Fußball-EM

Vertrauen in eigene Bockigkeit Ein Kompliment, Herr Löw!

Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft korrigiert auf bemerkenswerte Weise ihren EM-Fehlstart gegen Frankreich. Mit einer mutigen und bisweilen furiosen Leistung wird Portugal mit 4:2 hergespielt. Auch, weil Löw seiner Bockigkeit treu bleibt. Ist nun alles prima?

Noch ist nicht klar, was dieses Spiel gegen Portugal war. Eine beeindruckende Befreiung aus dem chancenlosen EM-Start gegen Frankreich (Interpretationen von "Die Mannschaft" und einigen TV-Experten). Oder ein wirklich gutes Spiel mit kleinen, aber dringend zu korrigierenden Schwächen gegen einen erstaunlich schwachen Titelverteidiger. Nun, der kleinste gemeinsame Nenner ist schon gefunden. Das, was die deutsche Fußball-Nationalmannschaft am Samstagabend auf den Rasen der Münchner Arena brachte, das war stark. Ihnen kommt dieser Einstieg bekannt vor? Dann liegen sie richtig, am Tag vor dem Spiel fing der Bericht über die überraschenden Belehrungen des Bundestrainers fast exakt so an. Und damit sind wir dann auch schon beim ganz großen Thema des zweiten Vorrundenspiels von "Die Mannschaft".

Zumindest für jene, die in der Euphoriewelle nicht untergegangen sind. Für jene, die akzeptiert haben, dass der Sieg ganz toll war. Ganz wichtig. Und phasenweise auch ganz schön. Die aber in dieser Euphorie erkennen, dass noch nichts gewonnen ist (gut ein Spiel, klar), ebenso wenig wie nach der Niederlage gegen Frankreich schon alles verloren war. Das war es nämlich nicht. Abgesehen von der Stimmung. Und vom Vertrauen in die Mannschaft. Und in den Bundestrainer. Der hatte vor dem Anpfiff wieder einmal alle überrascht. Womöglich ist es präziser zu sagen, dass er wieder einmal alle zur Verzweiflung getrieben hatte. Er hatte gegen Portugal nämlich exakt die Spieler in die Startelf beordert, die gegen Frankreich leidenschaftlich gekämpft hatten, aber ohne Erfolg. Ohne Mut. Lieber den Fehler vermeiden, als das Risiko suchen. Das war für alle Beteiligen ziemlich frustrierend. Die Franzosen und ihre Sympathisanten nehmen wir aus dieser Rechnung selbstverständlich raus.

Aber nach 90 Minuten, nach einem wirklich bemerkenswerten 4:2 (2:1)-Erfolg gegen den Titelverteidiger um die spielende Legende Cristiano Ronaldo, stellt wohl niemand mehr ernsthaft die Frage, ob nicht besser Leroy Sané für Kai Havertz begonnen hätte. Und vorerst traut sich wohl auch kaum jemand zu fragen, ob Joshua Kimmich nicht im Zentrum noch wertvoller wäre. Havertz war an drei Toren beteiligt. Eins erzielte er selbst, ein Eigentor erzwang er, das dritte leitete er ein. Kimmich war auch an drei Toren beteiligt.

Anders ist die Lage womöglich bei İlkay Gündoğan. Er machte ein solides Spiel, was ihn als einen der schwächeren Deutschen entlarvt. Nicht schwach, bitte richtig verstehen. Aber für den besten Spieler der abgelaufenen Premier-League-Saison ist das dann doch eher zu wenig. Der Leistungsunterschied zwischen dem Klub-Gündoğan und dem DFB-Gündoğan ist und bleibt immens. Was vielleicht auch an seiner Rolle im Team liegt. Für Deutschland spielt er defensiver. Nun könnte also tatsächlich nochmal drüber diskutiert werden, ob nicht Leon Goretzka ein Mann für die Startelf wäre. Der war zwar lange verletzt, zeigte nach seiner Einwechslung aber direkt seine Qualitäten: Power, Dynamik, Tiefenläufe aus dem Zentrum und ein wuchtiger Abschluss. Einer streifte die Latte. Mann der Partie war aber Robin Gosens. Ein leidenschaftliches Powerpaket, immer bereit, alle Wege zu gehen. Manchmal etwas ungestüm, wie vor dem 0:1, aber immer vorne weg, wenn es ums Antreiben und Abräumen geht. Er scheut keine Flanke, keinen Zweikampf.

Alle gut, aber der Gewinner ist Löw

Der größte Gewinner aus deutscher Sicht ist aber Löw. Überzeugt von sich und seiner Idee setzte er wieder auf das gegen Frankreich heftig kritisierte 3-4-3-System. Haben wir gerade eigentlich gesagt, dass Löw mit seiner Aufstellung überraschte? Pardon, das ist freilich völliger Quatsch. Denn wenn den Bundestrainer über die Jahre etwas konstant begleitet, dann ist es seine beeindruckende Bockigkeit, sich der öffentlichen Ansicht zu beugen. Man kann das auch Meinungsstabilität nehmen. Oder aber eben Überzeugung. Dass er das Risiko einging, sich nach einer zweiten Niederlage brutaler Kritik auszusetzen, dass er das Risiko einging, dass sich die Menschen nach einer zweiten Niederlage endgültig von der Löw'schen Nationalmannschaft abwenden (gut, die Ära ist eh bald vorbei), das alles ist reichlich bemerkenswert. Dafür ein Kompliment, Herr Löw!

Ist nun alles gut? Natürlich nicht. Es ist ein Akt der Höflichkeit, nach diesem furiosen Sieg nun nicht mit der Grubenlampe in den Schacht zu steigen und etwas Kritisches aus dieser Leistung herauszuschürfen. Aber ist eben so: Dieser Sieg war wichtig, er ist aber völlig belanglos, wenn das letzte Gruppenspiel gegen Ungarn vergeigt wird. Wie leicht das möglich ist, hat Weltmeister Frankreich am Samstagnachmittag erfahren. Das 1:1 trotz drückender Überlegenheit ist eine Blamage. Keine Frage. Ungarn wird gegen Deutschland garantiert tief stehen, auf Konter hoffen, auf Standards. Deutschland wird gegen Ungarn weniger Platz bekommen, die Räume werden enger, weil es im Gegenpressing kaum bis keinen Gegnerdruck geben wird. Enger wird's im Zentrum. Und für Außen. Wie gegen Frankreich. Überlaufen ist das Stichwort. Und Absicherung. Klappte gegen Portugal nicht immer. Wurde aber nur einmal bestraft.

Ob gegen Ungarn das 3-4-3-System dann tatsächlich wieder das richtige ist? Löw wird das nicht beschäftigen. Er hatte die Systemdebatte ja am Tag vor dem Spiel und auch unmittelbar vor dem Anpfiff abmoderiert. Das sei ja nicht so wichtig. Es gehe um Räume, um gefährliche Räume. Um Dynamik, um Intensität und um Mut. Flexibel sei das System, nicht so die Aufgaben der Spieler. Und es liege an ihnen, die Vorgaben umzusetzen. Gegen die Portugiesen gelang das herausragend. Die Idee von Löw war endlich mal klar zu erkennen. Kimmich akzeptierte die Rolle auf rechts und war zweitbester Mann. Nach Gosens. Havertz haute sich in jedes Duell, was dieses Spiel etwas eigenartig für ihn werden ließ. Denn als robuster Abräumer ist er nicht bekannt. Und auch als Libero taugt er nicht. Beleg dafür das 0:1. Orientierungslos rannte er dem Konter erst entgegen und dann hinterher. In der Offensive aber war er super. Immer präsent, immer an guten Lösungen interessiert, an Kombinationen, an Abschlüssen. Der Gegner machte es dem DFB-Team auch einfach. Oder sagen wir: Der Gegner machte es dem DFB-Team einfacher als die Franzosen.

Am Ende wird's wackelig

Dort war das Mittelfeld eine verlorene Zone. Ein Mann mehr im Zentrum hätte gutgetan. Dieser Blick ändert sich auch nach Spiel zwei nicht. Nun ging der Plan wunderbar auf. Toni Kroos, dessen Stammplatz im Team ja fast so umstritten ist wie der Bundestrainer selbst, organisierte ganz prima. Er ging weite Wege, half sogar mit Grätschen aus. Es wurde aber auch deutlich, dass diese Mannschaft einige Spieler hat, die nicht zu ersetzen sind. Einer davon ist Mats Hummels. Gegen Frankreich noch der Mann, der alles auf bittere Weise entschied, entschied er nun fast alles auf überragende Weise. Bis zu seiner Auswechselung (63.), irgendwas war am Knie, beantwortete er alle offenen Fragen, warum er der Abwehrchef ist. Er war übrigens nicht der Einzige, der Wehwehchen beklagte und rausmusste, wie Löw später bekannte. Ohne Hummels fiel das 2:4 (67.). Ohne ihn wirkte die Abwehr nicht mehr so souverän. Der Druck der Portugiesen war indes auch größer. Dass es für Deutschland nochmal unruhig wurde, ist auch eine Geschichte dieser Partie. Auch Kroos, der Souverän, schaffte es nicht, die Hektik aus dem deutschen Spiel zu nehmen. Und was wäre nur passiert, wenn Renato Sanches seine ganze Wut per Distanzschuss nicht an den Pfosten, sondern ins Tor gehämmert hätte? Gut, hat er nicht. Egal.

Oder auch nicht. Schlechte Standards bleiben ein Thema. Schlecht in der eigenen Ausführung. Schlecht in der Verteidigung der gegnerischen Varianten. So war auch dem Schuss von Sanches eine Ecke vorausgegangen. Thomas Müller, der engagiert und für die Portugiesen nervtötend war, aber nicht immer glücklich in seinen Aktionen, sagte: "Wir hatten viele gute Aspekte, aber auch viele Dinge, die wir noch verbessern müssen. Sowas kann am Ende Punkte kosten. Jetzt haben wir die drei Punkte, jetzt sind wir gut im Turnier. Jetzt dürfen wir nicht überdrehen und nicht überheblich werden - aber wir dürfen an unsere Qualität glauben." Und was sagt Löw? Wie zufrieden war er mit sich und seinem Plan? "Der Auftrag war, in der Offensive andere Kraft zu erzeugen. Genau das wurde sehr gut umgesetzt, dass die richtigen Räume bespielt wurden, dass wir nicht Tempo rausnehmen."

Kurz zurück zur Eingangsfrage: Was war dieses Spiel gegen Portugal nun? Eine beeindruckende Befreiung aus dem chancenlosen EM-Start gegen Frankreich? Oder ein wirklich gutes Spiel mit kleinen, aber dringend zu korrigierenden Schwächen gegen einen erstaunlich schwachen Titelverteidiger? Beides.

Quelle: ntv.de

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