Monaten terrorisiert Russland die Ukraine mit Angriffen auf Kraftwerke und Stromnetze. Wie sehr leiden die Menschen in Kiew darunter, wie ist die Stimmung dort?

Denis Trubetskoy: Im Sommer hatte man teilweise das Gefühl, dass das normale Leben zurückgekehrt ist - nicht vollständig, aber doch halbwegs. Zum Teil waren wieder drei Millionen Menschen in Kiew. Bis auf die nächtliche Sperrstunde, bis auf den gelegentlichen Raketenbeschuss war es fast wie früher. Das hat sich mit Beginn der Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur verändert. Man kann es nicht schönreden, die Lage ist schwierig. Den meisten Menschen ist auch klar, dass es schwierig bleiben wird, vor allem in den Wintermonaten. Die Leute versuchen, mit der Situation klarzukommen. Es wird viel improvisiert. Zum Beispiel besorgt man Generatoren und Kerzen. Aber es ist definitiv eine große psychische Belastung, die den Menschen auch anzumerken ist. Die Stimmung ist irgendwie trotzdem okay. Man ist bereit durchzuhalten.

Was ist das Ziel dieses Durchhaltens?

Die ukrainische Regierung hat als Ziel ausgegeben, das gesamte von Russland besetzte Gebiet zu befreien. Etwas anderes kann der Präsident eines angegriffenen Landes auch nicht verkünden, zumal dies schon vor Beginn des großen Krieges das angegebene Ziel der ukrainischen Politik war, allerdings natürlich auf diplomatischem Wege. Bei den Verhandlungen in der Türkei hat die Ukraine noch vorgeschlagen, den Status der Krim auszuklammern. Das hat sich nach Butscha und Irpin, nach Bekanntwerden der massiven russischen Kriegsverbrechen, verändert. Jetzt heißt es einfach: Natürlich wollen wir auch die Krim zurückholen.

Allerdings muss man sagen, dass die Situation der Krim vor dem Krieg anders bewertet wurde als die im Donbass. Das ist jetzt nicht mehr so - Russland hat ja auch den Donbass und zwei südliche Regionen der Ukraine, Cherson und Saporischschja, für annektiert erklärt. Dazu kommt, dass die Krim ein wichtiges Aufmarschgebiet der Russen ist. Aus meiner Sicht bedeutet das aber nicht unbedingt, dass es den ernsthaften Plan einer Offensive gibt, um die Krim zurückzuerobern.

Du hast den Krieg, der am 24. Februar begonnen hat, den "großen Krieg" genannt. Ist das auch der Begriff, den normale Leute in der Ukraine benutzen, wenn sie von der Invasion sprechen?

Ja, denn der eigentliche Krieg hat schon 2014 begonnen. Aber natürlich ist am 24. Februar eine völlig neue Situation entstanden. Es ist für die Menschen ein völlig anderes Datum, der Beginn einer neuen Ära. Trotzdem legen die Ukrainer großen Wert darauf, dass dieser Krieg bereits Ende Februar 2014 mit dem Beginn der russischen Besetzung der Krim begonnen hat. Ich halte diese Perspektive für richtig. Wenn wir später in Geschichtsbüchern über den russisch-ukrainischen Krieg lesen werden, dann wird da 2014 als Ausgangspunkt stehen, nicht 2022. Deshalb sprechen wir vom großen Krieg oder von der großangelegten russischen Invasion.

Wie ist die Haltung der ukrainischen Gesellschaft zu möglichen Kompromissen mit Russland, um ein schnelles Ende der Kämpfe zu erreichen?

Umfragen zeigen, dass der Anteil der Ukrainer, die eine Rückeroberung der Krim fordern, seit März um zehn Prozentpunkte gestiegen ist. Im März haben das etwa 75 Prozent gesagt, jetzt sind es rund 85 Prozent. Ob die Menschen das wörtlich so meinen, ist allerdings eine andere Frage, denn natürlich gibt es bei solchen Fragen eine gewisse psychologische Neigung, auf eine bestimmte Art und Weise zu antworten - um eine Botschaft auszusenden oder auch um dem zu entsprechen, was man für die allgemeine Stimmung hält. Insgesamt meinen es die Menschen aber ernst: Anders als im Februar 2015 in Sachen Donbass verstehen es die Ukrainer, dass es keinen Sinn ergibt, diese Auseinandersetzung wieder künstlich auf ein paar Jahre zu vertragen. Das Russland-Problem muss soweit es geht jetzt dauerhaft gelöst werden. Mein Gefühl sagt mir aber, dass die Menschen sehen, dass die Krim eine etwas anders gelagerte Angelegenheit ist.

Warum?

Weil die Einstellung der dortigen Bevölkerung zur Ukraine kompliziert ist. Ich glaube, das minimale Kriegsziel der weitaus meisten Ukrainer ist es, alle Gebiete zu befreien, die nach dem 24. Februar besetzt wurden. Alles andere wäre gewissermaßen das Tüpfelchen auf dem i. Letztlich werden wir aber im nächsten Sommer sehen müssen, wie dann die öffentliche Meinung ist. Heute über Kompromisse zu reden, ist ohnehin völlig sinnlos. Russland plant für 2023 eine weitere große Offensive. An einem Ende des Kriegs hat Russland derzeit keinerlei Interesse.

Was sind überhaupt die Kriegsziele der Russen?

Putin hat nie klar gesagt, was die Ziele sind. Es gab immer wieder abstrakte Formulierungen wie das Gerede von der angeblichen Entnazifizierung und Entmilitarisierung, aber auf konkrete Ziele hat er sich öffentlich nie festgelegt. Die rhetorischen Kriegsziele scheinen sich im Laufe der Monate stark verändert zu haben. Vorerst ging es um die gesamte Ukraine, vielleicht abgesehen von den westlichsten Bezirken, dann um den Osten und den Süden. Und mal war es die Landbrücke zur Krim. Letztlich will Putin die Ukraine zu einem russischen Vasallenstaat machen. Ich würde daher nicht ausschließen, dass die Russen einen weiteren Versuch unternehmen, sich Richtung Kiew zu bewegen, auch von Belarus aus. Es ist im Moment noch nicht so weit, man muss aber mit dieser Perspektive seriös planen. Ganz generell ist es aus meiner Sicht eine gefährliche Illusion zu glauben, Putin würde dort aufhören, wo er heute ist. Das wird er nicht - freiwillig wird er nicht aufhören.

Glaubst du, dass die Russen das mitmachen?

Unter Putin wurde die russische Gesellschaft stark entpolitisiert. Dem Großteil der Russen ist egal, ob Russland über einen Frieden verhandelt oder Kiew erobert. Hauptsache, es ist irgendwann vorbei und man kann zum normalen Leben zurückkehren. Aber: In der Vergangenheit hat es Putin trotzdem immer genutzt, sich als großer Sieger darzustellen. Die Krim-Annexion beispielsweise hat ihm einen großen Boost gegeben. Richtige Niederlagen hat er bis zu diesem Krieg nicht erlebt. Diese angebliche Spezialoperation ist nun nicht ganz so gelaufen, wie er sich das vorgestellt hat. Egal, was Putin erzählt, dieser große Krieg dauert jetzt schon mehr als zehn Monate. Jeder Russe muss verstehen, dass das nicht so geplant gewesen sein kann. Putins Image in Russland wird dadurch sicher nicht zerstört, aber doch infrage gestellt. Auch aus dieser Perspektive ist es für Putin wichtig, die Ziele, mit denen er den Krieg am Anfang begründet hat, irgendwie doch noch umzusetzen.

Umfragen zeigen, dass die Ukrainer trotz solcher Szenarien relativ optimistisch in die Zukunft blicken. Aktuell erwarten zwei Drittel der Ukrainer, dass 2023 besser sein wird als 2022. Fast 90 Prozent sehen dem kommenden Jahr mit Optimismus entgegen, nur 6 Prozent mit Pessimismus. Wie kann das sein?

Ich selbst glaube nicht, dass 2023 besser sein wird. Ich gehe davon aus, dass das Alltagsleben noch komplizierter wird, denn die Angriffe auf unsere Energieinfrastruktur werden weitergehen. Vor allem Januar und Februar werden vermutlich sehr schwierige Monate sein. Mir ist völlig klar, dass die Russen wirklich alles machen werden, um voranzukommen. Das bedeutet nicht, dass ich glaube, dass die Ukrainer keinen Erfolg haben werden. Aber für den ukrainischen Otto Normalverbraucher wird das nächste Jahr noch schwieriger werden als 2022.

Gleichzeitig kann ich verstehen, warum die Ukrainer mehrheitlich optimistisch in die Zukunft blicken. Es war ein unfassbar schwieriges Jahr, und daraus resultiert natürlich, dass die Menschen hoffen wollen. Es dürfte keinen Menschen der Ukraine geben, der nicht zumindest ein Stück weit traumatisiert ist. Und trotzdem haben wir gesehen, erstens, dass die ukrainische Armee gegen einen so starken Gegner standhält, ihn sogar zurückdrängen kann. Das hat auch innerhalb des Landes viele überrascht. Zweitens, dass die ukrainische Gesellschaft, wie das schon 2014 der Fall war, zusammenhält - alle haben das Bedürfnis, durch Spenden oder freiwillige Aktionen zum Sieg beizutragen. Drittens hat man gesehen, dass staatliche, im Vorkriegsleben oft kritisierte Strukturen wie die ukrainische Post und die ukrainische Bahn unter den schwierigsten Umständen eine hervorragende Arbeit machen. Und viertens die Kreativität, mit der Bürger und Unternehmen den Angriffen auf die Energieinfrastruktur trotzen. Das gibt natürlich Hoffnung für die Zukunft. Und dann gibt es noch so ein bisschen das Gefühl, dass wir als Land in Europa nach dem Krieg eine etwas andere Rolle spielen werden. Ukrainer hatten nie das Gefühl, dass ihr Land für den Rest Europas besonders wichtig ist oder sein sollte. Das hat sich geändert.

Ich weiß, es nervt dich, über Korruption zu sprechen, weil die Ukraine im Moment ganz andere Probleme hat. Aber für viele Deutsche scheint das ein wichtiges Thema zu sein. Deshalb: Im Korruptionsindex von 2021 stand die Ukraine auf Platz 122. In den USA hat eine republikanische Abgeordnete behauptet, Waffen, die für die Ukraine gedacht gewesen seien, könnten in Syrien oder Russland gelandet sein. Gibt es dafür irgendwelche Anzeichen?

Nein. Natürlich kann man nicht ausschließen, dass irgendwelche kleineren Waffen nicht dort angekommen sind, wohin sie geschickt wurden. Aber die Vorstellung, dass ein Mehrfachraketenwerfer irgendwo in Syrien landet, ohne dass wir davon etwas mitbekommen, halte ich für komplett abwegig. Es gibt oder gab in der Ukraine ernsthafte Probleme mit der Korruption. Aber es fällt mir sehr schwer, mir vorzustellen, dass sich irgendjemand unter den heutigen Umständen an der Hilfe aus dem Ausland bereichert. Im Moment geht es um das reine Überleben. Auch die ukrainischen Oligarchen haben unglaublich viel verloren. Statt sich zu bereichern, wurden sie gezwungen, zu Großspendern der ukrainischen Armee zu werden - da geht es um Hunderte Millionen Euro.

Sie wurden enteignet?

Nein, so etwas ist ganz und gar nicht nötig. Je stärker die Russen vorankommen, desto mehr verlieren die Großunternehmer. Sie kämpfen um das Überleben der Ukraine, weil es für ihr Überleben dringend notwendig ist. Keiner von diesen Oligarchen ist ein Fan von Selenskyj, auch eine richtige Zusammenarbeit gibt es nicht. Das gilt selbst für ehemalige Verbündete: Ihor Kolomojskyj, der Selenskyj durch sein Medienimperium 2019 zum Wahlsieg verhalf, wurde vom Präsidenten im Laufe des Krieges vermutlich ausgebürgert - das wird aus Datenschutzgründen zwar nicht bestätigt, doch alles deutet darauf hin. Aber wenn wir zum Beispiel den Oligarchen Rinat Achmetow nehmen: Ihm gehörte das zerstörte Stahlwerk in Mariupol, das ist jetzt weg. Eine riesige Einnahmequelle. Andere Oligarchen haben ähnliche Verluste durch Angriffe auf ihre Unternehmen erlitten. Die haben ein sehr persönliches Interesse daran, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Zudem: Wenn jetzt bekannt würde, dass jemand sich am Krieg bereichert, egal ob ein Oligarch oder ein kleiner Kommandeur - der wäre gesellschaftlich für alle Zeiten erledigt.

Wie nimmst du den Umgang der deutschen Politik mit dem Krieg wahr?

Deutschland ist für die Ukraine ein sehr wichtiger Partner. Die Flugabwehrkanonenpanzer "Gepard" beispielsweise haben der Ukraine sehr geholfen. Auch die finanzielle Hilfe ist extrem wichtig, ohne die könnte die Ukraine kaum durchhalten. Deutschland liefert Generatoren, unterstützt überhaupt sehr viel im Energiebereich. Und natürlich ist die Aufnahme der Flüchtlinge aus der Ukraine eine enorme Hilfe. Das ist alles sehr, sehr wichtig.

Viele Ukrainer haben ein übertriebenes Bild von Deutschland, sie denken, das Land funktioniere so gut wie ein BMW. Mir ist klar, dass das nicht stimmt. Aber dennoch ist es für mich ein bisschen unverständlich, warum Deutschland, das stärkste Land Europas, so selten Initiative zeigt. Man spürt, dass viele Deutsche, vor allem viele deutsche Politiker, noch nicht verstanden haben, was die Zeitenwende bedeutet. Ein Teil der deutschen Politik und Öffentlichkeit lebt noch immer in einer Komfortwelt, wie in einem eigenen Universum. Ich kann auch verstehen, wie schwer es ist, die neue Gegenwart zu begreifen - mir selbst ist es 2014 ganz ähnlich gegangen. Auch ich habe lange nicht wahrhaben wollen, in welche Richtung Russland sich entwickelt. Insofern kann ich verstehen, dass es schwierig ist, sich von Illusionen zu verabschieden. Und ich kann auch nachvollziehen, dass die Bundesregierung sich mit diesem Krieg schwertut. Ehrlicherweise muss man aus ukrainischer Perspektive sagen, dass es schlimmer hätte kommen können.

Vor Weihnachten hast du bei einer Veranstaltung im Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) gesagt, dass Deutschland den Krieg zu sehr durch die russische Brille sieht. Als Beispiel hast du darauf verwiesen, dass deutsche Medien immer von den "prorussischen Separatisten" gesprochen hätten.

Selbst nach der Besatzung durch Russland war teilweise noch von "prorussischen Verwaltungen" die Rede, obwohl es natürlich Besatzungsverwaltungen waren. Die Rede von den "prorussischen Separatisten" führt in die Irre, weil es da häufig schlicht um russische Bürger geht, nicht um Ukrainer, die sich für einen Anschluss an Russland einsetzen.

Das mit der russischen Brille ist ein typisches Medien-Problem. Artikel mit "Putin" in der Überschrift werden halt besser geklickt als solche, in denen es um Hintergrundinformationen zur Ukraine geht. Rückblickend denke ich, dass vieles klarer gewesen wäre, wenn man die Dinge deutlicher beim Namen genannt hätte. Aber die Hintergründe eines solchen Konflikts sind nun einmal kompliziert. Dann lässt man Details außen vor und versucht, ein Konstrukt wie das Minsker Abkommen mit ein paar Sätzen zu erklären. Dadurch versteht niemand, worum es eigentlich geht. Im schlimmsten Fall entstanden so simplifizierte Darstellungen, in denen die Ukraine in einen "prowestlichen" und einen "prorussischen" Teil gespalten war. Diese Vorstellung hat bis heute überlebt, auch bei deutschen Journalisten, obwohl sie in der Form spätestens seit 2014 Unsinn ist.

Es gibt vermutlich noch immer Deutsche, die glauben, die Ukraine sei irgendwie doch Teil der "russischen Welt" und habe kein Recht, sich nach Westen zu orientieren. Was sagst du denen?

Erstens: Die Ukrainer sollten selbst entscheiden dürfen, mit wem sie Bündnisse eingehen wollen oder nicht. Das sollte eine absolute Selbstverständlichkeit sein. Und zweitens mag ich solche Diskussionen gar nicht. Schon dieser Begriff, "russische Welt". Dazu fällt mir nur ein, dass Teile der heutigen Ukraine mehr zur Entwicklung der russischen Sprache und der klassischen russischen Literatur beigetragen haben als viele Regionen des heutigen Russlands. Kiew ist älter als Moskau, die russische Sprache ist nicht alleiniges Eigentum Russlands. Ja, die Ukraine ist teilweise russischsprachig, aber das macht sie nicht zu einem Teil Russlands - weder politisch noch historisch oder kulturell. Das ist alles Quatsch.

Der Krieg hat noch zusätzlich dafür gesorgt, dass die Ukraine ihre politische Verbindung zu Russland gekappt hat - und ich meine den Krieg ab 2014, nicht die groß angelegte Invasion. Das spürte man selbst in Städten wie Charkiw, die nahe an der russischen Grenze liegen, zudem in der Nähe der "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk. Das hatte viel mit den Flüchtlingen zu tun, die damals von dort in den freien Teil der Ukraine kamen. An denen sah man aus erster Hand, was es bedeutet, von der "russischen Welt" vereinnahmt zu werden. Natürlich gab es trotzdem Konflikte innerhalb der Ukraine. Nicht jeder war mit der Geschichtspolitik und mit der Sprachpolitik zufrieden, die in Kiew gemacht wurde. Aber die alte Russland-Affinität im Osten des Landes ging seit 2014 massiv zurück. Das sagt, glaube ich, viel über die strategische Klugheit der russischen Politik. Noch vor wenigen Jahren lief ganz selbstverständlich russischer Pop auf der Mehrheit der ukrainischen Partys. Das ukrainische YouTube wurde von russischen Sendungen dominiert. Wäre die russische Führung strategisch klüger, hätte sie kulturelle Diplomatie und Soft Power genutzt. Das ist alles aber Schnee von gestern. Auf absehbare Zeit ist Russland für die Ukraine nichts anderes als der Feind.

Wir sprechen hier in einem Büro mitten in Berlin, du konntest für zwei Wochen die Ukraine verlassen. Wie fühlt sich das für dich an?

Es ist ein komisches Gefühl. Abgesehen von Kiew ist Berlin meine Lieblingsstadt. Früher, vor Corona und vor dem Krieg, war ich in jedem Jahr mehrfach hier. Es hat sich aber nicht viel verändert - noch immer ist an jeder Ecke eine Baustelle. Es ist schön, hier zu sein. Gleichzeitig ist es seltsam. Ich bin natürlich privilegiert, dass ich ausreisen darf, zumindest für eine kurze Zeit. Aber man ist nervös, was in Kiew passiert. Am vergangenen Montag etwa wurde mein Stadtteil beschossen. Wenn man dort ist, kann man besser einschätzen, was los ist - aus der Ferne ist das schwierig. Zu Hause weiß man, in welcher Entfernung eine Explosion stattgefunden hat, ob es ein Treffer war oder die Arbeit der Flugabwehr. Hier bin ich auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen. Und das klappt nicht immer: Ich konnte meine Nachbarn zuerst nicht erreichen, weil sie kein Internet hatten.

Gehst du noch in den Luftschutzkeller, wenn Angriffe drohen?

Kaum. Man sollte es eigentlich machen. Aber dann ist es so gut wie unmöglich, normal zu arbeiten. Und man hat gelernt, den Luftalarm einzuschätzen. Man liest unzählige Telegrammkanäle, die darüber berichten, wo welche russischen Flugzeuge aufsteigen und dergleichen. Wenn zum Beispiel die MiG-31 in Belarus starten, dann weiß man, dass mehrere Stunden lang nichts passieren wird. Und wenn man liest, dass zehn Bomber über dem Kaspischen Meer in der Luft sind, dann weiß man, dass es vermutlich einen größeren Angriff mit mindestens 50 Raketen geben wird. Da verhält man sich etwas anders. Und generell versucht man, zumindest die Zwei-Wände-Regel einzuhalten: Zwischen dir und allen Fenstern sollten nach Möglichkeit mindestens zwei Wände sein. Man sitzt also im Korridor und wartet.

Wann bist du wieder in Kiew?

Ich habe eine Sondergenehmigung des Kultusministeriums bekommen, um an einigen Veranstaltungen teilzunehmen, in Polen und in Berlin. Am 29. Dezember muss ich wieder in der Ukraine sein.

Mit Denis Trubetskoy sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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