Stefanie Babst im Interview "Andere NATO-Staaten werden sich dem französischen Vorstoß anschließen"
30.05.2024, 10:38 Uhr Artikel anhören
Bislang findet die Ausbildung ukrainischer Soldaten außerhalb der Ukraine statt - hier etwa auf dem Truppenübungsplatz Klietz.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Diskussion über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sei in Deutschland "vor allem deshalb so schrecklich unstrategisch, weil Bundeskanzler Scholz permanent Ängste schürt", sagt Stefanie Babst. Die NATO-Expertin geht davon aus, dass andere NATO-Staaten sich dem französischen Vorstoß anschließen und ebenfalls Ausbilder in die Ukraine schicken werden. Sie setzt auf eine Koalition der Willigen - dass Deutschland dazu gehört, glaubt sie nicht.
Babst kritisiert, dass einige westliche Staaten der Ukraine verbieten, mit ihren Waffen Ziele in Russland anzugreifen. Das zwinge die ukrainischen Streitkräfte, "weiter mit gebundenen Händen zu kämpfen". Die Motive der Restriktionen seien oft politisch. Scholz und US-Präsident Biden befänden sich im Wahlkampf, "beide fürchten, dass sie nicht wiedergewählt werden, wenn Russlands Krieg ihre politische Agenda zu sehr dominiert".
ntv.de: Frankreich will Ausbilder in die Ukraine schicken. Wie finden Sie das?
Stefanie Babst: Auf diese Ankündigung habe ich gewartet und hoffe, dass sich beide Seiten bald offiziell einigen. Ich finde es auch sehr gut, dass andere NATO-Regierungen laut darüber nachdenken. Das wäre ein sehr wichtiger Schritt, hinter dem jedoch ein hochkomplexes Unterfangen steht.

Stefanie Babst war 22 Jahre auf der strategisch-operativen Leitungsebene der NATO tätig. Von 2006 bis 2012 war sie stellvertretende beigeordnete Generalsekretärin der Public Diplomacy Division. Danach leitete sie das strategische Vorausschauteam für den NATO-Generalsekretär und Vorsitzenden des Militärausschusses. 2023 erschien ihr Buch "Sehenden Auges: Mut zum strategischen Kurswechsel".
(Foto: Privat)
Frankreich ist das erste Land, das Militärausbilder in die Ukraine schicken will?
Danach sieht es aus. Offenbar sollen in einem ersten Schritt französische Ausbilder in die Ukraine eingeladen werden, um sich die Ausbildungsstätten dort anzusehen. Wie Präsident Macron bereits vor einigen Wochen angedeutet hat, sollen sie dann die Ausbildung ukrainischer Soldaten vor Ort durchführen. Wo und wann genau, an welchen Waffensystemen und unter welchen konkreten Rahmenbedingungen, wird offensichtlich noch von allen Beteiligten diskutiert. Für die Ukraine wäre die Unterstützung einer westlichen Ausbildungsmission in ihrem Land zwar mit zusätzlichen Aufgaben verbunden, dem sogenannten "host nation support", aber generell wäre es für die ukrainische Armee eine Entlastung, wenn sie ihre Soldaten zur Ausbildung nicht permanent in andere Länder schicken muss. Das kostet Zeit, Energie und Personal, die die Ukraine besser nutzen könnten, um sich auf die wesentlichen Frontabschnitte zu konzentrieren. Und mit Blick auf die politische und auch strategische Signalwirkung wäre westliche Ausbildungshilfe vor Ort ein großer Schritt.
Inwiefern?
Weil ich davon ausgehe, dass sich andere NATO-Staaten dem französischen Vorstoß anschließen werden. Am Ende wird es wohl eine Koalition der Willigen sein, die diesen Schritt gemeinsam geht und dem russischen Aggressor damit deutlich aufzeigt, dass sie unter keinen Umständen bereit ist, die Ukraine aufzugeben.
Welche Länder könnten das sein?
Vor allem jene Staaten, die dies immer wieder signalisiert haben: Litauen, Estland, Lettland, vielleicht auch Finnen, Briten und Polen. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis hat erst letzte Woche gesagt, Litauen sei bereit, im Rahmen einer von Frankreich geführten Koalition Ausbilder in die Ukraine zu entsenden.
Hat die französische Entscheidung etwas mit Macrons Äußerung im Februar zu tun? Damals sagte er, man solle mit Blick auf die Ukraine "nichts ausschließen".
Macron hat ein starkes Plädoyer für strategische Ambiguität gehalten: Wir sollten Russland gezielt im Unklaren über unsere nächsten Schritte lassen - und gleichzeitig versuchen, Russland in Europa in robuster Form zurückzudrängen. Bereits zuvor hatte der französische Generalstabschef Pierre Schill ein Papier an einige NATO-Verbündete geschickt, in dem er eine ganze Liste von Möglichkeiten beschrieb, was die Verbündeten in der Ukraine tun könnten, um besser zu helfen. Darunter gehört Ausbildung, aber auch Unterstützung bei Minenräumung und Cyberabwehr. In Deutschland sind diese Vorschläge nicht aufgegriffen worden; weder politisch noch in der medialen Öffentlichkeit.
In Deutschland ging es nach Macrons Äußerung vor allem um die Frage, ob NATO-Staaten Bodentruppen in die Ukraine schicken sollten. Bundeskanzler Scholz sagte ausdrücklich, er werde "keine Soldaten unserer Bundeswehr in die Ukraine entsenden".
Das ist, und ich muss es so deutlich sagen, eine wahrscheinlich bewusst verfälschende Darstellung. Niemand unter den Verbündeten, weder der litauische noch der französische Präsident, hat westliche Bodentruppen im Sinne von Kampfverbänden vorgeschlagen. Eine solche Option ist überhaupt nicht Gegenstand der Diskussion. Aber wenn Herr Scholz eine deutsche Beteiligung an "Bodentruppen" ausschließt, dann assoziieren viele Menschen hier in erster Linie Kampfhandlungen und militärische Eskalation und sind natürlich alarmiert. Aber darum geht es überhaupt nicht!
Vor allem die USA und Deutschland haben immer betont, dass die NATO nicht Kriegsteilnehmer werden dürfe. Wären NATO-Soldaten - und seien es Ausbilder - nicht ein Eintritt in den Krieg?
Nein. Wir würden vor Ort militärische Ausbildungshilfe bündeln, die wir ohnehin seit zwei Jahren für die Ukrainer machen. Denn wir bilden ukrainische Soldaten ja bereits aus: in Polen, Großbritannien und auch in Deutschland. Dadurch sind wir nicht zu Kriegsteilnehmern geworden, sondern wir helfen der Ukraine, ihr Selbstverteidigungsrecht wahrzunehmen, das völkerrechtlich in Kapitel 7, Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen verankert ist. Im Übrigen haben die USA ja selbst "beratendes Personal" in der Ukraine, über das sie allerdings nicht gerne reden.
In Deutschland ist die Diskussion vor allem deshalb so schrecklich unstrategisch, weil Bundeskanzler Scholz permanent Ängste schürt, "dass da ein ganz großer Krieg draus wird", wie er neulich gesagt hat. Den haben wir aber bereits seit über zwei Jahren in der Ukraine. Mit dieser Haltung auch noch im Wahlkampf punkten zu wollen, ist nicht nur für die Ukrainer schwer zu ertragen, auch für mich.
Aus der Bundesregierung wird immer wieder darauf verwiesen, dass Deutschland mehr Waffen liefert als Frankreich.
Das hier ist nicht ein Wettbewerb der Buchhalter. Es geht nicht um Zahlen, sondern darum, effektive Antworten auf die größte strategische Zäsur in der Nachkriegszeit zu finden. Und es geht um die militärische und politische Wirkung unserer Waffenhilfe auf Russlands militärischen Terror gegen die Ukraine. Im Übrigen: Wenn man sich schon auf Buchhaltung reduzieren will, dann muss man auch ehrlich sagen, dass Deutschland im Verhältnis zu seinem Bruttoinlandsprodukt nur im Mittelfeld aller Unterstützerländer liegt.
Wäre es nicht sinnvoller, die Ukraine erst einmal angemessen mit Waffen auszustatten?
Selbstverständlich müssen wir die Ukraine schneller und robuster ausrüsten. Aber dieses Versprechen machen unsere Regierungen den Ukrainern seit zwei Jahren und drei Monaten. Wenn sich die westliche Unterstützung uneingeschränkt an den militärischen Notwendigkeiten ausrichten würde, dann wäre die Ukraine ja nicht in der gefährlichen Defensive. Wenn wir genügend Luftabwehrsysteme schicken würden, gäbe es keine zerbombten Baumärkte, Schulen und Kindergärten. Und wenn wir in ausreichender Stückzahl Artilleriemunition, weitreichende Lenkfeuerwaffen und Kurzstreckenraketen wie ATACMS geschickt hätten, dann wäre der Frontverlauf sehr wahrscheinlich ein anderer. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Frankreich und einige Verbündete sind offensichtlich bereit, einen ersten Schritt zu gehen, um aus der strategisch reaktiven Ecke herauszukommen, in der sich der Westen gegenüber Moskau befindet. In regelmäßigen Abständen zu beteuern, dass wir bald mehr Geld und Waffen schicken würden, es dann aber nur bedingt, zeitlich verzögert und mit erheblichen Einschränkungen tun, ist ganz offensichtlich kein Erfolgsrezept, um Putins Kriegsmaschinerie in der Ukraine zu stoppen.
Worauf stützt sich Ihr Eindruck, was die Stimmung in den NATO-Mitgliedsstaaten angeht?
In meinen mehr als zwanzig Jahren im NATO-Hauptquartier habe ich ein ziemlich großes Netzwerk entwickelt, einschließlich persönlicher Kontakte zu Regierungsvertretern oder regierungsnahen Institutionen in etlichen NATO-Staaten und natürlich in Brüssel. Mit all diesen Menschen tausche ich mich seit zwei Jahren regelmäßig aus. Ich bin froh, wenn vor allem mein Plädoyer für eine konsequente Eindämmungsstrategie gegen Russland und seine Unterstützer dort auf offene Ohren stößt.
Hat Deutschland eine Eindämmungsstrategie gegen Russland?
Nein, die haben wir nicht. Die Politik der Bundesregierung lautet, die Ukraine "so lange wie nötig" und keinen "Diktatfrieden" zu unterstützen. Zu diesen Kernaussagen gibt es etliche Varianten, je nachdem, mit welchen Mitgliedern der Ampelregierung Sie reden. Einige SPD-Vertreter propagieren ja offen ein Einfrieren des Krieges, was Grüne und Liberale wohl anders sehen. Letztlich reduziert sich die deutsche "Strategie" auf zwei Punkte: Erstens, wir wollen keine Kriegspartei sein. Und zweitens, wir wollen alles eng mit den Verbündeten abstimmen, in erster Linie mit Washington. Und dort sitzt ein Präsident, der ebenfalls auf ein Deeskalationsmanagement setzt - welches konkrete Ziel Präsident Biden damit auch immer verfolgen mag.
US-Außenminister Blinken hat neulich bei einem Besuch in Kiew gesagt, die USA würden der Ukraine nicht verbieten, mit amerikanischen Waffen Ziele in Russland anzugreifen; sie würden die Ukraine aber auch nicht dazu ermutigen. Danach hat Präsident Selenskyj trotzdem mehrfach an die USA appelliert, das Verbot fallenzulassen. Was stimmt denn nun: Gibt es das Verbot oder nicht?
Ganz grundsätzlich: Die Länder, die der Ukraine bestimmte Waffensysteme zur Verfügung stellen, können auch Restriktionen für deren Einsatz vorgeben, sogenannte Caveats. Die USA haben seit Kriegsbeginn immer wieder solche Caveats an ihre Waffenlieferungen gebunden und den Ukrainern untersagt, militärische Ziele auf russischem Territorium anzugreifen; angeblich, um Russland nicht zu provozieren. Deutschland tut dies ebenfalls. Andere NATO-Länder wie Schweden, Polen, die baltischen Republiken und Frankreich sehen das gänzlich anders und erlauben den Ukrainern dezidiert, militärische Ziele auf Russlands Territorium zu bekämpfen. In Washington wird dies auch von einigen Politikern befürwortet, aber grundsätzlich scheint die Biden-Administration an ihren Restriktionen festhalten zu wollen. Das alles lässt die Ukrainer weiter in einer schwierigen Situation.
Warum halten sich die Ukrainer an diese Vorgaben?
Zum einen will und darf Präsident Selenskyj es sich mit seinen größten Unterstützern nicht verderben; um überleben zu können, ist die Ukraine auf westliche Unterstützung angewiesen. Zum anderen zwingt es die ukrainischen Streitkräfte jedoch, weiter mit gebundenen Händen zu kämpfen. Dabei sind die Motive westlicher Restriktionen oftmals politisch. Als die ukrainischen Streitkräfte im Schwarzen Meer mit ihrer eigenen Seedrohnenflotte russische Kriegsschiffe versenken oder schwer beschädigen konnten, gab es keine Kritik aus Washington, eher Applaus. Als sie aber anfingen, russische Öldepots und Raffinerien anzugreifen, erfolgte ein Aufschrei: Die Amerikaner hatten mehr Angst um den Ölpreis und damit ihre eigenen Wirtschaftsinteressen. Der beachtliche militärische Erfolg der Ukrainer ging in der Kritik aus Washington total unter.
Dabei ist aus einer rein militärischen Perspektive völlig unstrittig, dass man den Gegner dort am besten angreift, wo er verwundbar ist: beispielsweise seine Nachschubwege, Logistiknotenpunkte, Abschussrampen, Versorgungslinien und dergleichen mehr. Wenn wir jetzt sehen, dass die Russen neues Kriegsmaterial in großem Stil per Schiene an die nördliche Front bringen, dann ist es geradezu hanebüchen, wenn einige Verbündete den Ukrainern nicht erlauben wollen, diese Transporte anzugreifen. Vor diesem Hintergrund ist es nur logisch, dass die Ukrainer über die Caveats einiger Verbündeter hochfrustiert sind.
Regierungssprecher Hebestreit wollte am Montag nicht sagen, ob es eine rote Linie ist, dass mit deutschen Waffen Ziele in Russland angegriffen werden. Er wiederholte lediglich, was der Kanzler gesagt hatte: dass es Vereinbarungen gibt und "sich diese Regelungen bewährt haben und gelten".
Natürlich ist das eine rote Linie, die Herr Scholz vorgegeben hat. Und was soll die Ukraine anderes machen, als dem zuzustimmen und sich in der Öffentlichkeit artig für deutsche Waffenlieferungen zu bedanken? Aber auf dem Schlachtfeld haben sich Scholz' Regeln sicherlich nicht bewährt, sondern den Russen jeweils massive militärische Vorteile und den Ukrainern gravierende Nachteile gebracht. Die persönliche Vorstellungswelt des Bundeskanzlers ist hier sehr weit von der knallharten Kriegsrealität entfernt. Sein kühles Wort "Vereinbarung" hört sich nicht so an, als habe er begriffen, dass eben diese Vereinbarungen auch über Tod und Leben der ukrainischen Soldaten entscheiden.
Wovor haben Biden und Scholz Angst: vor den Wählern oder davor, dass Putin nuklear eskaliert?
Es sind innenpolitische Gründe, die beide antreiben. Beide befinden sich im Wahlkampf, beide fürchten, dass sie nicht wiedergewählt werden, wenn Russlands Krieg ihre politische Agenda zu sehr dominiert. Deshalb wollen sie eine größtmögliche Distanz zum Krieg bewahren. Ihre Wähler sollen den Eindruck haben, dass Moskaus Angriffskrieg weit weg von ihnen stattfindet, sie vor ihm sicher sind und Putin gemanagt werden kann, wenn man ihn nicht allzu sehr provoziert. Was der Krieg mit den Ukrainern täglich macht, ist dabei zweitrangig. Dabei könnten Biden und Scholz offen und ehrlich sagen: "Schaut her, es gibt einen brutalen Krieg in der Mitte Europas, der auch unsere Sicherheit direkt berührt. Deshalb wollen und werden wir den Aggressor gemeinsam mit der Ukraine militärisch besiegen. Das hier ist unser Plan. Aber um Russland in der Ukraine zu besiegen, müssen wir auch einige vertretbare Risiken eingehen." Denn natürlich gibt es diese Risiken. Wenn Frankreich und andere NATO-Verbündete Ausbilder in die Ukraine schicken, dann ist das eine komplexe Mission, die von allen Seiten durchdacht werden muss und die auch Risiken mit sich bringt, aber, wie ich meine, vertretbare Risiken.
Dass Putin nun seit zwei Jahren die nukleare Bedrohungskarte ausspielt, dürfte mittlerweile jedem klar sein. Dabei hat niemand, auch nicht der Kreml, Interesse an einer nuklearen Eskalation. Für die Bundesregierung und die US-Regierung aber ist es ein nützliches Totschlagargument; sie können damit immer wieder begründen, warum sie bestimmte Dinge nicht tun wollen, wie zum Beispiel die Ukraine zu Beitrittsverhandlungen mit der NATO einzuladen oder Taurus-Marschflugkörper zu liefern.
Neben den Ausbildern und der Erlaubnis, Ziele außerhalb der Ukraine anzugreifen, gibt es einen weiteren Punkt, bei dem die NATO sich seit Kriegsbeginn nicht bewegt: die Frage einer No-Fly-Zone.
Es geht bei dieser Frage nicht um die Einrichtung einer No-Fly-Zone. Eine solche Flugverbotszone ist zu Beginn des Krieges von der Ukraine angefragt und von den NATO-Mitgliedern unisono abgelehnt worden. An dieser Grundposition hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Wenn einzelne Verbündete oder deutsche Politiker nun vorschlagen, die ukrainische Luftabwehr zu entlasten, dann geht es primär um die Westukraine, deren Luftraum mit Luftabwehrsystemen geschützt werden könnte, die sich auf NATO-Territorium befinden - beispielsweise mit Patriot-Batterien in Polen oder Rumänien. Wie sich das operativ organisieren ließe und wer sich an einer solchen Operation beteiligen würde, darüber wird in einigen NATO-Hauptstädten nachgedacht. Ich habe Zweifel, dass das auch in Berlin getan wird.
Mit Stefanie Babst sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de