Wilde Verrenkung für Harry Kane Der FC Bayern geht gegen die eigene Angst "All-in"
12.08.2023, 13:20 Uhr
Der FC Bayern stemmt den größten Deal seiner Vereinsgeschichte und verpflichtet Harry Kane. Am Ende steht der erste 100-Millionen-Euro-Zugang der Bundesliga-Geschichte. In einem zermürbenden Theater lernen die Münchner die harte Realität am Transfermarkt kennen.
Die wilde Entschlossenheit des FC Bayern München zahlt sich (teuer) aus: Nach zähen, nein, nach zermürbenden Verhandlungen wechselt Starstürmer Harry Kane für 100 Millionen Euro plus Bonuszahlungen nach München. So aberwitzig viel Geld hat der Rekordmeister noch nie für einen Fußballer in die Hand genommen. Und die Bosse des Bundesliga-Krösus haben sich in ihrer unnachgiebigen Sehnsucht nach einem Statement-Transfer auch auf bisher unbekanntes Terrain begeben. "Wir haben uns natürlich nach der Decke gestreckt. Wir sind da ein Stückchen All-in gegangen", kommentierte Vorstandsboss Jan-Christian Dreesen den Deal - und schob nach: "Aber natürlich immer in einem Rahmen der wirtschaftlichen Vernunft."
An solch einen Giganten-Transfer in einem solch überhitzten Umfeld hatten sie sich bislang noch nicht gewagt. Die Münchner wurden in den Pokerrunden mit der knallharten Realität des neuen Transfermarkts und seinen mächtigen Playern konfrontiert. Mittlerweile können sogar Vereine, die der FC Bayern vom eigenen Verständnis her hinter sich sieht, den Rekordmeister an sein Limit treiben. Völlig neue Späße im Werben um Wunschspieler. Und dennoch steht am Ende der teuerste Einkauf der 60-jährigen Liga-Geschichte. Eine historische, finanzielle Verrenkung, die gigantische Hoffnung weckt, die aber auch eine gigantische Fallhöhe erzeugt.
Überwiesen wird die Rekordsumme an den englischen Verein Tottenham Hotspur. Gerne hätte der Premier-League-Verein den Spieler behalten, doch Kapitän Kane wollte seinen im nächsten Sommer auslaufenden Vertrag nicht verlängern. Ein ablösefreier Abgang wäre dann möglich gewesen - aber für Tottenham noch unattraktiver als ein sofortiger Abgang des 30-Jährigen. Spurs-Eigner Joe Lewis soll Klubboss Daniel Levy deshalb angewiesen haben, Kane unbedingt jetzt zu verkaufen. Wie ein Terrier hatten sich die Münchner in die Wade der Hotspur gebissen und erst wieder losgelassen, als die unter Schmerzen eingeknickt waren. Unter Schmerzen, weil zwar reichlich Geld da ist, aber Integration, Mentalität, ein Teil der eigenen Erfolgsgeschichte und (noch) Ersatz fehlen.
"Kane ist definitiv ein hochattraktiver Spieler, er würde sowohl uns als auch der Bundesliga guttun", schwärmte Bayern-Präsident Herbert Hainer vor ein paar Tagen. Michael Reschke, früherer Technischer Direktor der Bayern, bezeichnete Kane in der "Süddeutschen Zeitung" als "eine Vollgranate". Er gehöre "unter den Stürmern der Welt zu den Top Drei: Es gibt Haaland, Mbappé und Kane. Das war's." Englands Ikone Gary Lineker befand in der "Sport Bild": Ein Spieler wie Kane "kann Bayern viel Erfolg bringen. Kane würde Lewandowski qualitativ und in Sachen Toren auf jeden Fall ersetzen. Durch ihn würden Bayerns Chancen auf die Champions League erheblich ansteigen. Kane macht dich gleich zu einem Favoriten auf den Titel."
Schließt sich die Lewandowski-Lücke nun?
Im zweiten Sommer in Folge verpflichten die Münchner einen internationalen Topstar, einen Weltklassemann. Und mit Kane soll und muss jetzt alles besser laufen als mit dem traurig und einsam weitergezogenen Sadio Mané, der 2022 vom FC Liverpool kam. Vor wenigen Tagen wurde sein Wechsel nach Saudi-Arabien bekannt gegeben. Er spielt jetzt an der Seite von Ex-Weltfußballer Cristiano Ronaldo bei Al-Nassr. In München hat er sportlich kaum Spuren hinterlassen. In Erinnerung bleibt er als verzweifelter Star, der Leroy Sané in der Kabine eine schmierte. Was die Transfers der beiden Stars unterscheidet: (a) Liverpool war bereit Mané ziehen zu lassen, Tottenham war es bei Kane nicht und (b) die Ablöse für Mané war im Prinzip ja bloß ein Bruchteil derer, die für den englischen Superstar jetzt aufgerufen wurde.
Im zweiten Jahr in Folge hegt der FC Bayern die Hoffnung, das größte Problem im Kader ausgemerzt zu haben. Kane soll das Sturmzentrum besetzen mit seiner Weltklasse besetzen. Lewandowskis ehemaliger Backup Eric Maxim Choupo-Moting gehört nicht in diese Kategorie und arbeitet nach Kniebeschwerden am Comeback.
Mit einem Jahr Verspätung soll in der vordersten Linie wieder ein Mann stehen, der Tor um Tor liefert. Wie es zuvor Robert Lewandowski zuverlässig getan hatte, der sich im Mané-Sommer zum FC Barcelona weggestresst hatte. Im Schatten der absurden und maßlosen Transferoffensive der saudischen Großklubs, geflutet von Milliarden aus dem eigenen Staatsfonds, ist Kane der bislang Aufsehen erregendste Transfer des Sommers. Er soll dem Rekordmeister in der Bundesliga wieder zu jener Souveränität verhelfen, mit der er die vergangenen Jahre, mit Ausnahme der Spielzeit 2022/23, bestritten hatte.
Noch wichtiger: Mit den Kane-Treffern wollen sich die Münchner in die europäische Spitze zurückkatapultieren. Aus jener hatte sich der Verein im Wettstreit mit Oligarchen-Klubs und Staaten zuletzt Schritt für Schritt entfernt. Eine große Angst des Klubs, der immer den Anspruch hat, ein Schwergewicht im europäischen Verein zu bleiben. Die Gewichte haben sich verschoben. Nicht mehr ein elitärer Kreis buhlt um die Topspieler, sondern auf breiter Front wird nun mit wilden Summen um sich geworfen, die für die Bundesliga noch immer eine andere Welt, eine andere Galaxie sind. Vor allem in England, wo die Gelder aus den TV-Verträgen alles enthemmt, alles neu sortiert haben. Wie gravierend die Unterschiede mittlerweile sind, hatte Bayerns wieder ins Amt berufenes Alphatier Karl-Heinz Rummenigge gerade erst vehement beklagt: "Die Premier League treibt uns in den Wahnsinn."
Dafür, für Kane und gegen die große Sorge, den Anschluss auf längere bis lange Sicht an die europäische Spitze zu verlieren, brechen die Münchner mit eigenen Überzeugungen.
Hoeneß fand Kane-Transfer "völlig gaga"
Am Nerven zerfetzenden Poker um den englischen Superstar lässt sich das bestens nachverfolgen. Noch Anfang März, als die Gerüchte um einen möglichen Transfer, in der sich zuspitzenden Rückrunden-Krise des Klubs, immer wilder diskutiert wurden, sagte Uli Hoeneß: "Harry Kane ist ein super Spieler, gar keine Frage. Aber das ist ein Geld, das zahle ich nicht". Er fand die Vorstellung des Transfers sogar "völlig gaga". Damals war Hoeneß Ehrenpräsident, der Schatten-Patriarch. Nach wilden Turbulenzen im Saisonfinale und dem Rauswurf von Klubboss Oliver Kahn und Sportvorstand Hasan Salihamidžić ist Hoeneß nun wieder offiziell ein mächtiger Beschützer seines Vereins - und mitverantwortlich für den Umbau, den Thomas Tuchel als Trainer gestalten soll.
Der wünscht sich zwar vor allem einen neuen, defensiven Sechser. Der englische Nationalspieler Declan Rice war zum Wunschziel auserkoren. Tuchel soll sogar persönlich beim 24-Jährigen vorgesprochen haben, zustande kam der Transfer aber nicht. Rice ging für rund 117 Millionen Euro von West Ham United zum FC Arsenal. Und Tuchel sucht weiter, nicht verzweifelt, aber wachsam. Joshua Kimmich untermauert derweil seine Rolle als Sechser und Hoeneß sieht keinen Bedarf. An Neuzugang Konrad Laimer werde man schließlich viel Freude haben. Tatsächlich ist es so, dass auch die Bayern trotz ihrer betont guten wirtschaftlichen Lage nicht zwei Mega-Transfers stemmen könnten. Das ist eben der große Unterschied zu den anderen europäischen Giganten. Und so ging die Personalie Kane vor. Tuchel bemühte sich indes, jene Dissens-Debatte abzuwürgen. Es gebe einen wichtigen Austausch. Dass sich andere Entscheidung aufstauten? Auch (noch) kein Dissens-Thema.
Alles für Kane: Ende Juni soll das erste Angebot vorgelegt worden sein. 70 Millionen Euro. Tottenham lehnte ab. Medienberichten zufolge blitzten die Bayern auch knapp zwei Wochen später mit einem zweiten Angebot über 80 Millionen Euro plus Boni ab. Tottenhams Boss Daniel Levy pochte weiter auf eine Summe über 100 Millionen Euro. Mit Juli verwirft Hoeneß sein Geschwätz vom März: Im Trainingslager an "seinem" Tegernsee, bekennt er: Kane habe "ganz klar signalisiert, dass seine Entscheidung steht. Und wenn die bleibt, dann kriegen wir ihn". Dann werde Tottenham "einknicken" müssen. Seinen Poker-Partner Levy lobt er: "Er ist ein ausgebuffter, super Profi. Ich schätze ihn sehr. Auf der anderen Seite sind wir auch nicht Leute, die das seit gestern machen."
Paradies für einen Strafraumstürmer
Für den Superstürmer, der nicht nur Tore schießen kann, der auch den Ball exzellent behauptet, das Spiel seines Teams aus dem Mittelfeld antreiben und seine Kollegen vorbildlich einsetzen kann, haben die Münchner ein nie dagewesenes Paket über angeblich knapp 220 Millionen Euro geschnürt; 116 als Ablöse, und noch mal 100 als Gehaltskosten für vier Vertragsjahre. Wenn der - wie Lewandowski - kaum bis gar nicht verletzte Kane wie in England als Torgarant und auch als jener Mentalitätsspieler (eine Qualität, die die Münchner in der vergangenen Saison, nicht nur bei Mané vermisst hatten), als der er bekannt ist, funktioniert, könnte der 30-Jährige die hohen Kosten quasi selbst wieder einspielen. Über Merchandising-Artikel und über die sportlichen Erfolge. Ein ersehntes Halbfinale in der Champions League bringt alleine 15 Millionen Euro ein, ein noch dringender ersehnter Finaleinzug sogar das Doppelte. In Jamal Musiala, Leroy Sané, Kingsley Coman und Thomas Müller verfügen die Bayern über viele herausragende Vorlagengeber. Paradiesische Voraussetzungen für einen echten Strafraumstürmer.
Bis 2028 soll er bleiben, fünf Jahre (!). Die Bayern gehen All-In. Angesichts dieses Pakets gibt es keine Zeit für Warmlaufen, der Plan mit Kane duldet keinen Plan B. Auf der Suche nach einem Weg, den FC Bayern wieder so wettkampfhart zu bekommen, dass mindestens die nationalen Ziele nicht abermals in Gefahr geraten, ist Kane der Schlüssel. Die Dimension Lewandowski ist die, in der auch der neue Weltklassemann verortet wird. Der hatte in seinen letzten drei Bundesliga-Saisons 110 (!) Tore erzielt. Eine Lebensversicherung. Eine günstige im Vergleich zu Kane. Was für eine Fallhöhe. Formschwächen? Kaum zu tolerieren. Verletzungen? Noch viel weniger. Ein, gemessen am Investment, gigantisches Risiko. Die Bayern sind bereit, es einzugehen.
Drei Wochen später, drei Wochen nach dem Hoeneß'schen Sinneswandel, nach weiteren Verhandlungsrunden und einer angeblichen Deadline der Münchner, legte der FC Bayern das finale Blatt auf den Tisch, 100 Millionen Euro plus Boni. Tottenham schlägt endlich ein. Kane kommt. Er kommt mit der Empfehlung von 280 Toren und 64 Vorlagen in 435 Spielen. Ein Topstar.
Quelle: ntv.de