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Truppenabzug trotz NATO-Angst Russland entblößt seine Außengrenzen

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Russische Soldaten bei einer Militärübung an der Grenze von Tadschikistan zu Afghanistan im Jahr 2021.

Russische Soldaten bei einer Militärübung an der Grenze von Tadschikistan zu Afghanistan im Jahr 2021.

(Foto: REUTERS)

Russland stationiert seit Jahrzehnten Tausende Soldaten in Nachbarländern und entlang wichtiger Grenzen. Doch der Ukraine-Krieg hat die Divisionen an den strategisch wichtigen Orten ausbluten lassen, weil Präsident Wladimir Putin so viele Soldaten wie möglich in der Ukraine braucht.

Hoch im Norden hat Russland eine gemeinsame Grenze mit NATO-Mitglied Norwegen. Keine 200 Kilometer lang, aber trotzdem geopolitisch hochbrisant, erst recht seit die Kreml-Truppen die Ukraine überfallen haben.

Weil aber so viele Soldaten wie möglich in der Ukraine gebraucht werden, hat Russland sein Militär von der Grenze zu Norwegen mittlerweile fast komplett abgezogen. Nur maximal 20 Prozent der Soldaten, die vor dem Krieg in der Ukraine hier stationiert waren, sind noch vor Ort, hat der norwegische Generalstabschef Eirik Kristoffersen vorige Woche mitgeteilt.

Kristoffersen ist überzeugt, dass die Entscheidung, die Truppen umzugruppieren, primär zeigt, dass Putin in der NATO in Wahrheit keine Bedrohung sieht. "Wenn er glauben würde, dass wir Russland bedrohen, hätte er seine Truppen nicht in den Krieg in die Ukraine verlegt."

"Russland weiß, dass NATO keine Bedrohung ist"

Dasselbe gelte auch für die 1300 Kilometer lange Grenze zu Finnland, fügte der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Admiral Rob Bauer, hinzu. "Russland weiß, dass die NATO keine Bedrohung darstellt, weil wir nicht die Absicht haben, sie anzugreifen. Ansonsten hätten sie auf den NATO-Beitritt Finnlands ganz anders reagiert."

Dabei hatte Moskau im April dieses Jahres zunächst eine Verstärkung der Militärpräsenz in Grenznähe angekündigt. Doch daraus ist nichts geworden, stattdessen brauchen Putins Truppen offenbar jeden verfügbaren Soldaten in der Ukraine.

Das gilt auch für die Militäreinheiten in Kaliningrad. Die Oblast liegt eingekesselt zwischen Polen, Litauen und Belarus an der Ostsee. Seit Jahrzehnten ist die russische Exklave ein wichtiger militärischer Außenposten Moskaus. Mittlerweile hat Russland seine Truppenstärke aber auch hier deutlich verkleinert - der Grund ist der Soldatenmangel an der Front in der Ukraine.

Weniger Soldaten in Separatistengebieten

Zurückgegangen ist die russische Militärpräsenz auch in den Separatistengebieten von Georgien. Die selbst ernannte Republik Südossetien wird seit 2008 von Moskau als unabhängiger Staat angesehen. Im Zuge dessen hat Russland Soldaten in der von Georgien abtrünnigen Region stationiert. Aus Georgien wird inzwischen jedoch berichtet, dass kaum noch Militär präsent sei. "Wenn wir derzeit die Stützpunkte beobachten, können wir deutlich sehen, dass dort nur noch sehr wenig Personal stationiert ist", sagte Lascha Beridze bei Euronews. Der Oberst der Reserve der georgischen Armee geht davon aus, dass Russland die Soldaten vorrangig an die Front in die Ukraine geschickt hat.

Das gilt auch für die zweite abtrünnige Region auf dem Staatsgebiet Georgiens. In Abchasien hat Russland seit dem Georgien-Krieg im Jahr 2008 etwa 1300 Soldaten stationiert. Doch auch in dieser Separatistenregion scheinen die russischen Streitkräfte ihr Kontingent verkleinert zu haben, wie eine EU-Beobachtermission in Georgien zuletzt vermeldet hat. "Sie haben auch viel Technik herausbewegt", berichtete Missionsleiter Dimitrios Karabalis im August.

Unklarheit über Belarus

Ein Sonderfall ist Belarus. Im Land des treuen Putin-Verbündeten Alexander Lukaschenko war die Zahl der Kreml-Truppen laut ukrainischen Angaben zuletzt ebenfalls zurückgegangen. Im Sommer hatte Kiew mitgeteilt, dass fast alle russischen Truppen aus Belarus abgezogen worden seien.

Mitte August trafen jedoch wieder einige Hundert Soldaten im Nachbarland ein, um im September an einer großen Militärübung der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) teilzunehmen. Laut Oppositionsmedien in Belarus halten sich unabhängig davon etwa 2000 russische Soldaten an vier Militärstützpunkten im Land auf.

Doch Anfang dieses Monats verkündete Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu auf einmal, das geplante "Sapad"-Manöver in diesem Jahr ausfallen und die "Übungen stattdessen in der Ukraine" stattfinden zu lassen. Das britische Verteidigungsministerium hatte diesen Schritt schon im Vorfeld erwartet, weil den Russen zu wenige Truppen zur Verfügung stünden.

Tadschikistan keine Pufferzone mehr?

Und auch in einem weiteren Ex-Sowjetland ist Russland nicht mehr der starke Akteur vergangener Tage. Moskau spielte über Jahrzehnte hinweg eine wichtige Rolle im Bergkarabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, hat seit 2020 sogenannte Friedenstruppen in Armenien stationiert. "Über 30 Jahre war der Kreml ganz klar die Schutzmacht Armeniens, jetzt arbeitet Putin mit Aserbaidschan zusammen", sagte Stephan Malerius, der für die Konrad-Adenauer-Stiftung das "Regionalprogramm Politischer Dialog Südkaukasus" leitet, kürzlich im Interview mit ntv.de. Was aus den rund 2000 Moskauer Soldaten in Armenien mittelfristig wird, ist unklar.

Sein Machtpotenzial verloren hat Russland auch in Tadschikistan. Im zentralasiatischen Land waren ursprünglich etwa 7000 Soldaten stationiert, weil der Kreml Tadschikistan als eine Pufferzone zum südlich gelegenen Afghanistan ansieht. Der Stützpunkt ist einer der größten außerhalb Russlands. Bereits im vergangenen Sommer berichtete jedoch "Radio Free Europe", dass Russland etwas mehr als 2000 Soldaten abgezogen und in die Ukraine geschickt habe. Ob es seitdem weitere Truppenverlegungen gab, ist nicht bekannt.

Auch aus dem benachbarten Kirgisistan hat Putin einen Teil seiner Truppen abziehen lassen. Hier waren schätzungsweise bis zu 500 russische Soldaten stationiert. Die meisten kamen aus der Republik Tuwa im südlichen Sibirien, einer der ärmsten Regionen Russlands. Recherchen von "Radio Free Europe" zeigen, dass "mindestens 90 Soldaten aus Tuwa" zunächst zur Militärbasis nach Kant in Kirgisistan gebracht und von dort aus weiter in die Ukraine geschickt wurden - "gegen ihren Willen".

Kriegsgerät von Pazifikinsel abgezogen

Wie stark Russland umgruppiert hat, zeigt auch die Verlegung von Militärgerät. So hat Moskau zuletzt Luftabwehrsysteme von den strategisch bedeutsamen Kurilen abgezogen, einem nördlich von Japan gelegenen Archipel, das von Russland und Japan gleichermaßen beansprucht wird. Das zeigen Satellitenaufnahmen, die der japanische Politikwissenschaftler Yu Koizumi ausgewertet hat.

Auf der 1200 Kilometer langen Inselkette hatte das russische Militär 2020 mehrere Systeme stationiert. Gemutmaßt wird, dass Russland die Luftabwehrsysteme des Typs S-300 jetzt aber im Westen des Landes benötigt, um sich vor ukrainischen Luftangriffen zu schützen.

Zudem soll auch von der nördlicher gelegenen Pazifikinsel Sachalin Kriegsgerät verschwunden sein, wie ebenfalls Satellitenbilder zeigen. Hier waren bis zuletzt alte Sowjetpanzer und Haubitzen stationiert, nun sollen sie laut den japanischen Berichten in umgrenzenden Fabriken repariert und instandgesetzt geworden sein. Höchstwahrscheinlich, um die Panzer und Haubitzen ebenfalls in der Ukraine einzusetzen.

"Wieder was gelernt"-Podcast

Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige. Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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Quelle: ntv.de

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