Nagelsmann-Debüt im Schnellcheck Aus fliegenden Holzfällern entsteht neue DFB-Spaßmaschine
14.10.2023, 23:56 Uhr
Seit Jahren ist der DFB am Boden. Alles ist dunkel, alles ist negativ. Niemand kann die DFB-Elf retten. Sie stolpert von Tiefpunkt zu Tiefpunkt. Dann kommt Julian Nagelsmann, wird Bundestrainer. Nach seinem 3:1 zum Debüt sprechen plötzlich alle das Wort "Spaß" aus. Es war im DFB-Umfeld ausgestorben.
Was ist da eigentlich im Pratt & Whitney Stadium in Hartford passiert?
"Unsere Spiele erzeugen die Aufbruchstimmung. Aber erst gewinnen, und dann Stimmung. Keine Stimmung ohne Siege", formulierte Thomas Müller die Situation rund um die deutsche Fußball-Nationalmannschaft genau acht Monate vor dem Eröffnungsspiel der Heim-Europameisterschaft im kommenden Jahr. Das mit den Siegen war beim DFB-Team in den letzten Monaten ein Problem. Es war so groß geworden, dass Hansi Flick den Bundestrainerposten räumen musste.
Nachfolger Julian Nagelsmann muss nun für Siege sorgen. Und eben die Stimmung. Dafür hat Nagelsmann für seine Premiere gegen die USA einen Kader zusammengestellt, der ganz genau auf jenes Turnier genäht ist: Mit 28,5 Jahren im Durchschnitt ist es der älteste Kader seit der bleiernen Ära von Erich Ribbeck irgendwann rund um die Jahrtausendwende. Kein Bundestrainer schickte seit 1963 bei seiner Premiere je eine ältere Startelf (28,97 Jahre) aufs Feld als Nagelsmann in Hartford.
Mit Rückkehrer Mats Hummels, des ewigen Thomas Müller oder dem 32-jährigen Neuling Kevin Behrens hat der Neue ein paar Spieler geholt, die - ohne zu despektierlich zu sein - eher nicht zur ferneren Zukunft des DFB-Teams gehören werden. Nagelsmann hat acht Monate und nur noch eine Handvoll Spiele zur Verfügung, um nach drei desaströsen Turnieren endlich wieder mal eine international ernstzunehmende deutsche Fußball-Nationalmannschaft hinzustellen.
Der erste Schritt ist gegangen, hier im Pratt & Whitney Stadium in Hartford. Das DFB-Team schlug die USA mit 3:1 (1:1) und sorgt damit für gute Stimmung. Auf einen Rückstand reagierte Nagelsmanns Ensemble stark, in der zweiten Hälfte bespielte man die US-Amerikaner phasenweise überlegen. "Das ist das wichtigste Thema, um eine gute Stimmung zu bekommen. Im Fußball ist es immer so, wenn du gewonnen hast, war alles, was du davor getan hast, gut", hatte Nagelsmann selbst zum Thema Stimmung gesagt. Alles gut also für den Moment.
Wie ist Julian Nagelsmann eigentlich nach Hartford geraten?
"Far away in America" war das letzte Lied einer DFB-Nationalmannschaft. Gemeinsam mit den Village People träumten sie von der Titelverteidigung bei der WM 1994. Doch das Aus kam am 10. Juli 1994 im Giants Stadium in Rutherford. Jordan Letschkow stieg in der 78. Minute hoch, Thomas Häßler kam nicht mehr hin. Bulgarien 2 Deutschland 1. Nach dem Viertelfinale ging es heim. Die Nationalmannschaft nahm nie wieder eine Single zur WM auf. Berti Vogts blieb Bundestrainer, zwei Jahre später gewann Deutschland die Europameisterschaft 1996 in England. Seitdem blieb die DFB-Elf auf kontinentaler Ebene ohne Titel.
Alles sollte sich ändern im Jahr 2024. Die Heim-Europameisterschaft soll nicht nur ein neues Sommermärchen werden, sondern den Fall der Nationalmannschaft seit dem WM-Titel 2014 in Rio endlich stoppen. Das große Ziel aber ist seit einiger Zeit in Gefahr. Weltmeistertrainer Joachim Löw musste gehen, Hansi Flick kam als Allesgewinner vom FC Bayern München und wurde schnell zum Allesverlierer. Er wurde zum Sinnbild für drögen Fußball, für ewiges Lamentieren, für das Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit.
Mit der auf Amazon ausgestrahlten WM-Doku und einer Pleite gegen Japan in Wolfsburg ging seine Zeit zu Ende. Der einst mächtige Bundesadler auf der Brust war zu einer orientierungslosen Graugans geschrumpft. Plötzlich stand Rudi Völler an der Seitenlinie. Der hatte 1994 gegen Bulgarien das letzte seiner 54 Länderspiele gemacht, war von 2000 bis 2004 schon einmal Bundestrainer und gewann auf einmal auch gegen Frankreich.
Doch Völler, erst im Februar 2023 aus dem Ruhestand zum DFB zurückgekehrt, wollte nicht und so kam im Rahmen einer fast schon nationalen Anstrengung das einstige Trainer-Wunderkind Julian Nagelsmann aus dem Exil. Er war im März bei den Bayern vom Hof gejagt worden und hatte seitdem auf ein richtiges Angebot gewartet. Er bekam das größte. Die Nationalmannschaft durch das Heim-Turnier führen. "Das hört sich jetzt nicht so schlecht an", sagte er vor seinem Debüt gegen die USA über seine neue Berufsbezeichnung "Bundestrainer". Er stand im Pratt & Whitney Stadium in Hartford, keine drei Autostunden entfernt vom Ort des Desasters im Jahr 1994. Damals war ein Aus im WM-Viertelfinale eine Katastrophe, jetzt träumt der DFB nach den katastrophalen letzten WM-Turnieren in Russland und Katar von einem WM-Viertelfinale. Julian Nagelsmann soll dieses Comeback möglich machen.
Wie konnte die DFB-Elf einen Rückstand drehen?
Nicht nur Lothar Matthäus war begeistert. Zum erst zweiten Mal starteten Jamal Musiala und Florian Wirtz gemeinsam ein Spiel der Nationalmannschaft. "Das sind Künstler. Ich freue mich wahnsinnig", sagte der RTL-Experte vor dem Spiel über das neue DFB-Duo in der Zentrale. Matthäus liebt den schönen Fußball und die beiden aktuell größten Versprechen der Nationalmannschaft gefallen ihm deswegen natürlich.
Aber Musiala und Wirtz bildeten natürlich eine Ausnahme. Schon bei der Nominierung war klar geworden: Nagelsmann begreift seinen Job so, wie er ihm in der Stellenausschreibung präsentiert wurde. Erst einmal um die Europameisterschaft kümmern – mit Erfahrung. Insgesamt sechs Ü30-Spieler standen in Hartford in der Startelf. Ihr Alter war ihnen erst nicht anzumerken. Sie pressten hoch, gewannen Bälle, profitierten von der Spielfreude von Wirtz und Musiala, und natürlich Leroy Sané.

Niclas Füllkrug (m.) jubelt nach seinem Tor zum 2:1. Ilkay Gündogan und Jamal Musiala trafen auch. Mats Hummels grätschte.
(Foto: IMAGO/Schüler)
"Wir müssen uns in der Defensive helfen", hatte Nagelsmann vor dem Spiel gesagt. Er forderte Toni Rüdiger, Mats Hummels und Jonathan Tah auf, miteinander zu sprechen. Dazu blieb in der 27. Minute keine Zeit. Der ehemalige BVB-Spieler Christian Pulisic zog das Trio auf sich und spazierte durch. Es war die kurzzeitige Rückkehr der Orientierungslosigkeit. Rüdiger verpasste es noch, Pulisic zu stören, der zirkelte aufs lange Eck und traf. Nagelsmann hatte genau davor gewarnt und auch Gelassenheit gefordert.
Nicht alles werde sofort funktionieren. So war es dann auch. Den Ball zum 1:1 durch Gündogan trugen sie in der 39. Minute noch ins Tor. Es blieb erst häufig bei Einzelaktionen, Musiala lief sich häufig fest, Wirtz fehlte die letzte Sicherheit, Linksverteidiger Robin Gosens schob oft wie gewünscht hoch, fehlte dann hinten in der Defensive. Bis zum 2:1 in der 58. Minute. Da klickte es. Gosens stand hoch und richtig, Füllkrug traf souverän. Sein achter Treffer im zehnten Länderspiel. Musiala wirbelte wieder. Das Spiel lebte und der Bayern-Star traf. Die Nationalmannschaft hatte ein Spiel gedreht. Und wie: Gelassen und zielstrebig, fokussiert und wenig panisch. Das Selbstvertrauen ist zurück. Lothar Matthäus hatte schon wieder jeden Grund, begeistert zu sein. "Das Spiel hat mich erwärmt", sagte er nach dem Spiel: "Das hat mir Freude gemacht."
Was nehmen wir jetzt aus dem Spiel mit?
Spaß! Die Leichtigkeit ist zurück im deutschen Spiel. Konnte der Erfolg gegen Frankreich beinahe noch als Geschenk des französischen Nationaltrainers Didier Deschamps an seinen alten Freund Rudi Völler gewertet werden, war dieser Comeback-Sieg in den USA von anderer Qualität. Die Behäbigkeit der Flick-Tage war verschwunden und auch das Glück kehrte zurück. Die DFB-Elf, so platt es klingt, hatte es sich erarbeitet. Sie hatte den Rückstand durch Pulisic als Einladung begriffen, sich zu wehren und nicht zu ergeben. Sie war immer präsent.
Das Fehlen von Joshua Kimmich ermöglichte Nagelsmann, ohne große Störgeräusche Pascal Groß in die Startelf mogeln. Der 32-Jährige aus der Premier League dankte es ihm - mit seinem exzellenten Passspiel, mit einigen guten Aktionen in der Offensive und als Abräumer im Mittelfeld. Er war in beiden Strafräumen zu finden und schloss unermüdlich die einst klaffenden Löcher in der Zentrale. Die USA kamen kaum zu Umschaltmomenten, wurden auf die Außen getrieben.
Groß war das Stoppschild, das dem Team lange fehlte und vorne trieben Sané, Wirtz, Musiala und Füllkrug ihr Unwesen. Sie stellten ihre Gegner mit ihrer Unnachgiebigkeit vor zu viele Aufgaben. Die konnten diese schlichtweg nicht alle lösen. Die Suche nach dem perfekten Spiel geht weiter, eine Antwort darauf hatte zu diesem Zeitpunkt ohnehin niemand erwartet. In genau acht Monaten, beim ersten EM-Spiel, muss die Nationalmannschaft da sein. Sein erstes Versprechen hat Bundestrainer Nagelsmann jedoch eingelöst. "Ich bin guter Dinge, dass wir das Spiel genießen können", hatte er vor dem Spiel gesagt. So war es dann auch.
Was trug eigentlich der immer modebewusste Bundestrainer?
Julian Nagelsmann hatte im hohen Norden der USA das Holzfällerhemd ausgepackt und Mats Hummels das wohl als Handlungsempfehlung gesehen. Der 34-jährige Rückkehrer begriff es zumindest als Einladung für etwas, was man im besten Fall eine Heldengrätsche nennt und im schlechtesten Fall jedoch eine Rote Karte nach sich zieht.
Der ehemalige Barcelona-Spieler Sergino Dest war in der 44. Minute auf der linken Angriffsseite enteilt, der Dortmunder Rekordspieler (207 Bundesliga-Siege) sprang und zielte in Richtung Ball. Der aber war lange weg. Anstatt den Ball mit dem linken Bein zu sichern, räumte Hummels den 22-jährigen US-Nationalspieler ab. Der flog und flog und landete. Schiedsrichter Fernando Guerrero beließ es recht überraschend bei einer Gelben Karte. Julian Nagelsmann rückte sein Holzfällerhemd zurecht.
Ist Hartford nun endgültig ein magischer Ort des deutschen Sports?
Es ist der 24. Juli 1987, als Boris Becker in Hartford ein Stückchen deutsche Sportgeschichte schreibt: In einem Monument von Tennismatch ringt der damals 18-Jährige den großen John McEnroe nieder: 4:6, 15:13, 8:10, 6:2, 6:2 heißt es nach ewigen 6 Stunden und 39 Minuten für den Deutschen im zweiten Einzel einer legendären Davis-Cup-Begegnung. "Der Tag ist rum", verabschieden sich die Kommentatoren. Als Becker den Matchball verwandelt, ist in Deutschland die Sonne schon wieder aufgegangen.
Nun, 36 Jahre später, kehrt der deutsche Sport nach Hartford zurück. Und nun entlässt er die Deutschen in die Nacht. Wieder mit einem Sieg, wieder nach Rückstand. Aber anders als der Tennis-"Krieg", wie Becker sein Duell nannte, wird das Nagelsmann-Debüt in 36 Jahren wohl längst vergessen sein. Es sei denn, dieses Debüt ist der Ausgangspunkt von etwas Großem. Einem EM-Titel zum Beispiel. Man wird sehen.
Die Stimmen zum Spiel
Mats Hummels (Rückkehrer): "Es hat unheimlich viel Spaß gemacht. Der Schlüssel war unser Ballbesitz. Da hatten wir in der ersten Halbzeit ein paar fahrlässige Ballverluste. In der zweiten Halbzeit waren wir viel sicherer."
Julian Nagelsmann (Debütant): "Wir sind sehr gut zurückgekommen nach dem Rückstand. Das war nach den letzten Monaten und dem Rückstand nicht so einfach. Fußballerisch war es sehr gut. Wir haben jetzt nicht nur den Sieg zusammengewürgt. Das war heute ein sehr guter Schritt."
Quelle: ntv.de