Fechterin spricht über WM-Eklat "Die Russen haben genau gewusst, was sie tun"
21.08.2023, 18:35 Uhr
Olha Charlan gehört zu den größten und erfolgreichsten Sportlerinnen der Ukraine.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Die aus dem südukrainischen Mykolajiw stammende Fechterin Olha Charlan ist eine Sportlegende ihres Landes. Mit dem Olympiasieg von Peking, fünf Weltmeister- und acht Europameistertiteln gehört die 32-Jährige zu den prominentesten Ukrainerinnen überhaupt. Nach dem Vorfall bei der jüngsten Fecht-WM, als Charlan der Russin Anna Smirnowa den Handschlag verweigerte, erhielt sie eine noch größere Bekanntschaft - und hat sich neulich sogar mit dem Befehlshaber der ukrainischen Armee Walerij Saluschnyj getroffen. Im Interview mit ntv.de spricht Charlan über ihre in Mykolajiw bleibenden Eltern, ihre Sicht auf den richtigen Umgang mit Sportlern aus Russland und Belarus in Zeiten des russischen Angriffskrieges sowie über ihren an der Front gestorbenen Fechterkollegen Denys Borejko.
ntv.de: Frau Charlan, Sie leben zwar mit Ihrem Freund, dem Fechter Luigi Samele, in Italien, sind aber oft zu Hause in der Ukraine - auch jetzt. Vor kurzem haben Sie auch Ihre Heimatstadt Mykolajiw im Süden des Landes besucht, die gerade in den ersten Kriegsmonaten stets unter Beschuss stand. Was sind Ihre Eindrücke und wie geht es Ihrer Familie, die größtenteils vor Ort geblieben ist?
Olha Charlan: Zurückzukehren ist immer sehr emotional. Tatsächlich verbringe ich aktuell mehr Zeit in Italien als in der Ukraine. Das ist aber bereits mein vierter Besuch seit Beginn der vollumfänglichen Invasion. Und es freut mich zu sehen, dass es in Mykolajiw etwas ruhiger als früher ist, wobei die Stadt immer noch vergleichsweise nah am Kampfgebiet ist und Drohnen- sowie Raketeneinschläge Alltag sind. Daher mache ich mir weiterhin ständig Sorgen um meine Liebsten. Nur meine Schwester ist nach dem Kriegsausbruch nach Italien gegangen, ist aber bereits zurückgekehrt. Meine Eltern waren drei Wochen lang im westukrainischen Iwano-Frankiwsk, waren jedoch schnell wieder in Mykolajiw. Ich habe das natürlich hinterfragt, mich selbst gefragt, ob es nicht zu gefährlich war und bleibt. Doch ich verstehe das, obwohl ich auf deren Evakuierung bestanden habe. In Mykolajiw gab es etwa sehr lange gar kein Leitungswasser - und mein Vater half zum Beispiel bei Wasserlieferungen mit. Das hat enorme Bedeutung.
Als Olympiasiegerin und Top-Sportlerin gehörten Sie sowieso zu den bekanntesten Gesichtern in der Ukraine. Doch nach der Fecht-WM in Mailand, wo Sie der Russin Anna Smirnowa den Handschlag verweigert haben und disqualifiziert wurden, kennt Sie wirklich jeder im Land. Sie zeigten sich überrascht und überwältigt von der Welle der Unterstützung. Nun haben Sie sogar Walerij Saluschnyj, den beliebten Befehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, getroffen.
Ich darf nicht alle Details des Treffens mit Saluschnyj erzählen, aber es war mir eine riesige Ehre. Mein erster Gedanke, als ich darauf angesprochen wurde, war: Wow, der kennt mich. Das habe ich zuerst gar nicht so richtig geglaubt. Das Gespräch mit Saluschnyj war jedenfalls sehr angenehm - und er zeigte sich sportlich betrachtet super informiert. Ansonsten war für mich die Unterstützung nach dem Vorfall bei der WM extrem wichtig. Das war nämlich eine sehr schwere Phase. Es war nicht ausgeschlossen, dass meine Karriere quasi auf dieser Note endet, dass ich keine Olympischen Spiele mehr bestreiten werde. Dabei ist Paris für mich natürlich ein wichtiges Ziel. Und dann hat mir das ganze Land geschlossen gesagt: Du magst auf diese unfaire Art und Weise nicht weitergekommen sein, doch wir stärken dir alle gemeinsam den Rücken. Das werde ich nie vergessen. Woran ich mich jedoch immer noch nicht gewöhnen kann, sind Momente, wenn sich Soldaten von der Front bei mir melden, um sich bei mir zu bedanken. Denn eigentlich müsste es umgekehrt laufen.
In der Ukraine gab es eine große Debatte darüber, ob ukrainische Sportler an Wettbewerben mit Russen und Belarussen teilnehmen dürfen, selbst wenn diese unter neutraler Flagge auftreten. Es galt zwischenzeitlich sogar ein Verbot des Sportministeriums, welches nur kurz vor Ihrem Zweikampf mit Smirnowa aufgehoben wurde. Ihr Vorgehen hat der Ukraine viel Aufmerksamkeit gebracht und auch für die Anpassungen einiger Regeln im Fechten gesorgt, etwa was den Handschlag betrifft. Welche Lehren kann der ukrainische Sport aus Ihrer persönlichen Erfahrung von Mailand ziehen?
Ich glaube, wir sollten sichtbar sein, die Herausforderungen annehmen, aber unsere Haltung zeigen und uns nicht alles gefallen lassen, was uns unter dem Vorwand der falschen Neutralität und angeblicher Völkerverständigung vorgeschoben wird. Es macht keinen Spaß, gegen Russen und Belarussen anzutreten, während dein Land täglich beschossen wird. Sie wissen leider schon bestimmt, dass kurz vor unserem Gespräch wieder eine russische Rakete im Zentrum von Tschernihiw eingeschlagen ist. Es gibt viele zivile Tote und Verletzte. Das ist hier Alltag. Und angesichts dieses Alltages sind jegliche Handschläge undenkbar. (Das Interview wurde am Samstag geführt, Charlan spricht von diesem Angriff)
Am Vortag vor dem Match gegen Smirnowa haben Sie mit Ihren Eltern telefoniert. Es gab Luftalarm und sie waren im Keller. Was spürt man, wenn man sich unter diesen Umständen auf das sportliche Duell mit einer Russin vorbereiten muss?
Als ich mit meinen Eltern gesprochen habe, wusste ich noch nicht, ob ich antreten darf. Das Go vom Sportministerium kam zu dem Zeitpunkt noch. Ich verspürte innerliches Chaos, aus vielen verständlichen Gründen. Meine Eltern versuchten dagegen, mir gegenüber trotz allem den Eindruck zu vermitteln, als ob alles okay wäre. Nach dem Match war ich dann einfach im Tunnel. Ich war froh, dass es vorbei ist und hatte etwa 1,5 Stunden, um mich auf die nächste Runde vorzubereiten. Ich habe zugegeben ein bisschen geweint, mich aber vor allem auf den nächsten Zweikampf konzentriert. Irgendwann habe ich von diesem Sitzstreik erfahren und der Rest ist bekannt. Ich kann dazu nur eines sagen: Die Russen haben ganz genau gewusst, was sie tun. Ich habe doch klar im Voraus gesagt, dass es keine Handschläge mit Russinnen geben wird. Das war eine bewusste Provokation, die genau zeigt, wie neutral Smirnowa eigentlich ist.
Der IOC-Präsident Thomas Bach, Ihr Fechterkollege, hat Ihnen eine Wild Card für die Olympischen Spiele gesichert - eine wichtige Geste, die allerdings das Grundproblem kaum löst. In und außerhalb der Ukraine sind viele der Meinung, dass wenn Russen und Belarussen schon zu Wettbewerben als neutrale Athleten zugelassen werden, sie doch den russischen Angriffskrieg zumindest unmissverständlich verurteilen sollten. Vorerst beschränken sich die Empfehlungen aber auf das Fehlen der kriegsunterstützenden Statements im öffentlichen Raum sowie auf die Nichtmitgliedschaft in militanten Strukturen. Was ist Ihre Meinung dazu?
Ich glaube auch, dass es schärfere Regeln geben sollte. Und man sollte schlicht bessser überprüfen, wen man alles so zulässt. Ich will mich gar nicht erst damit auseinandersetzen, ob Smirnowas Bruder bei der russischen Armee dient oder nicht - es ist halt völlig klar, dass es sich bei ihr nicht um eine neutrale Athletin handeln kann. Ansonsten wird uns gegenüber oft gesagt, dass die Nichtzulassung von Russen und Belarussen eine Art Diskriminierung und damit ein Problem sein könnte, dass es rund 30 bewaffnete Konflikte auf der Welt gibt und man deswegen flexibel sein müsste. Ich weiß, dass es viele Kriege gibt. Meine Antwort darauf ist trotzdem: Unser kleines Problem ist dagegen, dass wir jeden Tag brutalst angegriffen werden. Und das ist ein Problem, welches wir nicht einfach ignorieren können.
Der internationale Fechterverband FIE wird zwar nicht mehr vom russischen Oligarchen Alischer Usmanow angeführt, doch die gesamte sonstige Führung ist dort aus der Usmanow-Zeit geblieben. FIE gehörte zu den ersten Dachverbänden, die Russen und Belarussen unter neutraler Flagge zugelassen haben. Bei der WM hat es viele gewundert, dass der Verband nicht dafür gesorgt hat, dass etwa Russen und Belarussen erst im Halbfinale oder im Finale aufeinander treffen können, was nicht alle, aber zumindest gewisse Risiken minimiert hätte. Wie groß ist aus Ihrer Sicht der russische Einfluss auf FIE?
Ich meine, wir alle können zwei und zwei zusammenzählen, oder? Was die Auslosung betrifft, glaube ich, dass sie einfach nicht daran gedacht haben. Sie haben bestimmt gewusst, dass es Schwierigkeiten geben könnte. Mit einem Skandal dieses Ausmaßes haben sie aber wohl nicht gerechnet.
Mehr als 340 ukrainische Sportler und Trainer sind seit Februar 2022 wegen des russischen Angriffs ums Leben gekommen. Unter diesen Zahlen verbirgt sich leider jemand, den Sie und viele ukrainische Fechter persönlich kannten: Der in diesem Sommer gestorbene 34-jährige Ex-Fechter Denys Borejko, der zu den prominentesten ukrainischen Talenten zählte und einst die Silbermedaille bei der Junioren-WM gewann. In den letzten Jahren spielte er eine wichtige Rolle bei einem Fechterverein in der Stadt Dnipro. Was passiert in Ihrem Kopf, wenn Sie an das Schicksal von Denys denken?
Es ist ein riesiger Verlust für unsere Fechterfamilie. Wir waren alle im Schock, als wir davon erfahren haben. Ich spreche mein tiefstes Beileid für die Eltern und die gesamte Familie von Denys aus. Wir waren in den letzten Jahren seltener in Kontakt, aber kannten uns aus der Juniorenzeit gut. Denys war ein offenherziger, herrlicher Mensch, der die Ukraine sehr geliebt hat. Deswegen hat er sich auch freiwillig für den Dienst gemeldet und ist an die Front gegangen.
Prominente ukrainische Sportler engagieren sich auch abseits der Front stark bei der Unterstützung ihres Landes. Anfang August haben die Fußball-Stars Andrij Schewtschenko und Oleksandr Sintschenko ein Benefizspiel in London ausgetragen, um Geld für den Wiederaufbau einer zerstörten Schule zu sammeln. Was machen Sie?
Ich engagiere mich aktuell bei der Unterstützung einer Klinik in der Westukraine, die sich intensiv mit der Rehabiliation der verwundeten Soldaten beschäftigt. Wir haben uns diesen Krieg nicht ausgesucht, er ist zu uns gekommen. Und die Menschen, die sicher andere Pläne hätten als plötzlich gegen Russland kämpfen zu müssen, verdienen mit aller Sicherheit ihre zweite Chance, ihr zweites Leben. Mit der Versteigerung von Trainingseinheiten mit mir konnten wir etwa die volle Rehabilitation von zwei Soldaten finanzieren. Nun werde ich meine eigene Barbie-Puppe für die gleichen Zwecke versteigern. 2020 hatte ich die Ehre, als Prototyp für eine Fechterin-Barbie aus der Serie "Role Models" des Herstellers Mattel zu dienen. Es existiert nur eine solche Puppe auf der Welt und unter anderen Umständen hätte ich sie unbedingt bei mir behalten wollen. Das ist doch wirklich eine Ehre. Nun kann diese Barbie aber viel mehr Nützliches und Gutes schaffen als einfach bei mir zu Hause zu stehen und auf mich zu schauen.
Haben Sie denn den Film von Greta Gerwig bereits gesehen?
Nein. Ich bin aktuell nicht in der Laune, ins Kino zu gehen. Mein letztes Mal im Kino war 2019, noch vor Corona. Wenn der Film digital erhältlich sein wird, werde ich ihn mir aber sofort anschauen.
Dieser Krieg wird irgendwann zu Ende sein. Welche Ukraine wünschen Sie sich für die Zeit danach?
Ich denke gar nicht so viel über die Zukunft nach. Wie viele Ukrainer lebe ich vielmehr im Hier und Jetzt. Wir müssen erstmal diesen Krieg gewinnen, davon hängt unser Schicksal ab. Für die Zeit danach ist mir vor allem eines klar: Der Preis wird riesig sein. Und wir dürfen die Leute, die ihr Leben für die Ukraine gegeben haben, ihre Errungenschaften nicht verraten.
Mit Olha Charlan sprach Denis Trubetskoy
Quelle: ntv.de