"Kampf mit gebundenen Händen" Soll die Ukraine mit westlichen Waffen Ziele in Russland angreifen dürfen?


Zur Pressekonferenz mit Scholz in Meseberg hatte Macron eine Karte mitgebracht. Damit wollte er zeigen, dass die Ukraine von Stützpunkten aus angegriffen wird, die weit in Russland liegen.
(Foto: REUTERS)
Frankreichs Präsident Macron hat die Frage eindeutig beantwortet, innerhalb der US-Regierung gibt es dazu noch Diskussionen. Und Bundeskanzler Scholz? Der verweist auf die Reichweite des von Deutschland gelieferten Materials.
Beim Treffen der NATO-Außenminister heute Abend und morgen in Prag dürfte auch dieses Thema diskutiert werden: Soll die Ukraine mit westlichen Waffen militärische Ziele auf dem Territorium der Russischen Föderation angreifen dürfen? Einen offiziellen Beschluss dazu wird es sicher nicht geben: Das Treffen ist informeller Art, eigentlich geht es hauptsächlich um die Vorbereitung des NATO-Jubiläumsgipfels, der im Juli in Washington stattfindet.
Vor allem aber gibt es in dieser Frage in der NATO kein einheitliches Vorgehen. Die USA und Deutschland etwa untersagen der Ukraine, ihre Waffen gegen Ziele in Russland zu richten. "Andere NATO-Länder wie Schweden, Polen, die baltischen Republiken und Frankreich sehen das gänzlich anders und erlauben den Ukrainern dezidiert, militärische Ziele auf Russlands Territorium zu bekämpfen", sagt die frühere NATO-Mitarbeiterin Stefanie Babst im Interview mit ntv.de.
Für Angriffe auf Ziele in Russland ist die Ukraine damit vor allem auf ihre eigenen, selbst produzierten Waffen angewiesen. Die Auflagen der USA und Deutschlands würden die ukrainische Armee zwingen, "weiter mit gebundenen Händen zu kämpfen", sagt Babst.
Für ukrainische Gebiete, die Russland illegal annektiert hat, gilt das Verbot nicht, auch nicht für die Krim. Dringlich ist die Frage geworden, seit Russland im Norden, bei Charkiw, eine weitere Front gegen die Ukraine eröffnet hat; seither fleht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj geradezu darum, diese Beschränkungen aufzuheben. Denn Russland beschießt Charkiw von russischem Territorium aus. Russland konnte die Verbände, die dort auf ukrainisches Gebiet eingefallen sind, in aller Ruhe in der Region Belgorod zusammenziehen, weil es Angriffe mit westlichen Waffen dort nicht befürchten musste. Auch die russischen Nachschublinien sind an dieser Front nicht in Gefahr.
"Völkerrechtlich hat die Ukraine alle Möglichkeiten"
Allerdings gab es in den vergangenen Tagen Töne sowohl aus der US-Regierung als auch vom deutschen Bundeskanzler, die aufhorchen ließen. US-Außenminister Antony Blinken sagte am Mittwoch bei einem Besuch in der Republik Moldau, die USA würden ihre Haltung je nach Lage auf dem Schlachtfeld anpassen. "Wir entscheiden immer darüber, was notwendig ist, um sicherzustellen, dass die Ukraine sich weiterhin effektiv verteidigen kann."
Blinken ist dafür bekannt, in der US-Regierung für eine stärkere Unterstützung der Ukraine zu werben. Ob er sich mit dieser Position bei Präsident Joe Biden auch durchsetzen kann, ist bislang aber unklar.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat seine Ukraine-Politik seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine eng an Biden angelehnt - sowohl bei Waffenlieferungen als auch in der Frage, ob diese Waffen dann gegen Ziele in Russland eingesetzt werden dürfen. Am Dienstag klang er bei seiner Pressekonferenz mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron dann plötzlich, als habe es nie irgendwelche Verbote gegeben: Er sagte, die Ukraine habe "völkerrechtlich alle Möglichkeiten für das, was sie tut". Es habe "weder von uns noch von anderen Ländern Europas oder von befreundeten Staaten" jemals die Anforderung gegeben, dass sie bestimmte Maßnahmen nicht ergreifen dürfe. Zugleich sagte Scholz, die westlichen Länder hätten "Regelungen entwickelt, die besagen, dass sich das immer im Rahmen des Völkerrechts bewegen muss". Das habe "bisher praktisch gut funktioniert und wird sicherlich auch weiterhin funktionieren".
"Eine vertrauliche Vereinbarung"
Das klang, als wäre es für die Bundesregierung in Ordnung, wenn die Ukraine von Deutschland gelieferte Waffen auch auf dem Staatsgebiet des Aggressors einsetzt. Am Tag danach bekräftigte Regierungssprecher Steffen Hebestreit dann auch, der Bundeskanzler habe darauf verwiesen, "dass das Völkerrecht eindeutig ist, was die Rechte und Möglichkeiten der Ukraine, sich zu verteidigen, angeht, und dass ein solcher Verteidigungskampf nicht auf das eigene Staatsgebiet begrenzt ist, sondern selbstverständlich auch auf das Staatsgebiet des Aggressors erweitert werden kann".
Aber Hebestreit wies auch darauf hin, dass es über die Nutzung dieser Waffen "eine vertrauliche Vereinbarung" zwischen Deutschland und der Ukraine gebe, über die er nicht reden könne, weil sie eben vertraulich sei.
Faktisch ist damit vollkommen unklar, was Scholz in Meseberg sagen wollte. Darf die Ukraine nun mit aus Deutschland gelieferten Waffen militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet angreifen oder darf sie es nicht? Völkerrechtlich ist die Sache klar, das haben Scholz und Hebestreit gesagt und das ist Konsens: Sie darf, denn sie wurde angegriffen. Aber wenn es nur nach dem Völkerrecht ginge, dann könnte die NATO auch direkt militärisch in den Krieg eingreifen.
Angriffskriege sind verboten, Gegenwehr ist erlaubt
Denn die häufige Annahme, "dass Russland uns angreifen dürfte, sobald wir zur Kriegspartei werden", rührt aus Kriegsvorstellungen, die aus dem 19. Jahrhundert stammen, "als Krieg noch nicht verboten war", wie der Völkerrechtler Alexander Wentker ntv.de sagte. Spätestens seit Bestehen der UN-Charta jedoch gilt ein generelles Gewaltverbot. Angriffskriege sind verboten, Gegenwehr ist erlaubt.
Scholz' Verweis aufs Völkerrecht hilft also nur bedingt weiter, denn am Ende geht es hier um eine politische Frage. Hebestreit gab allerdings einen weiteren Hinweis: Scholz habe dargelegt, dass die vertraulichen Vereinbarungen zwischen Deutschland und der Ukraine "sich bewährt haben und dass man daran auch nichts ändern müsse". Offenbar hat sich nichts geändert.
"Natürlich ist das eine rote Linie, die Herr Scholz vorgegeben hat", kommentiert Stefanie Babst. "Aber auf dem Schlachtfeld haben sich Scholz' Regeln sicherlich nicht bewährt, sondern den Russen jeweils massive militärische Vorteile und den Ukrainern gravierende Nachteile gebracht", kritisiert die Expertin, die bis 2020 in leitender Funktion im NATO-Hauptquartier in Brüssel tätig war. "Die persönliche Vorstellungswelt des Bundeskanzlers ist hier sehr weit von der knallharten Kriegsrealität entfernt. Sein kühles Wort 'Vereinbarung' hört sich nicht so an, als habe er begriffen, dass eben diese Vereinbarungen auch über Tod und Leben der ukrainischen Soldaten entscheiden."
Keine klare Linie in der US-Regierung
Entschieden wird die Diskussion in Prag sicherlich nicht. Auch innerhalb der US-Regierung gibt es noch keine klare Linie. "Es gibt keine Änderung in unserer Politik", sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA, John Kirby, während Außenminister Blinken noch in Moldau war. "Weder ermutigen wir dazu, noch ermöglichen wir den Einsatz von US-Waffen auf russischem Boden." Zugleich sagte auch er, die Hilfe der USA habe sich verändert, wenn sich die Bedingungen auf dem Gefechtsfeld verändert hätten. Bislang gebe es aber "keine Änderungen in unserem Vorgehen".
Verändert hat sich die Lage durch die russischen Angriffe auf Charkiw - Macron hat daraus bereits Schlüsse gezogen. Bei der Pressekonferenz mit Scholz in Meseberg zog er eine Karte der Ukraine hervor, um zu zeigen, dass die Ukraine von Stützpunkten aus angegriffen wird, die weit in Russland liegen. "Das bedeutet, dass wir, wenn wir uns an die bisherigen Regeln halten, nicht in der Lage sind, die Basen anzugreifen, von denen aus die Geschosse in die Ukraine gestartet werden", sagte er, wobei er mit "wir" die Ukraine meinte. "Aber wir werden natürlich in keinem Fall in irgendeiner Weise erlauben, dass andere Orte in Russland, schon gar keine zivilen Orte, angegriffen werden."
Scholz widersprach nicht. Aber er betonte, "dass wir hierbei über ganz unterschiedliche Waffen reden, weil wir ganz Unterschiedliches zur Verfügung gestellt haben". Darauf verwies auch Hebestreit. Die von Deutschland gelieferten Waffen hätten "eine gewisse, nicht besonders große Reichweite".
Das soll wohl heißen: Für Angriffe auf russische Stützpunkte, die nicht nah an der Grenze zur Ukraine liegen, taugen sie eh nicht. Dafür müsste Deutschland der Ukraine den Marschflugkörper Taurus zur Verfügung stellen. Das lehnt Scholz bekanntlich kategorisch ab.
Quelle: ntv.de