Das Spektakel des Robin Gosens Der Held, den der DFB so dringend brauchte
20.06.2021, 08:07 UhrRobin Gosens liefert in einem enorm wichtigen Länderspiel eine großartige Leistung. Ein Befreiungsschlag zum perfekten Zeitpunkt, auch fürs DFB-Team. Der Mittelfeldspieler ist aus deutscher Sicht die Entdeckung des Turniers.
Nur fünf Minuten dauerte es, da holte, nein, da riss Robin Gosens Fußball-Deutschland aus der DFB-Depression. Nach einer Flanke von Matthias Ginter flog der Außenbahnspieler waagerecht in der Luft liegend mit hochgerissenem linken Bein durch den portugiesischen Strafraum, zwang das Leder über die Linie und löste damit den ersten deutschen Jubeltaumel seit langen, langen Wochen und Monaten aus. Ein Tor, wie es lange kein Nationalspieler mehr geschossen hatte: mit purem Willen, spektakulär, wichtig, erlösend. Allein: Es zählte nicht, der Taumel endete schnell. Aber das Zeichen, es war gesetzt. Auf Deutschlands linker Seite arbeitet einer, der was vorhat. Und dem man das auch ansieht. Das mögen die Menschen.
Und die Menschen wollen ja auch ihre Nationalmannschaft mögen, aber die #diemannschaft machte es ihnen schwer. Der Misserfolg, die Routine, mit der schwache Leistungen wegerklärt werden, die Marketingmaschinerie, die über alle Emotionen hinwegwalzt, das Chaos beim DFB und eben das Personal, das mit all dem belastet ist. Toni Kroos, İlkay Gündoğan, Leroy Sané, es gibt so viele großartige Spieler, denen der eine oder andere Makel anhaftet. Robin Gosens ist von all dem unbelastet, er ist der perfekte Spieler, um die deutschen Fans, die deutsche Fußball-Öffentlichkeit mit der wichtigsten Mannschaft (Selbstverständnis) des Landes zu versöhnen. Und den bleiernen Schleier zu lüften, der bislang auf dieser Europameisterschaft lag.
Mehr als Torgefahr
"Er hat eine richtig gute Partie gespielt. Er ist schon auch kampfbetont. Und was seine Stärke ist: dass er schon auch Torgefahr ausstrahlt", lobte Bundestrainer Joachim Löw seinen Spieler nach dem mitreißenden Spiel. Das Sensationstor, das nicht zählte, zwei Assists und dann doch noch das eigene Tor mit einem Kopfball aus dem Lehrbuch - drei Torbeteiligungen in einem EM-Spiel, das schaffte im DFB-Dress zuletzt Bastian Schweinsteiger. 2008, beim 3:2 gegen Portugal. "Das ist das, was wir brauchen." Der Bundestrainer meinte die Torgefahr, aber sie brauchten genau diesen Robin Gosens noch dringender dafür, um die Mannschaft wieder an die Fans zu rücken.
Als er nach 62 großen Minuten vom Platz ging, feierte ihn das Volk mit Sprechchören, der Held des Abends verneigte sich kurz. Danach sank die Stimmung in der Arena spürbar langsam dem Abpfiff entgegen. Auch, weil die Mannschaft 60 Minuten mitreißenden Fußball geliefert hatte, endlich einmal. Gosens war das Symbol des Befreiungsschlags. "Jetzt sind wir da", jubelte Verteidiger Mats Hummels bei Instagram: "Was für ein geiler Fußballabend mit der Stimmung und dem verdienten Erfolg."
500 Meter von der holländischen Grenze entfernt wuchs der von der UEFA offiziell zum "Star des Spiels" gekürte Gosens auf, sein Vater ist Niederländer. Die sportliche Laufbahn führte Gosens schnurstracks an sämtlichen deutschen Nachwuchsleistungszentren vorbei. Erst mit 17 Jahren wurde er bei einem U17-Spiel seines VfL Rehde entdeckt - von einem holländischen Scout. Wie er in seiner bemerkenswerten Autobiografie "Träumen lohnt sich. Mein etwas anderer Weg zum Fußballprofi." schreibt, rief er seine wohl karriereentscheidende Leistung nach einer langen Nacht ab. "Jetzt muss ich irgendwie versuchen zu kaschieren, dass ich bis sechs Uhr feiern war und noch immer Restalkohol im Blut habe", berichtet er vom Gespräch mit dem Abgesandten von Vitesse Arnheim. "Ich gab mein Bestes und vermied Blickkontakt. Zur Sicherheit atmete ich außerdem in eine andere Richtung. Man kennt das ja. Irgendwie musste ich es tatsächlich geschafft haben, meine Fahne zu verbergen, denn die Einladung zum Probetraining bestand auch nach unserer Verabschiedung." Ja, er ist einer von uns, mag mancher denken.
"Der totale Reinfall"
Gosens wechselte in die U19 von Vitesse Arnheim. Arnheim, Dordrecht und Almelo stehen nach dem VfL Rehde in seiner Vita. Seine ersten Profispiele macht er in der holländischen Erendivisie, 2017 sichert sich Atalanta Bergamo für etwas mehr als eine Million Euro die Dienste des deutschen Linksfußes, der nie in einer Nachwuchsnationalmannschaft spielte - und bis heute keinen Fuß in die Bundesliga setzte. 2011 hatte er mal die Chance, vorzuspielen, vermasselte es aber nach eigenen Angaben: "Ich war bei Borussia Dortmund und hatte vielleicht die Chance meines Lebens, hatte aber so wackelige Beine, dass jeder Pass fünf Meter neben dem Mitspieler landete. Der totale Reinfall." Zum FC Schalke, seinem Lieblingsklub, darf er 2019 nicht wechseln - zu wertvoll ist er da längst für Atalanta.
Und so war er nie Teil des deutschen Fußball-Establishments. Gosens ist unverbraucht, und wenn er das Spiel seines Lebens macht, spricht er im Interview nicht davon, dass er "froh ist, dass er der Mannschaft helfen konnte" oder dass es jetzt wichtig sei, "dass wir uns auf das nächste Spiel fokussieren", sondern sagt: "Kannst du mich mal zwicken? Ich glaube das nicht. Da geht mir einer ab." Solche Ausbrüche, solche Abweichungen von der eingeübten Norm sind im modernen Fußball eigentlich nicht mehr vorgesehen.
Menschen mögen das, mehr als Marketingkampagnen und kluge Sprüche. Und Gosens mag es, große Dinge zu tun. "Es ist geil. Ein Tor zu schießen für die Nationalmannschaft ist immer besonders. Und dann auch noch ein entscheidendes. Da geht mir wiederum einer ab." Und natürlich: "Es ist eine riesengroße Ehre, dass ich Deutschland bei einem Turnier repräsentieren darf." Das sagte er schon vor seinem großen Auftritt. Das hört man gern als Fan, der Identifikationspotenzial sucht. Oder wenigstens eine Projektionsfläche für die eigene Leidenschaft fürs Nationalteam.
Am schnellsten führt der Weg zur Euphorie über das Engagement auf dem Platz. "Die Stimmung gerade bei Länderspielen ist nicht so euphorisch", sagte Thomas Müller hernach. "Aber wenn man so gute offensive Szenen hat, dann kocht der Kessel." Joachim Löw verzichtete gegen Portugal taktisch und auch personell vollständig auf Veränderung. Was sich änderte, waren die Spieler - und die Stimmung. "Heute haben wir auch in der Offensivarbeit nochmal einen draufgepackt. Wir haben alle an einem Strang gezogen und haben uns dieses Spiel heute auch verdient. Die Fans haben gefeiert. Es gab Gesänge im Stadion. Wir haben uns gegenseitig gepusht. Haben uns auch bei Defensivleistungen gepusht. Auch einfach nur eine Grätsche, bei der der Ball auf die Tribüne flog, wurde gefeiert", schwärmte Gosens und sagte dann wieder so eine Gosens-Sache: "Das ist doch affengeil."
Von Ronaldo ignoriert
Aber der Held des Abends ist kein Sprücheklopfer, über den man sich einige Wochen freut und der dann nach dem nächsten Spruch nur noch wohlwollend belächelt wird. Im Gegenteil: Im Frühjahr 2020, als die Corona-Pandemie in seiner sportlichen Heimat Bergamo besonders gnadenlos wütete und für schreckliche Bilder sorgte, berichtete ein sichtlich mitgenommener Robin Gosens von den Zuständen. "Rückblickend war das die schwierigste Zeit meines Lebens", erzählte der Nationalspieler später: "Wenn ich daran denke, dass wir an dem Ort waren, an dem es zu dem Zeitpunkt vielleicht am schlimmsten auf der Welt war, bekomme ich noch immer eine Gänsehaut." Dadurch könne er aber jetzt auch viele Dinge anders wertschätzen.
Kein Schwätzer, sondern ein bodenständiger junger Mann. Der 26-Jährige spielt hauptberuflich auf hohem Niveau Fußball, nebenbei studiert er noch. Psychologie. Dass seine Leistung beim 4:2 gegen Portugal mehr Wert ist als ein kleiner Teil von drei immens wichtigen Punkten, dürfte ihm allerdings auch ohne sein Studium klar sein.
Der Kreis schließt sich an diesem Abend mit einer Gosens-Anekdote, die nach dem vielleicht größten Spiel seiner außergewöhnlichen Karriere noch einmal erzählt werden muss. 2019 war es, als Gosens mit Atalanta Bergamo Juventus Turin aus dem Pokal geschossen hatte. Im Triumph setzte es aber eine Klatsche - und Cristiano Ronaldo war schuld. "Nach dem Spiel gegen Juve versuchte ich, mir einen weiteren Traum zu erfüllen und das Trikot von CR7 abzugreifen. Das wäre ein absolutes Highlight in meiner Sammlung gewesen", schreibt Gosens in seiner Autobiografie.
"Als ich bei ihm angelangt war und fragte: 'Cristiano, can I maybe have your Jersey?', schaute er nicht mal auf, sondern sagte beim Weiterlaufen nur 'No!'. Aua! Ich lief, glaube ich zumindest, komplett rot an und schämte mich sogar für einen kurzen Augenblick." Cristiano Ronaldo, der Weltstar, der EM-Rekordtorschütze, der daheim gottgleich Verehrte, traf gegen Deutschland einmal und bereitete ein Tor vor. Er war an diesem für den deutschen Fußball großen Abend nur eine Randfigur. In den Schatten gestellt von dem Jungen von der holländischen Grenze. Einem, dem Verehrung fremd ist. Ronaldo hat er nicht noch einmal nach dessen Trikot gefragt.
Das Spektakel gegen Portugal war Robin Gosens' erst neuntes Länderspiel. Man glaubt das nicht, wenn man ihn beobachtet. Schon gegen Frankreich gestikulierte er, schimpfte, forderte, wollte. Die Franzosen freilich ließen weniger zu, das DFB-Team blieb da noch chancenlos. Auch, weil der Mut fehlte, die Durchschlagskraft. So wurde das zweite Spiel, dieser Befreiungsschlag, noch größer: "Jedem war klar, was hier auf dem Spiel steht, dass ordentlich Druck auf dem Kessel ist. Das haben wir heute mit Bravour gelöst, haben alles reingehauen. Haben uns belohnt für unseren Spirit heute."
Der Spirit, den sie in ihrem Spiel haben wollen, wird verkörpert durch Robin Gosens. Joachim Löw lobte seinen Spieler. Natürlich, er habe ein "starkes Spiel" gemacht, "kampfbetont". Sein größtes Spiel aber, so sagte der Bundestrainer weise, "sein größtes Spiel hat er noch vor sich". Das ist im Interesse einer ganzen Fußballnation, aber vor allem "scho au" im Interesse des scheidenden Bundestrainers. Affengeil wärs ja schon, noch einmal eine solche Vorstellung zu sehen.
Quelle: ntv.de