Die kuriose Müller-EM-Geschichte Ewig torlos, immer tadellos
20.06.2021, 11:08 Uhr
Nach dem furiosen EM-Sieg der Fußball-Nationalmannschaft gegen Portugal wird in Deutschland vor allem über einen Mann geredet: über Robin Gosens. Gut waren natürlich auch andere. Zum Beispiel Thomas Müller. Oder nicht? Die Bewertungen über ihn gehen weit auseinander.
Über Thomas Müller weiß man sehr viele Dinge. Man weiß zum Beispiel, dass er es besonders gerne mag, wenn man ihn beim Fußballspielen nicht in ein festes System presst. Dass der Bundestrainer der Medienwelt zuletzt erklärt hatte, dass es ohnehin nicht darauf ankomme, sondern auf die Interpretation der Aufgaben, das kommt Thomas Müller besonders entgegen. Die Art wie er Fußball spielt, wie er seine Aufträge auf dem Platz erfüllt, wird häufig mit so wenig griffigen Wörtern wie Freigeist, Raumdeuter oder Schleichkatze beschrieben.
Aber Thomas Müller ist natürlich viel mehr als der Mann, der sich einfach nur elegant und unkonventionell zwischen den Linien bewegt. So nennt man das mittlerweile, wenn ein Fußballer keine ausgiebige Positionstreue hat. Thomas Müller übernimmt auf dem Feld wichtige Aufgaben in den Bereichen Kommunikation und Führung. Er ist immer gierig. Immer gallig. Scheut keinen Zweikampf, nervt seine Gegenspieler in kleinen, nickeligen Duellen. Das sind sehr viele gute Argumente dafür, dass Joachim Löw den Mann vom FC Bayern nach über zweieinhalb Jahren völlig zurecht in das DFB-Team zurückgeholt hatte. Gemeinsam mit Mats Hummels. Gemeinsam mit Mats Hummels trägt er die Hoffnungen auf eine erfolgreiche EM, nach zermürbenden Monaten, vielleicht auch Jahren, in denen sich die Nationalmannschaft und der DFB sportlich und emotional mit zahlreichen Aussetzern selbst abgerockt hatten.
Eine Konsequenz dessen: Der freiwillige Rückzug von Löw nach diesem Turnier. Es soll ein Rückzug mit einem guten Ende werden. Nicht so frustrierend wie die WM 2018 in Russland. Als sich Deutschland gnadenlos blamiert hatte, der Trainer entrückt wirkte, die Mannschaft abgelenkt war und nicht harmonierte. Vieles scheint in diesen Tagen tatsächlich anders. Was auch an Müller liegt. Der ist wieder voll dabei, emotional und sportlich. Sowohl bei der 0:1-Niederlage gegen Frankreich zum Auftakt stand er in der Startelf. Und auch nun beim 4:2-Erfolg gegen Portugal. Das kam natürlich nicht überraschend. Nach der chancenlosen Pleite gegen die "Équipe Tricolore" wurde über andere Spieler diskutiert. Über Kai Havertz etwa. Oder über Ilkay Gündogan.
Teil der wichtigen WM-Achse
Müller ist als Führungskraft natürlich gesetzt. Als Teil der Weltmeister-Achse aus Manuel Neuer im Tor, aus Hummels als Chef der Abwehr, aus Toni Kroos als Strategen im Mittelfeld und eben aus Müller in der Offensive. Dieses Quartett leitet die Mannschaft an, gibt ihr Stabilität. Und wenn mal einer rausmuss, wie Hummels gegen Portugal, dann geht das direkt zulasten eben dieser Stabilität. Hummels bekam bis zu seiner Auswechselung, wegen irgendwas am Knie, beste Noten von den jeweiligen Beobachtern. Auch Kroos wurde sehr gelobt, weil er den Rhythmus bestimmte, viel lief und grätschte. Bei Neuer war man sich recht einig, dass er an den Gegentoren schuldlos war, auch wenn seine Aktion vor dem zweiten gegen Vorbereiter Cristiano Ronaldo etwas eigenartig aussah. Aber vermutlich tickte der Ball tatsächlich so blöd auf, dass der DFB-Kapitän nichts machen konnte. Und dann ist da noch Müller. Über dessen Auftritt herrschte große Uneinigkeit.
Manche Beobachter schrieben ihn fast in die gleiche Kategorie wie die spektakulären Matchwinner Robin Gosens, Joshua Kimmich und Kai Havertz. Andere fanden ihn zwar wuselig wie immer, aber nicht glücklich in seinen Aktionen. Tatsächlich schleppt der 31-Jährige eine bizarre Serie mit sich herum. Bei Europameisterschaften will ihm einfach kein Tor gelingen. Auch im 13. Spiel blieb er ohne Erfolgserlebnis. Und wenn man mal ehrlich ist, sonderlich nah war er auch nicht dran. Für das Spektakel sorgten andere. Der wirklich phänomenale Gosens halt, Kimmich, der seine Rolle auf rechts augenscheinlich akzeptierte und das Beste draus machte. Drei Torbeteiligungen etwa. Und natürlich Kai Havertz, der seine Gegenspieler zwischendurch nicht nur wuchtig wegräumte, sondern auch immer an einer guten, kreativen, erfolgreichen Lösung orientiert war.
Und dazwischen war dann Müller. Mal auf zwei Beinen unterwegs, mal kniend, mal liegend. Oft im Duell, selten in guten Abschlusssituationen. Aber vermutlich war es genau das, was dieser Mannschaft half. Wie er vor dem ersten Tor von Gosens (es war Abseits) den Ball behauptete, im Stolpern, im Fallen, ihn dann zu Kimmich spielte, das war eben typisch Müller. Typisch Müller ist eben auch: Wenn es mit erfolgreichen Aktionen in der Offensive mal nicht klappt, dann definiert er seine Leistung über Einsatz, Willen, Leidenschaft und seine Besessenheit für den Erfolg. Über seine Rolle als Antreiber und Motivator. Wie er Havertz nach dem von ihm erzwungenen 1:1 (per Eigentor) sofort wieder vehement anfeuerte, ihm Laufwege erklärte - immer wichtig eben.
Dass er in der Nachspielzeit, als die Portugiesen nach einem kleinen, wuchtigen Zwischenhoch die Niederlage akzeptiert hatten, noch einmal das lange Bein ausfuhr, um eine Flanke aus dem Mittelkreis zu verhindern, es sagt eben alles über diesen Typen Müller. Aber was heißt eigentlich, es klappte nicht mit offensiven Aktionen? Beim zweiten Tor löffelte er die vorentscheidende Flanke in den Strafraum auf Kimmich, dessen scharfer Ball in die Mitte schließlich das Eigentor erzwang. Und beim 3:1 war es wieder Müller, der den vorletzten Pass spielte. Dieses Mal auf Gosens, dessen Hereingabe Havertz nutzte. Es waren indes die Höhepunkt seines Spiels, das gelegentlich auch nicht gut abgestimmt mit den Kollegen wirkte.
Und nun? Portugal-Euphorie nach der Frankreich-Ernüchterung? Müller: "Wir hatten viele gute Aspekte, aber auch viele Dinge, die wir noch verbessern müssen. Sowas kann am Ende Punkte kosten. Jetzt haben wir die drei Punkte, jetzt sind wir gut im Turnier und haben es in der eigenen Hand. Jetzt dürfen wir nicht überdrehen und nicht überheblich werden - aber wir dürfen an unsere Qualität glauben. Wir dürfen eine kleine Euphorie spüren." Auch das ist eben Müller, er hat ein Gespür für die Stimmung im Land. Und die ist nun gut.
Quelle: ntv.de