
Nach der Abschiedszeremonie in Havanna geht es für die Ärzte und Pfleger ins Flugzeug Richtung Italien.
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Kuba schickt medizinische Hilfe bis nach Norditalien und rettet dort Menschenleben, weil die EU-Nachbarn zu spät reagieren. Die USA warnen vor Missbrauch, die UN vor Sklaverei. Die Doktor-Diplomatie ist zurück.
Die 52 Fachärzte und Krankenpfleger sind für ihren Flug in die Lombardei gut vorbereitet. Bevor sie die Maschine der Fluglinie Alitalia besteigen, posieren sie vor Havannas Palmen in ihren weißen Kitteln, präsentieren in vorderster Reihe ein goldgerahmtes Profilfoto des späten Fidel Castro. Links und rechts davon halten Kollegen Fähnchen Kubas und Italiens in den Händen.
Viele Stunden später wird ein Journalist am Flughafen Mailand-Malpensa fragen, was sie für ihren Einsatz gegen Covid-19 bekommen. Die Antwort des kubanischen Personals an diesem 22. März klingt selbstlos: "Wir haben nicht über Honorar gesprochen. Wir sind hier, um Italien zu helfen. Helfen, das ist unsere Mission und die der Menschen unserer Heimat." Drei Wochen später fallen diese Worte erneut, diesmal in Turin-Caselle. Der kubanische Botschafter äußert sich so bei der Ankunft einer zweiten Gruppe Ärzte aus der kubanischen Hauptstadt.
Die beiden Teams in Italien sind nur ein klitzekleiner Teil eines riesigen Programms. Die Mitglieder von Verbänden wie der "Brigade Ricardo Pérez Diaz" oder "Brigade Henry Reeve" sind derzeit sehr gefragt. Havanna hat deshalb zusätzliche Mediziner ausgesandt. Im März waren neben Italien rund 30.000 Ärzte in 60 weiteren Ländern im Einsatz, von denen die meisten Coronavirusfälle bestätigt hatten. Was hat Havanna davon? Und warum braucht eine Industrienation, die drittgrößte Volkswirtschaft der EU, überhaupt Hilfe aus einem Entwicklungsland?
Völkerfreundschaft, internationale Solidarität, davon ist viel die Rede, wenn es um das Ärzteprogramm Kubas geht. Der sozialistische Inselstaat, isoliert von den USA und nach Ende des Kalten Krieges ständig auf der Suche nach überlebenswichtigen internationalen Partnern, knüpft darüber Kontakte. Die USA schäumen, Kuba wolle bloß Geld verdienen mit ihrem "Missbrauch" von Ärzten. Berichterstatter der Vereinten Nationen warnen vor "Sklaverei". Kann Kubas Hilfe schlecht sein?
Verzweifelt Suche in Norditalien
Italien wurde früh und tödlich von der Sars-CoV-2-Pandemie getroffen. Fast 200.000 Menschen waren oder sind im südeuropäischen Land infiziert, mehr als 25.000 davon sind gestorben. Inzwischen sind die Zahlen in Spanien höher. Aber insbesondere der Norden Italiens, also die Lombardei und Piemont, sind für die Welt ein warnendes Szenario, was alles schiefgehen kann, wenn keine oder mangelhafte Gegenmaßnahmen ergriffen werden: Überforderte Ärzte, überfüllte Krankenhäuser, unfassbare Bilder wie die des Sarglagers in einer Kirche von Bergamo. Es sind Zustände wie in Kriegszeiten, in denen aus purer Not ein menschliches Leben über das andere gestellt werden muss.
Die Lombardei und Piemont waren in dieser Situation auf verzweifelter Suche nach medizinischem Personal und Ausrüstung. Also nutzte Premierminister Giuseppe Conte seine Kontakte zu Russlands Präsident Wladimir Putin, Außenminister Luigi di Maio seine nach China. Von dort wurden unter anderem Beatmungsgeräte sowie Personal eingeflogen. Der Gesundheitsminister der Lombardei, der schrieb an seine Kollegen in Kuba. Und die schickten innerhalb einer Woche ihr Ärzteteam. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach warnend von einer "aggressiven Diplomatie der Großzügigkeit" - was immer das auch bedeuten mag. Kommissionspräsidentin Ursula von Leyen hat inzwischen eingestanden: Die europäischen Nachbarn, sie taten zu wenig für die Italiener.
Das erste Ärzteteam wurde nach seiner Ankunft 50 Kilometer südöstlich von Mailand in der Stadt Crema untergebracht. Im dortigen vom italienischen Militär errichteten Nothospital fehlte Personal. Die zugehörige Provinz gehört zu den fünf in Italien, die gemessen an der Bevölkerungszahl besonders schlimm von der Pandemie getroffen worden ist: Je 400 Einwohner ist dort bislang ein Mensch gestorben, insgesamt sind es fast 1000 Todesopfer. Auch in einem Krankenhaus in Bergamo arbeitet das kubanische Team.
Russland und China können solche Hilfestellungen wie für Italien finanziell locker verkraften. Genauere Informationen über die Rahmenbedingungen der beiden kubanischen Einsatzteams sind spärlich. Die Regionalregierung der Lombardei hatte die Presse bloß schwammig wissen lassen, seit März 2018 arbeite man intensiv an internationalen Beziehungen, was sich nun "als sehr wertvoll" erweise. Ob sich die beiden Seiten von der jetzigen Zusammenarbeit mehr erhoffen als humanitäre Ziele, ist unklar. Wiederholte Anfragen von ntv.de an die kubanische Botschaft in Rom sowie die Bürgermeisterin von Crema blieben unbeantwortet.
Klar ist, dass Kuba solche Hilfseinsätze systematisch betreibt. Seit Jahrzehnten schickt der Karibikstaat sein medizinisches Personal in die Welt, um dem Staatshaushalt Devisen zu verschaffen. Das Geld aus dem Ausland wird schon seit dem Ende des großen sozialistischen Bruderstaates Sowjetunion dringend gebraucht, um die wichtigen Industriegüterimporte zu bezahlen. Aus Moskau kamen bis zum Ende des Kalten Krieges etwa jedes Jahr ein Drittel des Haushalts. Kuba ist vor allem ein Agrarstaat. Jetzt, da Havanna auch im eigenen Land versucht, dem Coronavirus Einhalt zu gebieten, sind die Devisen wichtiger denn je.
Kuba bildet schon lange medizinisches Personal aus und schickt es in alle Welt. Mit der Doktor-Diplomatie kann die Regierung die US-Sanktionen, seit 1960 in Kraft und immer wieder verschärft, umgehen, und internationale Partnerschaften pflegen. Geografisch gesehen wären die Vereinigten Staaten der naheliegendste Handelspartner Kubas, aber ideologisch auf der anderen Seite der Weltkugel. Das unter dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama gelockerte Fast-Embargo hat dessen Nachfolger Donald Trump wieder verschärft. Washington droht auch internationalen Unternehmen mit Sanktionen, sollten sie mit dem verhassten Nachbarn handeln. Deshalb gibt es etwa zwischen der EU und den Vereinigten Staaten ernsthafte Verstimmungen. Brüssel hat sogar schon mit Enteignungen von US-Firmen gedroht.
Gesundheit als Devisenquelle
Mit seinen Ärzteteams, für die Staaten bezahlen, hat Kuba im Jahr 2018 etwa 6,4 Milliarden Dollar in die Staatskassen gespült. Es ist die mit großem Abstand sprudelnste Deviseneinnahmequelle Havannas. Aus dem Außenhandel flossen mit 1,9 Milliarden Dollar wesentlich weniger ins Land (Exporte 14,5 Milliarden Dollar, Importe 12,6 Milliarden Dollar). Der Tourismussektor mit den staatlichen Hotels trägt nur rund 1 Milliarde Dollar zum Haushalt bei. Diese Einnahmen dürften in diesem Jahr größtenteils wegbrechen. Die Grenzen sind geschlossen, und selbst wenn sie wieder öffnen, ist fraglich, wann wie viele Touristen kommen.
Doch das Hilfsprogramm steht in scharfer Kritik. In einem Bericht an die Vereinten Nationen (UN) vom vergangenen November heißt es, kubanische Ärzte und ihre Familien würden zu den Missionen gezwungen, die Teilnehmer überwacht, ihre Arbeitsbedingungen seien hart und große Teile der Gehälter flössen in die Staatskasse. Die UN bewerten die Einsätze deshalb potenziell als "moderne Sklaverei". Entsprechend warnten die Vereinigten Staaten kurz nach der Ankunft der kubanischen Mission in der Lombardei, Kuba habe rein monetäre Interessen. Dies passt zur festen Überzeugung der Hardliner im Weißen Haus, Havanna müsse mit allen Mitteln der Geldhahn zugedreht werden, um das sozialistische System endlich zu Fall zu bringen.
Kuba verteidigt sich damit, dass den Ärzten die Ausgaben in den Gastländern plus ein zusätzliches Gehalt in Kuba gezahlt würde. Die Gastländer würden nur so viel bezahlen, wie sie könnten. Das übrig bleibende Geld werde für die frei zugängliche Gesundheitsversorgung und Bildung im Inselstaat verwendet. Kuba betreibt davon etwa die "Escuela Latinoamericana de Medicina", eine medizinische Hochschule, auf der auch ausländische Studenten keine Gebühren bezahlen.
Für Havanna war das vergangene Jahr schwierig. Mehrere Partnerstaaten beendeten die Zusammenarbeit mit den Ärzteteams aus politischen Gründen - etwa die Regierungen in Bolivien, Brasilien und Ecuador. Dazu kommen die wieder verschärften Sanktionen der USA und die wirtschaftliche Schwäche des politischen Partners Venezuela. Die US-Politik maximaler Härte gegen Caracas ist ein Teil der Anti-Kuba-Strategie. All das bedeutet für Havanna finanzielle Einbußen - und für die Bevölkerung wieder einmal harte Zeiten. Lebensmittel sind schon länger knapp, aber auch andere Produkte des täglichen Bedarfs wie Seife oder Waschmittel werden inzwischen rationiert.
Gut für beide Seiten - auch für die Ärzte?
Bei der von den Italienern erwähnten Zusammenarbeit geht es womöglich um Handelsbeziehungen: Die EU ist mit Abstand Kubas wichtigster Geschäftspartner und Italien seit dem Brexit die drittgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union. Im vergangenen Jahr betrug das Handelsvolumen zwischen Kuba und Italien 290 Millionen Euro. Das südeuropäische Land importiert vor allem Schnaps und Tabak und liefert Maschinen in die Karibik.
Es ist nicht bekannt, ob Italien für die kubanischen Ärzte bezahlt. Falls nicht, hat es sich trotzdem für beide Seiten gelohnt. Für die Lombardei, weil es für manchen Einwohner Leben oder Tod bedeutet. Für Havanna ohnehin. Die fähnchenschwenkenden kubanischen Ärzte sind bereits in einem Dankesvideo der Region aufgetaucht. Für größeren Absatz kubanischer Waren kann ein gutes Image des Landes in der italienischen Bevölkerung nicht schlecht sein.
Solche Bilder und die internationale Berichterstattung rufen zudem anderen Staaten in Erinnerung, bei wem sie sich bei Bedarf melden können: Wenn schon ein Industrieland wie Italien nach Unterstützung kubanischer Ärzte ruft, müssen sie wohl gut sein. Bewiesen haben sie das schon häufig. Wie etwa im Jahr 2014, als die Mediziner vor Ort in Westafrika waren, als Ebola dort Grauen und Tod verbreitete und damit Angst im Globalen Norden. Havanna schickte zusätzliche Teams nach Guinea, Sierra Leone und Liberia, wo sie die Sterblichkeitsrate von 50 Prozent auf 20 Prozent senkten. Dafür erhielten die Ärzte eine Auszeichnung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Das wirkt angesichts der Vorwürfe der USA und der UN skurril.
Mit im Gepäck hatten die Teams damals wie mutmaßlich heute "Interferón Alfa 2B". Das Abwehrkräfte stärkende Medikament wurde in Kuba entwickelt und wird in China vom kubanisch-chinesischen Unternehmen "Heber Chang" hergestellt. Es kommt unter anderem bei Hepatitis oder Aids erfolgreich zum Einsatz. Es ist auf diversen offiziellen Listen mit potenziellen Arzneien zur Behandlung von Covid-19 zu finden. Die Wirksamkeit ist zwar bislang nicht eindeutig belegt. Doch Dutzende Länder haben bereits in Havanna angefragt, wie sie das Arzneimittel bestellen können.
Mitarbeit: Andrea Affaticati, Mailand
Quelle: ntv.de