
Der jüngste Weltmeister-Trainer seit 44 Jahren: Lionel Scaloni.
(Foto: picture alliance/dpa)
Mit größtmöglicher Kritik startet Argentiniens Fußball-Nationaltrainer Lionel Scaloni in sein Amt, verspottet von Legende Maradona. Ohne Superstar Lionel Messi formt er zunächst eine funktionierende Mannschaft, dann kommt der Weltstar dazu. Am Ende werden sie alle gemeinsam Weltmeister.
Lionel Scaloni hatte es wahrlich nicht leicht. Argentiniens Fußball-Nationaltrainer startete mit einer unvorstellbaren Hypothek in sein Amt. Denn besonders ein Mann war nicht auf seiner Seite: Diego Armando Maradona. Der fertigte ihn vor der gesamten argentinischen Öffentlichkeit ab. Es war das Zitat der Fußball-Legende, das bei dieser Weltmeisterschaft immer wieder ausgegraben wurde. Ex-Profi Scaloni sei zwar ein "großartiger Muchacho", könne aber nicht einmal den Verkehr regeln. "Wie können wir ihm denn die Nationalmannschaft übergeben - sind wir alle verrückt?", fragte Maradona im Jahr 2018.
Wer hätte gedacht, dass Argentinien, vier Jahre nachdem Maradona diese Sätze gesagt hatte, wirklich verrückt werden würde. Und zwar nach der argentinischen Nationalmannschaft. Scaloni und sein Team sorgten dafür, dass am Sonntagabend Hunderttausende feiernde Argentinier die Straßen säumten. Der Triumph im WM-Finale gegen Frankreich (4:2 n. E.) geht berechtigterweise vor allem als der Erfolg von Lionel Messi in die Geschichtsbücher ein, aber auch der 44-jährige Trainer hat daran seinen Anteil.
Dabei liest sich Scalonis Werdegang wirklich nicht wie der einer großen Trainerikone, darauf zielte auch Maradona ab. Der argentinische Nationaltrainer hatte zuvor nie als Chef einen Klub trainiert, geschweige denn eine Nationalmannschaft. Als aktiver Profi war er herumgekommen, heuerte in Spanien, England und Italien an. Bei der WM 2006 spielte er noch selbst an Messis Seite, und schied mit ihm gemeinsam im Berliner Olympiastadion gegen Deutschland in Viertelfinale aus. Später war er Co-Trainer unter Jorge Sampaoli, erst während dessen Amtszeit beim FC Sevilla, dann später Videoanalyst bei der argentinischen Nationalelf.
Aus der Interims- zur Dauerlösung
Doch sein Chef vergeigte die WM 2018 in Russland gehörig. Argentinien flog im Achtelfinale gegen Frankreich (3:4) raus. Damit endete auch Sampaolis Amtszeit, den der Verband für viel Geld zuvor eingekauft hatte. Nun sollte eine preiswertere Lösung her: Lionel Scaloni. Der kam erst für einige Spiele, dann auf Dauer. Mit dem neuen Trainer blieb aber eine alte Sorge. Nach dem frühen WM-Aus ließ Lionel Messi offen, ob er aus der Nationalmannschaft zurücktreten würde.
Daraus entstand ein Problem, dessen sich auch Scaloni und sein Co-Trainer Pablo Aimar, Messi-Fan und selbst Ex-Profi, bewusst waren. Messi kann eine Partie zwar mit einem Geniestreich innerhalb von Sekunden drehen, aber das reicht allein nicht, um eine große Mannschaft zu formen. Diese Fähigkeit zeigte er erst während des umstrittenen Turniers in Katar. Seit 2015 gewann der argentinische Superstar im internationalen Vereinsfußball kaum noch Titel, einzig in den nationalen Wettbewerben von Spanien und Frankreich. Zu weit war der schleichende Niedergang des FC Barcelona fortgeschritten.
Scaloni und sein Co-Trainer Aimar sprachen deshalb im Spätsommer 2018 mit Messi. Im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" erzählte Scaloni, was er ihm gesagt habe: "Leo, wir werden die Selección für diese Spiele übernehmen und wir wollen dich wissen lassen, dass die Türen offen sind - aber dass es vielleicht besser ist, wenn du erst mal nicht kommst." Es sollte zunächst eine funktionierende Mannschaft als Fundament entstehen, erst dann sollte Messi dazukommen.
Lob vom Weggefährten
Es ist dieser Stil, der Scaloni auszeichne, erzählen Weggefährten wie Miroslav Klose. "Er hat einfach dieses Menschliche und diese Wärme, und so, glaube ich, führt er auch Argentinien", sagte der WM-Rekordtorschütze jüngst der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Beide haben von 2011 bis 2013 gemeinsam für den italienischen Erstligisten Lazio Rom gespielt.
In seiner Biografie "Miro" erinnert Klose sich an gemeinsame Restaurantabende mit dem ehemaligen Verteidiger, an Gespräche über Taktik oder Trainingsinhalte. Er habe schon damals tiefer gedacht als ein Spieler, sagte Klose. Scalonis wohl größtes Werk aber ist die Einheit, die er aus Messi und Co. geformt hat. "Wenn man sieht, wie die füreinander einstehen: Das ist genau sein Werk", meinte Klose. In der argentinischen Nationalmannschaft folgten auch die Ergebnisse: Mit einer Serie von 36 Spielen ohne Niederlage ging die Albiceleste ins Turnier. Hinzu kam, dass Scaloni die 28 Jahre währende Titelsehnsucht Argentiniens befriedete und im Sommer 2021 mit einem 1:0-Erfolg über Brasilien die Copa América holte.
Mit viel Rückenwind reiste Scaloni also nach Katar, der Messi mit der Copa schon einen Traum erfüllt hat. Doch dann kamen wieder die Zweifel. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde er doch versagen. Der WM-Auftakt gegen Saudi-Arabien wurde vielleicht zur größten Blamage des Turniers. Argentinien verlor mit 1:2 gegen den katarischen Nachbarn. Es war auch für den Trainer eine große Prüfung.
Der große Triumph
Die Reaktion Scalonis fiel radikal aus. Er stellte um und nahm die jungen Julian Alvarez und Enzo Fernandez ins Team. Beide zahlten das mit starken Einsätzen zurück. Alvarez, die "Spinne" genannt, riss im Sturm die Meter ab, die Messi nicht laufen konnte oder wollte. Der 21-jährige Fernandez, der vor der Abwehrkette immer wieder das Spiel diktierte, wurde später zum jungen Spieler des Turniers gewählt. Ihnen gehört wohl Argentiniens Zukunft.
Im Finale zog Scaloni dann plötzlich Flügelstürmer Angel di Maria aus dem Hut. Vor dem Spiel war unklar, ob er überhaupt spielen könnte. Von seinem Einsatz waren die Franzosen völlig überrumpelt. Der Plan mit dem 34-Jährigen ging voll auf. Di Maria setzte die Seite von Jules Koundé und Ousmane Dembélé ständig unter Druck und überforderte sie. Er, der das WM-Finale 2014 verletzt verpasst hatte, schrieb seine ganz eigene Heldengeschichte. Mit einem seiner Dribblings zog er den Elfmeter, der zum 1:0 führte. Di Maria selbst erzielte das 2:0 nach einem weltmeisterlichen Konter. Und so wäre das WM-Finale nach fast 60 Minuten entschieden gewesen, wenn bei Frankreich nicht dieser spektakulär gute Mbappé gespielt hätte.
Am Ende blieb Scaloni dennoch erfolgreich. Er ist vielleicht der Argentinier, der bei diesem Turnier den wohl undankbarsten Job hatte. Die Mannschaft ist ins Turnier gegangen, um Lionel Messi den großen Traum vom WM-Titel zu erfüllen. Hätte das nicht geklappt, dann wäre das nach all der Kritik, die Scaloni am Anfang bekommen hat, je nach Verlauf auch an seiner Trainerkarriere haften geblieben. Doch ihn stört das wohl nicht, er ist dafür bekannt, dass er immer mit einem Trainingsanzug an der Seite steht. Er ist kein Selbstdarsteller, kein wilder Exzentriker. Am Ende werden die Lobeshymnen nun zu Recht auf den Weltstar Lionel Messi geschrieben, der seine unvollendete Karriere abgerundet hat. Aber es war auch Scaloni, der einen großen Anteil daran hat.
Quelle: ntv.de