Ein bemerkenswerter Staatsbesuch Scholz und Macron finden sich - endlich
29.05.2024, 06:54 Uhr Artikel anhören
Viel Symbolik und gar nicht so wenige Entscheidungen: Der dreitägige Besuch von Präsident Emmanuel Macron ist die bislang beste Episode der deutsch-französischen Beziehungen unter Kanzler Olaf Scholz. Endlich finden beide einen gemeinsamen Zungenschlag. Womöglich kommt das aber zu spät.
An einem lauen Frühsommerabend in Brandenburg kann sich auch der vermeintlich kühle Kanzler nicht mehr der französischen Leichtigkeit entziehen. Erst trifft Emmanuel Macron mit beinahe einer Stunde Verspätung im Schloss Meseberg ein, dem Gästehaus der Bundesregierung nördlich von Berlin. Dann redet der französische Präsident beim gemeinsamen Presseauftritt derart ausführlich, als gäbe es nicht noch zahlreiche ernsthafte Themen unter vier Augen zu besprechen. Wird es halt spät, pas de problème!
Macron wirkt, als wolle er gar nicht mehr weg aus dem Land, das ihm drei Tage lang einen freundlichen Empfang bereitet hat. Und Scholz? Lässt sich darauf ein und spricht ausführlicher als sonst zu den Journalisten. Dabei gelingt ihm die knackigste Formulierung dieser Pressekonferenz. "Wir einigen uns immer", sagt Scholz und zeigt ein leicht triumphierendes Lächeln. Es wird ja oft anders berichtet, und das aus gutem Grund.
Lohn für Macrons Beharrlichkeit
Deutschland hat einen Freund in Emmanuel Macron. Schon zur Regierungszeit Angela Merkels nahm er immer wieder Anlauf, gemeinsam mit der Kanzlerin einen großen Wurf hinzubekommen - für die deutsch-französische Freundschaft, für Europa. Mit Merkels Nachfolger Scholz verfolgte er dieses Ziel ebenfalls. Der daheim für seine Sprunghaftigkeit bekannte Präsident hat zwar immer wieder für Irritationen in Berlin gesorgt, wenn es ihm opportun erschien. Die Nähe zum Kanzleramt aber suchte er beharrlich.
Das ist nun belohnt worden: Einladung zum ersten Staatsbesuch eines französischen Präsidenten seit dem Jahr 2000, Festrede in Dresden anlässlich des 75. Geburtstags des Grundgesetzes, Auszeichnung mit dem Westfälischen Friedenspreis in Münster und schließlich die Regierungsgespräche in Meseberg. Zusammen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Kanzler seinem wichtigsten ausländischen Regierungspartner den denkbar größten roten Teppich ausgerollt. "Es hat mich sehr gefreut, hier drei Tage in Deutschland gewesen zu sein und so viel Zeit mit meinem Freund Olaf Scholz verbracht zu haben", sagt Macron in Meseberg und bedankt sich noch an anderer Stelle mehrfach beim Kanzler und beim Bundespräsidenten.
Die Inszenierung ist ein Wert an sich
Der wichtigen Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen sei "ein weiteres Kapitel hinzugefügt" worden, sagt Scholz. In Frankreich steht der Hamburger oft unter Verdacht, Deutschlands Beziehungen zu den USA sehr viel wichtiger zu nehmen als jene zum größten Nachbarland. Die große Freundschaftsgeste der vergangenen Tage steht dem entgegen.
Es gibt aber noch weitere Motive. Jeder deutsche Kanzler wird daran gemessen, ob er die historische Völkerversöhnung mit Frankreich am Leben hält. Und am 9. Juni wird ein neues Europaparlament gewählt. In Frankreich kündigt sich ein deutlicher Wahlsieg der Partei von Marine Le Pen an, in Deutschland könnte die SPD abgeschlagen hinter der CDU/CSU und mit Pech auch noch hinter AfD und Grünen landen. Höchste Zeit also, diesem Trend etwas entgegenzusetzen.
Bei aller gebotenen Vorsicht bei so viel politischer Inszenierung: Die regelmäßigen Treffen und der enge Austausch zwischen Emmanuel Macron und Olaf Scholz sind ein Wert an sich. Beide demonstrieren in Meseberg, dass sie den Beziehungen ihrer Länder großen Wert beimessen. "Oft haben wir nicht den gleichen Ausgangspunkt und das ist auch nicht schlimm", sagt Macron über das Verhältnis von Deutschland und Frankreich. Aber: "Wir befinden uns auf einem gemeinsamen Weg."
Viele kleine Vereinbarungen
Die nächsten gemeinsamen Schritte sind ebenfalls gefunden. Für die Ukraine heißt dies: Paris und Berlin unterstützen die Weitergabe von Zinsgewinnen aus in Europa eingefroren russischen Vermögen an Kiew. Beide Länder wollen beim nächsten G7-Treffen im Juni einen Plan vorlegen, wie die sieben größten westlichen Wirtschaftsnationen die Ukraine dauerhaft finanziell unterstützten können. Als Macron auf der Pressekonferenz mithilfe einer eigens mitgebrachten Karte zeigt, warum die Ukraine auch militärische Ziele auf russischem Boden angreifen dürfen müsse, widerspricht Scholz nicht. Deutsche Waffen gegen russische Stellungen auf russischem Territorium? Der Kanzler bleibt im Ungefähren: "Die Ukraine hat völkerrechtlich alle Möglichkeiten für das, was sie tut."
Frankreich und Deutschland haben sich ferner auf die Entwicklung eines gemeinsamen Kampfpanzers sowie von Marschflugkörpern verständigt. Zudem räumt Macron den Zwist um den europäischen Luftschutzschirm ab, den Scholz angestoßen und dabei Paris außen vor gelassen hatte. Es sei doch gut, wenn die europäischen Staaten ohne Atomwaffen sich aufmachten, Frankreichs Abschreckungspotenzial zu ergänzen, sagt Macron sinngemäß. Die verbriefte Verstimmung Frankreichs ist damit offiziell abgehakt, zumindest vorerst.
Beim Thema Europa hatten Scholz und Macron schon vor dem Treffen in Meseberg ihre gemeinsamen Ideen präsentiert: Sie fordern mehr Wachstum und Innovation durch Bürokratieabbau sowie eine vertiefte Integration des europäischen Kapitalmarkts samt vollständiger Bankenunion, schreiben sie in einem gemeinsamen Zeitungsartikel. Regeln für Finanzprodukte, Anlagen und Banken sollen demnach vereinheitlicht werden, um es Investoren leichter zu machen. Macron und Scholz sprechen sich zudem beide für eine EU-Erweiterung um die Länder des Westbalkans aus sowie für mehr Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Stimmt Macron sich auf Merz ein?
Allerdings bleibt kaum Zeit, diese teils dicken Bretter zusammen zu bohren. Sie haben womöglich zu spät zueinander gefunden. Scholz hat derzeit geringe Aussichten auf eine zweite Amtszeit und steckt mit seiner komplizierten Regierungskoalition bis zum Frühherbst nächsten Jahres mehr oder weniger durchgehend im Wahlkampf. Macrons zweite und letzte Amtszeit endet im Frühjahr 2027. Er könnte bis dahin einen dritten Anlauf unternehmen müssen, belastbare Beziehungen zu einem deutschen Kanzler aufzubauen. Im Dezember empfing Macron sicherheitshalber schon einmal den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz in Paris. Im März kam der Präsident eigens in den Bundestag, um die verstorbene CDU-Ikone Wolfgang Schäuble zu würdigen.
Ob Macron sich heimlich auf einen Kanzler Merz mit einer dann hoffentlich weniger schwierigen Regierungskoalition freut? Merz zeigt zumindest mehr Verständnis für den französischen Ansatz, Wladimir Putin über die Folgen einer weiteren Eskalation in der Ukraine im Unklaren zu lassen. Unverdrossen deutet Macron die Möglichkeit eines Einsatzes westlicher Soldaten auf ukrainischem Territorium an, obwohl Scholz das für Deutschland mit Verve ausgeschlossen hat. In Meseberg kündigt Macron an, demnächst die Öffentlichkeit über den Einsatz französischer Militärausbilder in der Ukraine zu informieren. Scholz sagt auch dazu: lieber nichts.
Bei den Themen EU und Wirtschaft hätte Macron es dagegen gewiss nicht leichter mit Merz: Auch in Meseberg wirbt der Franzose für einen deutlich höheren EU-Haushalt nach dem Vorbild des 800 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds, der nach der Pandemie aufgesetzt wurde. Der damalige Finanzminister Scholz hatte sich seinerzeit für den Fonds starkgemacht, für den die EU-Staaten erstmals gemeinsame Staatsanleihen aufnahmen. Als Regierungschef einer Koalition mit der FDP, die gemeinsame EU-Anleihen strikt ablehnt, sind ihm nun die Hände gebunden. Scholz scheint sich damit arrangiert zu haben.
Macron fordert heraus
Die mangelnde Beinfreiheit eines deutschen Regierungschefs ist für einen französischen Präsidenten mit seiner exekutiven Machtfülle nicht leicht auszuhalten. Im Elysée-Palast macht man große Politik per Federstrich. Im Kanzleramt braucht jeder Schritt viele Abstimmungsrunden und noch mehr Kompromissfähigkeit. "Du bist immer bereit, auf Deutschland zuzugehen, eröffnest die Diskussion, versuchst uns auch hier und da aus der Reserve zu locken", lobt Bundespräsident Steinmeier bei der Verleihung in Münster den Friedenspreisträger Macron.
Der tut in seiner anschließenden Rede wie geheißen und mahnt: "Die NATO allein wird uns nicht helfen können." Europa müsse in Verteidigungsfragen für sich selbst arbeiten und beginnen, gemeinsame "Interventionsstreitkräfte aufzubauen". Deutschland und Frankreich müssten sich "gemeinsam den Risiken stellen".
So viel Visionen mutet Macron seinem Gastgeber Scholz später auf Schloss Meseberg nicht zu. Der hätte sofort die vielen Hürden einer praktischen Umsetzung im Hinterkopf - sowie die Frage, ob sein Gegenüber wirklich nur das Beste aller oder auch Frankreichs Machtstellung in Europa im Hinterkopf hat. Ein lässiger Auftritt mit Emmanuel Macron treibt dem deutschen Kanzler seinen Pragmatismus nicht aus. Auch nicht an einem lauen Frühsommerabend in Brandenburg.
Quelle: ntv.de