Politik

Gustav Gressel im Interview Wie der Krieg ausgeht, ist "noch weitestgehend offen"

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Ein ukrainischer Soldat feuert in der Region Saporischschja eine Granate ab. Gustav Gressel erwartet hier die nächste Offensive von Kiews Truppen.

(Foto: REUTERS)

Die Ukraine hat Russlands Truppen in die Defensive gezwungen. Nun muss Kiews Armee so viel Gelände wie möglich zurückerobern, bevor die 250.000 neuen russischen Soldaten kampfbereit sind, sagt Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR). Immer wieder würden die Ukrainer ausgebremst: Es fehlt die Munition.

ntv.de: So zerstört, wie die Brücken über den Dnipro heute aussehen, fällt es schwer, der russischen Militärführung zu glauben, dass sie kein schweres Gerät in Cherson zurücklassen musste.

Gustav Gressel: Vieles von dem Gerät, das es nicht mehr über den Fluss geschafft hat, ist zerstört worden. Einiges ist noch relativ intakt, aber das militärisch Wichtigste aus russischer Sicht waren und sind die Soldaten.

Weil man am Südufer nun viel weniger Leute braucht?

Viele Kräfte werden dadurch frei, allerdings trifft das auf die Ukraine genauso zu. Es waren sieben ukrainische Brigaden an diesem Frontabschnitt im Einsatz, die kann man zu einem Teil jetzt freimachen und in den Donbass verlegen. Für Russland sind die Soldaten noch relevanter, denn in den russischen Truppen ist die Personalsituation knapper. Zugleich kämpften in Cherson zumeist Vertrags- und Berufssoldaten, also kampferfahrene Einheiten, die man für die Mobilmachung braucht.

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Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Er ist Experte für Russland und Osteuropa, Militärstrategie und Raketenabwehr.

(Foto: ECRF)

Inwiefern?

Das russische Militär hat nur so viel Gerät, Ausbilder und Kasernen, um etwa 250.000 Leute gleichzeitig auszubilden. Wenn es mehr sein sollen, dann muss man das nacheinander machen. Und wenn Russland eine nächste Welle von Mobilmachungen angeht, dann wird sich noch drängender als jetzt die Frage stellen: Wer führt die?

Wie weit ist das Militär denn mit der Ausbildung der jetzigen neuen Rekruten?

Etwa 200.000 bis 250.000 der neu rekrutierten jungen Männer befinden sich noch immer in Russland, und aus diesen formt die Armee jetzt Verbände. Man kleidet sie in Uniform und hängt ihnen eine Kalaschnikow um. Wenn das Militär die Leute in den 30 Tagen, die es dafür anberaumt hat, intensiv ausbildet, dann bringt es ihnen in der Zeit gerade einmal das Soldatenhandwerk bei. Aber wer wird der Truppenkommandant? Wer wird der Zugskommandant? Wer führt diese neuen Bataillone?

Die Profis von der Front in Cherson.

Wenn ich dort jetzt 20.000 Berufs- und Zeitsoldaten abziehe, die alle Kampferfahrung haben, kann ich sie als Kader nutzen, um die nächste Mobilmachungswelle anzuführen. Der russische Oberbefehlshaber in der Ukraine, Sergej Surowikin, war ja nicht der erste hochrangige Militär, der den Rückzug aus Cherson forderte. Auch sein Vorgänger hat das schon von Putin verlangt, und der hat damals abgelehnt - aus politischen Gründen. Surowikin hat es jetzt beim Chef durchbekommen.

Mit welchen Entwicklungen rechnen Sie für die kommenden Monate?

Die Russen werden wahrscheinlich bis zum nächsten Frühling noch nicht offensivbereit sein, aber etwas später dann schon. Ursprünglich war die Rede davon, dass man sich auf den Donbass konzentriert und dann Richtung Odessa weitermarschiert. Darum hat Moskau auch so lange an Cherson als Brückenkopf festgehalten. Für einen Marsch auf Odessa braucht man allerdings wiederum einen Übergang über die Flüsse - da wäre der Dnipro der eine, und der Bug wäre der nächste.

Können die Russen das vermeiden?

Für sie macht es mehr Sinn, vom Norden her zu kommen. Von dort aus müssen sie nicht über die großen Flüsse stoßen, und Moskau schickt ja bereits Kräfte für eine Nordoffensive nach Belarus.

Wenn die Russen noch in der Defensive bleiben, wo könnte Kiew seine nächste Offensive starten?

Ich würde schätzen, aus Saporischschja heraus Richtung Süden. So könnten die Truppen bis ans Asowsche Meer durchstoßen und die russischen Verbände voneinander trennen. Solange die Krimbrücke noch schwer beschädigt ist und der Nachschub dort ein bisschen stockt, könnten Kiews Truppen versuchen, von Osten in Richtung Krim zu kommen. Dort bietet sich die Beschaffenheit des Geländes für eine Offensive an, denn es besteht kein starkes Hindernis, das den Russen Schutz bieten würde. Wenn Kiew genug Munition und Kräfte hat, damit es schnell gehen kann, dann würde ich dort eine Offensive erwarten.

Wie könnte Kiew einen Erfolg dort weiter nutzen?

Wenn die ukrainischen Truppen auf diese Weise den Landweg zur Krim abschneiden können, ergibt sich daraus wieder eine Front, die sich gut verteidigen lässt, weil der Übergang zur Krim ein relativ kleiner Flaschenhals ist. Den könnte die Ukraine gut gegen die russischen Truppen halten und sich dann wieder voll auf den Donbass konzentrieren.

Die Krim selbst würden die Ukrainer eher nicht ins Visier nehmen?

Die Krim wäre aus ukrainischer Sicht sehr schwierig. Sie haben keine Luftherrschaft und keine Luftwaffe, mit der man Fallschirmjäger in der Tiefe landen lassen könnte. Sie haben auch keine Seeherrschaft und keine Marine, die eine amphibische Landung möglich machen würde. Das heißt: Sie müssten durch die schmalen Landverbindungen, die es gibt.

Zwei Brücken und drei Kilometer Landstück im Westen.

Da müssten die ukrainischen Truppen durch, und diese Bewegung könnte das russische Militär sehr gut vorhersehen und angreifen. Eine Offensive auf der Krim würde also ein enorm schwieriger Akt, und den würde sich Kiew vermutlich nicht zumuten, solange noch andere Fronten offen sind.

Also wäre die Taktik: Die Krim nicht einnehmen, sondern abtrennen?

Das könnte funktionieren, wenn die ukrainischen Truppen selbst auf diesem Verbindungs-Landstück sitzen und die beiden Brücken in die Luft sprengen. Dann steht die Armee dort im Süden auf einer recht kurzen Frontlinie, die sich gut verteidigen lässt.

Wie wird der erste Frontwinter aussehen?

Ich glaube nicht, dass es im Winter eine Pause geben wird. Durch den gefrorenen Boden eignet sich der Winter recht gut für einen Angriff. Vor allem muss die Ukraine jetzt schnell so viele Meter wie möglich gut machen, bevor die großen mobilgemachten Verbände zum Einsatz kommen, die derzeit noch in Russland stehen und trainiert werden. Stärker als das Wetter hemmt auf der ukrainischen Seite regelmäßig der Mangel an Munition für sowjetische Kaliber das ukrainische Vorkommen.

So prekär ist die Nachschublage?

Die sowjetischen Kaliber braucht die Armee auch für die alten Kampfpanzer sowjetischer Bauart. Derzeit muss sie immer warten, bis sie genug neue Munition erhalten hat. Erst dann können sich die Truppen einen weiteren Vorstoß leisten. Anschließend müssen sie wieder warten.

Ich hätte gedacht, taktische Überlegungen würden den Zeitpunkt von Offensiven bestimmen. In Wirklichkeit haben die Ukrainer nicht genug Munition?

Kiew erhält pro Woche oder Monat gewisse Kontingente an Munition, je nachdem, was gefertigt wurde. Für manche Systeme kommt aber nichts nach. Bei einer Offensive mit Kampfpanzern schießen die Truppen relativ viel, und die Munition wird schnell knapp. Würden die Truppen in der Bewegung ohne Munition erwischt, wäre das fatal. Darum müssen sie sich in dem Moment, wenn die Munition knapp wird, auf eine Linie zurückziehen, die sie gut verteidigen können.

Und dann auf Lieferungen warten?

Die Infanterie hält das eroberte Gelände, kann aber nicht weiter vorstoßen. Also ziehen sich die Panzer wieder zurück und warten Woche für Woche, bis aus den Fabriken im Westen - in Tschechien, Polen, Bulgarien, oder von irgendwoher auf der Welt - wieder Munition eintrifft. Erst dann können sie von neuem angreifen. Solange die Ukraine keine westlich designten Kampfpanzer kriegt, mit der sie NATO-Munition verschießen kann, wird das Munitionsproblem bleiben.

Präsident Selenskyj hat laut eigener Aussage schon den Sieg vor Augen. Sie sind da vermutlich zurückhaltender?

Im Westen macht sich gerade eine gewisse Euphorie breit, und viele glauben, der Krieg sei in zwei Monaten vorbei. Das ist er leider nicht. Aus meiner Sicht ist der Krieg noch weitestgehend offen. Der jetzt kommende Winter ist eine Vorbereitungsphase für das nächste Jahr. Je nachdem, wie viel Gelände sich die Ukraine in den kommenden Monaten zurückholen kann, hat sie eine gute oder schlechte Ausgangsposition, wenn Russland seine nächste Großoffensive startet.

Was werden dann die entscheidenden Faktoren sein?

Vieles wird auch dann davon abhängen, wie gut Kiews Truppen mit Munition ausgestattet sind, und wie viele mobile, schlagkräftige, gepanzerte Verbände sie der neuen russischen Offensive entgegensetzen können. Wird sie die russische Offensive überstehen und kann danach selbst nochmal nachlegen? Das alles ist möglich, wenn die westliche Unterstützung geschlossen bleibt. Dann wäre ein Sieg der Ukraine weit wahrscheinlicher als ein russischer Erfolg. Aber das ist noch ein großes Stück Arbeit, das vor uns liegt.

Mit Gustav Gressel sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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