Traumtor und Tränen im WM-Finale Messi erleidet "Beinverlust" vor kitschigster Krönung
18.12.2022, 21:38 Uhr Artikel anhörenLionel Messi erlebt eine irre Krönung zum Fußball-König. Als der Kitsch schon vorbereitet ist, zerstört Kylian Mbappé die Show gleich dreifach. Aber Messi hat in dieser Achterbahnfahrt stets eine fulminante Antwort parat und erfüllt ganz Argentinien einen Traum - trotz eines absonderlichen "Beinverlusts".
Es wird dunkel. Eine Lichtshow. Dann kommt er. Der Moment, auf den die halbe Welt gewartet hat. Schon so lange. Der Moment, der eine große Fußballerkarriere neu definiert. Sie in neue Sphären hievt. Als letzter der argentinischen Nationalmannschaft schreitet Lionel Messi langsamen Schrittes auf das Podium. Von den Rängen im Lusail Stadion in Katar hallen laute Sprechchöre, Verneigungen sind zu sehen. Messi bekommt einen traditionellen Mantel über die Schultern geworfen, reibt sich die Hände - und vollfüllt sich und seiner Heimat eine langerfüllten Traum, indem er den WM-Pokal in den Abendhimmel reckt.
Es ist ein Moment, der in die Geschichtsbücher eingeht. Aber nicht nur, weil Messi sich zum ultimativen Fußball-König krönt. Weil es der größte Moment in der herausragenden Karriere eines der besten Fußballer der Welt ist. Sondern, weil der Weg dahin die wildeste Achterbahnfahrt ist, die die WM-Geschichte je in einem Finale erleben darf. Weil die Salbung des Königs so unglaublich dramatisch und am Ende viel zu kitschig gelingt. Bei dieser letzter aller Chancen Messi, in den Fußball-Olymp aufzusteigen.
Es läuft die 64. Minute. Mit 2:0 führt die Albiceleste locker gegen harmlose Franzosen. Alles scheint gemacht für den perfekten Triumph. Für die Krönung von Lionel Messi I. Der Zehner hat dem Spiel seinen Stempel aufgesetzt, ein Tor selbst erzielt und eines eingeleitet. Er dominiert das Spiel einer dominanten argentinischen Elf. Bald wird er das 36,8 Zentimeter große und 6,175 Kilo schwere Stück aus 18-karätigem Gold in Empfang nehmen. Da sind sich vor Ort alle sicher. Messi wird auf eine Stufe mit der Legende Diego Maradona klettern und endlich selbst zur nie vergessenen Ikone der Heimat aufsteigen.
Absonderlicher "Beinverlust" Messis
Aber nicht so schnell. Nicht mit diesem WM-Finale. Nicht mit den urplötzlich erwachenden Franzosen und dem unglaublichen Kylian Mbappé. Wie viel Drama und Tragik kann man in ein Spiel packen? Die Antwort lautet: Ja! Denn als Wirbelwind Ángel di María, der zuvor für mächtig Furore sorgt und einen Traumkonter mit Tor abschließt (dazu gleich mehr), in jener 64. Minute ausgewechselt wird, bekommt das argentinische Spiel einen Bruch. Und das hat auch mit dem späteren König zu tun.
Denn in der 82. Minute erleidet Messi einen absonderlichen "Beinverlust". Das ist immer schlecht im Fußball, der ja hauptsächlich mit Bein und Fuß betrieben wird. Was ist passiert mit dem späteren König? Ein Einbeiniger auf dem Thron? Nein, so schlimm kommt es dann doch nicht. Aber nach dem Anschlusstreffer Mbappés per Elfmeter (Otamendi legt den Frankfurter Kolo Muani), vertändelt der PSG-Star den Ball und wird vorübergehend zur tragischen Figur, weil der gerade erst eingewechselte Kingsley Coman ihm den Ball an der Mittellinie robust, aber fair klaut. Am Strafraum spielt daraufhin Marcus Thuram einen Doppelpass mit Mbappé. Der andere PSG-Stürmer zieht unnachahmlich volley ab - und haut die Kugel humorlos zum 2:2 ins lange Eck. Wow. Die argentinische Zeitung "Clarín" sieht eine "Nationalmannschaft ohne Beine".
Wo ist es hin, das Bein Messis? Er steht am Mittelkreis und muss vor lauter Verzweiflung sogar kurz lachen. Platzt sein Traum auf dramatische Art und Weise? Zum ersten Mal wird es still unter den argentinischen Fans im Lusail. Werden nun die Knie weich, wenn sie überhaupt noch vorhanden sind?
Vorher gibt es etliche Gründe, zu feiern. Messi und Co. zaubern eine Show auf den Finalrasen. Zunächst dribbelt sich Altmeister Di María an Dembélé vorbei. Ein leichter Kontakt reicht, der Argentinier fällt. Und Messi bleibt natürlich cool vom Elfmeterpunkt, verlädt Keeper Hugo Lloris und schiebt unten rechts ein. Er schmeißt sich auf den Boden und feiert sein 12. WM-Tor, seine Mitspieler erdrücken ihren Chef. Ihre Seele. Di María hebt Messi am Ende noch einmal mit einer fast halbminütigen Umarmung in die Luft. Die beiden haben in der Nationalmannschaft viel zusammen durchgemacht und wollen endlich den größten aller Triumphe.
Eines der schönsten Tore der WM-Finalgeschichte
Weiter dirigiert Messi die argentinischen Angriffe, verschafft sich mit seinen Drehungen Räume, wird aber auch nicht sonderlich eng attackiert. Die Albiceleste hat eine ganz andere Körpersprache als Les Bleus, will es viel mehr, sprintet und beißt. Frankreich läuft nur hinterher. Und als Nächstes leitet Boss Messi eines der schönsten Tore der Finalgeschichte ein.
Bei einem Ballverlust geht Frankreich viel zu behäbig ins Gegenpressing und dann legt Argentinien einen Traumkonter hin. Vier direkte Ballkontakte hintereinander hebeln die linke Abwehrseite der aufgerückten Équipe Tricolore aus, jeder Pass ist mit höchster Präzision unter höchstem Druck gespielt. Die Franzosen kommen bei jeder Station einen Schritt zu spät. Das geht so: Nahuel Molina auf Messi, Messi auf Julián Álvarez, der Mann von Manchester City zu Alexis Mac Allister. Und dieser behält die Übersicht für den auf der anderen Seite heranrauschenden Di María, der zum 2:0 vollendet.
Was für ein Traumtor. Und das im WM-Finale. Es läuft die 36. Minute und der Torschütze weint bereits. Vor Freude. Seine Hereinnahme wird zum Geniestreich von Trainer Lionel Scaloni, weil Frankreich sich viel zu sehr auf Messis rechte Seite konzentriert. Fast das ganze Stadion tanzt sich in einen wilden Rausch. Vor und nach der Pause hat Argentinien gegen weiterhin harmlose Franzosen gute Chancen, die Führung auszubauen. Diese werden zwar liegengelassen, aber wen kümmert's? Das Spiel ist eh eingetütet. Die Krone für Messi ist zum Greifen nah.
Mbappé zerstört den Messi-Kitsch
Denkste. Mbappé dreht mit seinem furiosen Doppelpack auf. Aber Messi wäre nicht Messi, wenn er tief in der Verlängerung darauf nicht eine Antwort parat hätte. Urplötzlich seine Beine wiederfindet. In der 109. Minute leitet er einen Schuss von Lautaro Martinez selbst ein, und steht dann beim Abpraller goldrichtig. Sein Nachsetzen aus kurzer Distanz wird erst hinter der Linie geklärt. Er sinkt auf die Knie, peitscht die Fans in der Kurve an, reckt die Arme immer wieder in den Himmel. Natürlich wird ER zum Helden. Natürlich nimmt er seine eigene kitschige Krönung selbst vor. Wie hätte es anders kommen sollen? Sein goldener Moment. Unglaublich.
Halt. Nicht so schnell. Wieder muss Messi seinen Gang auf den Thron abbrechen. Mbappé haut bei einem Handelfmeter nur neun Minuten später den Ball zum dritten Mal ins Netz. Das wohl verrückteste Finale der WM-Geschichte bringt alle aus der Fassung. Die Argentinier schlagen die Hände über dem Kopf zusammen? Di María weint wieder auf der Bank. Was soll man da noch schreiben?
Doch wie gegen die Niederlande beweisen Messi und sein Team, dass sie beißen können. Dass sie zwar immer mal einbrechen, aber immer wieder bravourös aufstehen. Und so schreitet der argentinische Kapitän als erster zum Punkt beim Elfmeterschießen. Er trifft, Frankreich versagen mehrfach die Nerven - und der Rest ist dann wirklich Geschichte.
Ein "Traum" wird Wirklichkeit
Messi geht nach dem finalen Treffer am Mittelkreis in die Knie. Es folgen herzliche, minutenlange Umarmungen und Tränen mit seinen Mitspielern. Sie erleben eine Mischung aus purer Freude und Unglauben nach diesem wilden Ritt. Dann fällt die ganze Last ab, eine Tanzeinlage jagt die nächste. Messi bekommt das Stadionmikro gereicht: "Auf geht's Argentinien", ruft er den lauten Sprechchören entgegen. In der Heimat jubeln Tausende auf den Straßen, das gespaltene Land vereint sich wenigstens kurz im kollektiven Fußballrausch und vergisst Korruptionsskandale und Politik.
Der Traum einer ganzen Nation ist wahr geworden. Endlich. Nach 36 Jahren ist Argentinien wieder Weltmeister. Wie 1986 Maradona hievt Messi als bester Spieler des Turniers seine Mannschaft mit großen Momenten auf den Thron. Messi nutzt seine letzte Chance und komplettiert seine Laufbahn, die ihresgleichen sucht. Der kleine Argentinier feiert die persönliche Krönung. Sowie die Krönung einer sensationellen Auferstehung der Albiceleste im Lauf des Turniers nach dem Schock im ersten Spiel gegen Saudi-Arabien.
Steigt Lionel Messi damit zum Besten aller Zeiten auf? Ist er nun besser als Cristiano Ronaldo, der "nur" eine Europameisterschaft mit der Nationalelf gewinnen konnte? Diese Debatten sind müßig und sollen in den Kommentarspalten der Sozialen Medien geklärt werden. "Eso es un sueño", steht auf einem Plakat in der argentinischen Kurve geschrieben. Dies ist ein Traum. Nun ist er Wirklichkeit. Für Messi. Für ganz Argentinien. Ein Moment, der in die Geschichte eingeht. Trotz kurzzeitigem "Beinverlust".
Quelle: ntv.de