EM-Comeback im Schnellcheck Das fünfköpfige Monster rettet Deutschland
19.06.2021, 20:29 UhrDeutschland gerät nach einem Konter früh in Rückstand. Der großen Fußball-Nation droht ein erneutes Vorrunden-Aus, wie schon bei der WM 2018. Doch dann schlägt das fünfköpfige Monster zu.
Die Ausgangslage
Nach Ungarns Punktgewinn gegen Frankreich war Deutschland noch vor Anstoß auf den letzten Platz der Gruppe F abgerutscht. Die gute Nachricht war: Tiefer abstürzen ging nicht mehr! Die schlechte Nachricht: Im Falle einer Niederlage würde das EM-Aus noch nicht besiegelt sein, aber die Unruhe rund um die Personalie Joshua Kimmich gewiss eskalieren.
Zwar hatte es keinen offenen Machtkampf zwischen Joachim Löw und Joshua Kimmich gegeben, doch seinen Unmut versteckte der Bayern-Star auf der Pressekonferenz vor dem Portugal-Spiel nicht. "Es ist oft so, dass das Spiel vermeintlich abseits von einem selbst stattfindet und man vermeintlich auftragslos ist - auch wenn das nicht stimmt", hatte der 26-Jährige über seinen Wechsel auf die Außenverteidiger-Position gesagt.
Er übte mit leisen Worten Kritik, doch den Bundestrainer tangierte sie wenig. Nach tagelangen Diskussionen der 80 Millionen Bundestrainer, wie auf die Niederlage gegen Frankreich zu reagieren sei, machte Löw einfach so weiter. Darüber habe er auch "nicht so sehr" gegrübelt, erzählte Löw im ARD-Interview. Kimmich blieb also auf der ungeliebten Position und auch sonst änderte sich nichts. In der Offensive, sagte Löw, sei man "auf der Suche nach der goldenen Mitte" und dann ging es auch schon los. Halt: Erst sprach sich auch noch Liverpool-Trainer Jürgen Klopp gegen Löws Taktik aus. "Ich mag das System nicht so gern", sagte der. Aber so spät in seiner DFB-Karriere wollte der Bundestrainer nichts mehr ändern. Ohnehin sei er "optimistisch".
Optimistisch, mutig und dominant: So ging es dann auch direkt los. Kai Havertz erklärt dem 38-jährigen Pepe den deutschen Match-Plan. Robust dagegenhalten. Es ist keine Minute vergangen, da liegt Pepe umgerammt vom Champions-League-Sieger auf den Boden.
Herr Erdenberger, wie war's im Stadion?

Endlich ist der Einstieg ins Turnier gelungen. Jetzt kann die EM auch für die Fans beginnen.
(Foto: imago images/Schüler)
Über diesem Turnier liegt nicht nur der Schleier der weiterhin nicht ausgestandenen Pandemie, sondern - und das ist wohl die schlimmere Euphoriebremse - auch die über Jahre gewachsene Skepsis der deutschen Fußball-Öffentlichkeit gegenüber der deutschen Nationalmannschaft. Nein, das DFB-Team ist nach begeisternden Jahren längst kein Quell ewiger Freude mehr, es taumelt sich nicht mehr so unvoreingenommen. Und so blieb bisher in Deutschlands Städten und in der Münchener Arena der Rausch aus, der Taumel. Das 0:1 zum Auftakt half nicht, es führte noch nicht einmal zu Panik vor dem Ausscheiden.
Die Vorstellung war nicht nur erfolgs- und chancenlos, sondern auch zu mutlos. Kein Identifikationspotenzial, kein gemeinsames Leiden. Dabei wollen sie doch so gerne, die deutschen Fans. Das EM-Fieber. Den schwarz-rot-goldenen Rausch. Und ja, sie bekamen ihn. Es fühlte sich an, als wäre spätestens das 2:1 der Startschuss in diese EM gewesen, auch emotional. Es fühlte sich anders an als nur ein weiteres Länderspiel, in dem es einfach nur um viel geht. Nicht nur für die Mannschaft und ihren Trainer war der mutige, der emotionale Auftritt ein Befreiungsschlag. Für die Fans bietet er den Einstieg in dieses Turnier. Der Schleier könnte sich jetzt ein bisschen lüften. (Till Erdenberger)
Teams und Tore
Portugal: Rui Patricio/Wolverhampton Wanderers (33 Jahre/95 Länderspiele) - Semedo/Wolverhampton Wanderers (27/20), Dias/Manchester City (24/30), Pepe/FC Porto (38/117), Guerreiro/Borussia Dortmund (27/48) - William Carvalho/Betis Sevilla (29/68) ab 58. Minute Rafa Silva/Benfica Lissabon (28/23), Danilo Pereira/Paris St. Germain (29/49) - Bernardo Silva/Manchester City (26/57) ab 46. Sanches/OSC Lille (23/28), Fernandes/Manchester United (26/31) ab 64. Joao Moutinho/Wolverhampton Wanderers (34/133), Jota/FC Liverpool (24/16) ab 83. Andre Silva/Eintracht Frankfurt (25/41) - Ronaldo/Juventus Turin (36/177). - Trainer: Santos
Deutschland: Neuer/Bayern München (35 Jahre/102 Länderspiele) - Ginter/Borussia Mönchengladbach (27/42), Hummels/Borussia Dortmund (32/74) ab 63. Can/Borussia Dortmund (27/36), Rüdiger/FC Chelsea (28/43) - Kimmich/Bayern München (26/57), Gündogan/Manchester City (30/48) ab 73. Süle/Bayern München (25/32), Kroos/Real Madrid (31/104), Gosens/Atalanta Bergamo (26/9) ab 62. Halstenberg/RB Leipzig (29/9) - Havertz/FC Chelsea (22/16) ab 73. Goretzka/Bayern München (26/33), Müller/Bayern München (31/104), Gnabry/Bayern München (25/24) ab 88. Sane/Bayern München (25/32). - Trainer: Löw
Schiedsrichter: Anthony Taylor (England)
Tore: 1:0 Ronaldo (15.), 1:1 Ruben Dias (35., Eigentor), 1:2 Guerreiro (39., Eigentor), 1:3 Havertz (51.), 1:4 Gosens (60.), 2:4 Diogo Jota (67.)
Zuschauer: 14.000
Gelbe Karten: Havertz, Ginter
Der Spielfilm
5. Minute: Der Ball liegt im Tor der Portugiesen. Nach einer endlos langen Ballbesitzphase der Deutschen stolpert Thomas Müller den Ball nach außen. Dort steht Matthias Ginter, der Joshua Kimmich zeigt, was ein Auftrag sein kann: Den Ball in den Strafraum segeln lassen. Gnabry verpasst noch. Gosens netzt artistisch ein. Aber Gnabry stand im Abseits. Trotzdem: Guter Auftakt. Schon in der ersten Minute hat Kai Havertz dem ewigen Pepe eine Ansage gemacht und in umgerammt.
12. Minute: Die Angriffe rollen auf das Tor der Portugiesen. Was ist hier los? Das sieht sehr gut aus. Sogar einigermaßen zielstrebig. Aber Rui Patricio bleibt Sieger, erst gegen Gnabry und dann gegen Havertz. Portugal kann sich nicht befreien. Was wohl passiert, wenn sie mal kontern?
15. Minute, TOOOOR FÜR PORTUGAL: Das passiert dann. Aus einer deutschen Ecke entwickelt sich ein Konter. Einfache Sache auch. Weil Deutschland die Absicherung vergessen hat. Ein langer Ball von Bernardo Silva auf den auf der linken Seite mitgelaufenen Diogo Jota, weit hinter die aufgelöste Abwehr. Kimmich kommt zu spät und Gosens kann Cristiano Ronaldo nicht aufhalten. Jota legt ab, CR7 schiebt ein und trifft, obwohl er doch nie gegen Deutschland trifft. Heute schon. Im fünften Anlauf. Neuers Reklamier-Arm schnellt hoch - ein sicheres Zeichen: Bei diesem Tor lief alles korrekt ab. Außer eben bei der deutschen Absicherung.
35. Minute, TOOOOR FÜR DEUTSCHLAND: Immer wieder geht es über die rechte Seite. Müller legt auf Kimmich. Der Ball fliegt erneut über die Abwehr auf Gosens. Der Atalanta-Spieler nimmt den Ball direkt. Er springt scharf zurück in die Mitte. Havertz und Ruben Dias streiten sich am Fünfer um den Ball. Der Portugiese gewinnt und drückt ihn über die Torlinie. Deutschland wartet weiter.
39. Minute, TOOOOOR FÜR DEUTSCHLAND: Spiel gedreht. Portugal bekommt keine Luft mehr. Antonio Rüdiger auf Gosens, der Ball springt einige Male durch den Strafraum, landet via Havertz bei Kimmich auf der Grundlinie. Der legt ihn rein und Borussia Dortmunds Raphael Guerreiro trifft. Zweites Eigentor.
Halbzeit: Was für ein Spiel, um an einem Hitze-Samstag im Juni 2021 am Leben zu sein. Deutschland dominiert die ersten 45 Minuten, erzielt früh einen Abseitstreffer, vergisst dann einfache Defensivaufgaben und rollt trotzdem weiter. 2:1 für Joachim Löw. Spektakulärer Tanz im Münchener Glutofen. Portugal wechselt einmal und bringt Renato Sanches.
51. Minute, TOOOOOR FÜR DEUTSCHLAND: Von der rechten Abwehrseite kombinieren sich die Deutschen zentral vor den Strafraum. Ein Doppelpass zwischen Thomas Müller und Kimmich und dann hat der Raumdeuter ein Auge für Gosens. Der macht das, was er halt so macht, und spielt den Ball in die Mitte. Da steht Kai Havertz. Und trifft. Jetzt aber wirklich. 3:1 für Deutschland.
60. Minute, TOOOOOR FÜR DEUTSCHLAND: Wow! 4:1. Wieder das fünfköpfige Monster im Angriff. Diesmal sind alle Spieler bis auf Gnabry beteiligt. Am Ende steht Gosens nach einer Kimmich-Flanke in der Luft. Er trifft, wird weniger später mit Standing Ovations verabschiedet. Gosens! Über den werden wir noch viel lesen. Jetzt kommen erst einmal Marcel Halstenberg für den Torschützen und Emre Can für Mats Hummels, der somit ohne Eigentor bleibt.
67. Minute, TOOOOOR FÜR PORTUGAL: Okay. Immerhin bleiben die Standard-Probleme. Erst verpasst Diogo Jota den Freistoß mit dem Kopf, dann holt sich CR7 den Ball hinten ab, legt ihn zurück in die Mitte. Jota schiebt aus kürzester Distanz ein. Die deutsche Mannschaft hofft auf den VAR. Aber der hat keine Einwände. Nur noch 4:2.
79. Minute: Kein Toooor für Portugal! Aber Renato Sanches hätte hier beinahe das Spiel noch einmal komplett auf den Kopf gestellt. Es bleibt jedoch bei einem klassischen Pfostenkracher und ein wenig Unmut bei Manuel Neuer. Weiter 4:2.
83. Minute: Leon Goretzka ist nach 73. Minuten für Havertz gekommen. Er war lange verletzt. Läuft jetzt von Box zu Box. Will auch den Abschluss. Der Ball landet auf der falschen Seite der Torlatte. Aber das ist okay. Leon ist zurück. Das ist die wichtige Nachricht.
90+4. Minute: Abpfiff. Es bleibt beim 4:2 für Deutschland.
Hier gibt es den langen Spielebericht
Was ist mit Ronaldo?

Cristiano Ronaldo traf gegen Deutschland, aber ein Tor und ein Assist waren nicht genug.
(Foto: imago images/Team 2)
CR7 hat in den Anfangsminuten ordentlich Spaß. Erst erzielt er sein 19. Tor bei Welt- oder Europameisterschaften und egalisiert damit die Bestmarke von Miroslav Klose, dann spielt er in der 21. Minute einen eingesprungenen No-Look-Hackenpass. Antonio Rüdiger schaut erstaunt, der Portugiese feiert sich im Anschluss. Danach kommt nicht mehr viel. Ein Assist. Doch Portugal geht unter und mit ihm auch Ronaldo. Nach dem Spiel unterhält er sich mit Toni Kroos. Real-Madrid-Legenden unter sich.
Und was ist mit Thomas Müller?
Bayern-Legende! Der geht nicht unter am Samstag. Er ist an allen Toren beteiligt und dirigiert das deutsche Spiel. Mal stolpernd. Mal zentral. Mal links. Mal rechts. Der Rückkehrer hat seine Scheu abgelegt. Der wichtigste Spieler auf dem Platz. Müller hat jetzt 104 Länderspiele. Wie auch Toni Kroos. Beide haben je eins mehr als Franz Beckenbauer. Bis zu Lothar Matthäus ist es noch ein weiter weg. Daran wird Müller heute aber nicht denken.
Aber Müller war nicht alles, oder?
Natürlich nicht. Es war "wunderbar", wie Bastian Schweinsteiger in der zweiten Halbzeit in der ARD unnachahmlich analysiert. Die Außenverteidiger schieben höher, beweisen mehr Mut. Havertz setzte früh ein Zeichen, Gnabry, der immer wieder ins Eins gegen Eins geht und Kimmich, der sich früh von Ginter abschaut, dass man auf der Außenposition gefährlich werden kann. Deutschland spielt mit dem fünfköpfigen Monster.
Fünfköpfiges Monster?
Ja. Robin Gosens, Thomas Müller, Serge Gnabry, Kai Havertz und Joshua Kimmich.
Können wir dann endlich mal über Robin Gosens reden?
Gosens war der Mann des Spiels. Das ist doch klar. Vor seinem Tor in der 60. Minute steht er in der Luft wie sonst nur Cristano Ronaldo. Zwei weitere Treffer bereitet er vor. Der Junge von der niederländischen Grenze, der nie in der Bundesliga spielte, ist endgültig in den Herzen der Fußball-Fans angekommen. Guter Typ, guter Fußballer.
Also alles gut jetzt?
Bei zwei Gegentoren kann nicht alles gut sein. Festzuhalten bleibt: ein hochverdienter Sieg gegen Portugal. Ein echtes Spektakel. Wir nehmen uns die Zeit und warten mit der Analyse. Ein wunderbarer Abend in München. Vielleicht beginnt die EM jetzt auch in Deutschland. Die Fähnchen müssen ans Auto. Am Mittwoch geht es gegen Ungarn. Das wird spannend, auch aus politischer Sicht.
Und wie war die Taktik, Herr Eckner?
Im Nachgang wird natürlich viel über Robin Gosens oder auch Kai Havertz gesprochen werden, die beide sehr gute Leistungen ablieferten. Dass die DFB-Auswahl jedoch so stark auftrumpfen konnte, lag nicht bloß an einzelnen Spielern, sondern an einer hervorragenden mannschaftstaktischen Vorstellung. Zum anfänglichen Entsetzen vieler Anhänger hatte sich Bundestrainer Joachim Löw dazu entschieden, beim 3-4-3-System aus dem Frankreich-Spiel zu bleiben.
Doch im Gegensatz zur Vorstellung am vergangenen Dienstag spielte Deutschland gegen Portugal um einiges direkter und nutzte gerade die Lücken auf den Außenbahnen effektiver. Gosens auf links und Joshua Kimmich auf rechts wurden eigentlich nie von den portugiesischen Außenverteidigern gedeckt und waren deshalb bei Nachstößen mit Verlagerungsbällen anspielbar. Gerade Gosens tauchte vielfach im Rücken von Rechtsverteidiger Nelson Semedo auf, der darauf bedacht war, das Abwehrzentrum seiner Mannschaft kompakt zu halten.
Oft wird Löw vorgeworfen, er würde nicht schnell genug auf taktische Probleme reagieren. In dieser Partie war es aber Portugal-Trainer Fernando Santos, der zu lange brauchte, um Impulse von außen zu setzen und die Defensivprobleme zu adressieren. So wurde Portugals Abwehr mal um mal durch Läufe von Havertz oder auch Thomas Müller auseinander gezogen und von Gosens sowie Kimmich auf den Flügeln attackiert. Mit dem Ergebnis, dass Deutschland vier Tore erzielen konnte.
Herr Feuerherdt, zum Abschluss, wie war der Schiedsrichter aus England?

Schiedsrichter Anthony Taylor wird bei dieser EM nicht zum letzten Mal im Einsatz gewesen sein, sagt Experte Alex Feuerherdt.
(Foto: imago images/Jan Huebner)
Anthony Taylor reihte sich mit seiner Leistung ein in die vielen guten Auftritte der Unparteiischen bei dieser Europameisterschaft. Sehr umsichtig, ruhig, aufmerksam und mit dem Blick fürs Wesentliche. Der Engländer ließ die intensive Partie gut laufen, griff aber ein, wenn Grenzen überschritten wurden. Setzte mit den Gelben Karten gegen Havertz und Ginter diesbezüglich klare Stoppschilder. Nur mit wenigen Fehlern: Der Freistoßpfiff gegen Kroos in der 52. Minute war falsch, weil kein Kontakt vorlag, und Renato Sanches hätte in der 90. Minute eine Gelbe Karte wegen Ballwegschlagens verdient gehabt. Guter Draht zu den Spielern, moderierte gelegentliche Proteste souverän weg.
Sehr stark auch seine Assistenten, die gleich bei drei Toren richtig lagen, als es beim Abseits knapp zuging: Gnabry spielte in der 5. Minute zwar nicht den Ball, beeinflusste aber zwei Gegner, deshalb wurde der Treffer von Gosens zu Recht nicht anerkannt. Vor dem Treffer zum 2:1 für Deutschland dagegen war Gosens auf der Außenbahn nicht im Abseits, vor dem portugiesischen Tor zum 2:4 hatte Diogo Jota den Ball nach der Flanke nicht mit dem Kopf verlängert, ansonsten wäre Vorlagengeber Christiano Ronaldo im Abseits gewesen. Vor allem diese Szene war sehr schwer zu erkennen. Mit Sicherheit nicht der letzte Einsatz für Taylor bei diesem Turnier.
Quelle: ntv.de