Harte Realität beim FC Bayern Thomas Tuchels verzweifelter Blick nach England
09.08.2023, 16:17 Uhr
Hat beim Blick nach Verstärkungen für den FC Bayern vor allem die Premier League im Blick: Thomas Tuchel.
(Foto: IMAGO/Propaganda Photo)
Eine Saison wie die vergangene möchte der FC Bayern nicht nochmal erleben. In Europa war wieder (zu) früh Schluss und die Meisterschaft wurde nur dank eines Dortmunder Geschenks eingefahren. Der Kader soll erfolgreich umgebaut werden - doch das klappt nicht wie gewünscht.
Man bekommt Thomas Tuchel aus der Premier League (auch wenn das überraschend war), aber man bekommt die Premier League offenbar nicht aus Thomas Tuchel. Auf der Suche nach einem Weg, den FC Bayern wieder so wettkampfhart zu bekommen, dass mindestens die nationalen Ziele nicht abermals in Gefahr geraten, blickt der Coach nach England. In jene Liga, die trotz der gigantischen Saudi-Offensive noch immer als die beste der Welt ausgemacht wird. Keine schlechte Idee also. Das Problem: Bislang perlt er mit seinen Ideen rigoros ab.
Mag sein, dass das Gerücht um Mason Mount, der mittlerweile von Tuchels Ex-Klub FC Chelsea zu Manchester United gewechselt ist, noch eine Luftnummer war. Aber andere gescheiterte Transfervorhaben waren es sicher nicht. Rechtsverteidiger Kyle Walker war gefühlt schon vor den Toren von München, eher Manchester City sein Arbeitspapier so aufhübschte, dass die Arbeiterstadtromantik mehr Reiz ausübte als die Nähe zum Alpenidyll. Besonders bitter: Walker hätte Benjamin Pavard ersetzen sollen, der den Klub unbedingt verlassen will und sich derzeit sehr um einen Wechsel zu Manchester United bemühen soll. Baustellengefahr!
Bei Declan Rice soll Tuchel sogar persönlich intensiv vorgesprochen und geworben haben, um ihn für den FC Bayern erwärmen zu können. Der 24-Jährige hätte die Sehnsucht des Trainers nach einem defensiv denkenden Sechser erfüllt. Einer "Holding Six", einem Schutzpatron vor der Abwehr. Den sucht Tuchel nämlich - bis heute. Rice zog das Angebot des FC Arsenal vor. Fraglich ohnehin, ob die Münchner die 116 Millionen Euro hätten aufbringen wollen.
"Premier League treibt uns in den Wahnsinn"
Wohl eher nicht. Transfers in dieser Größenordnung sind für den Rekordmeister noch immer ein aberwitziger Kraftakt. Bestens zu beobachten am Beispiel von Starstürmer Harry Kane, um den es mit Tottenhams knallhartem Boss Daniel Levy einen zermürbenden Poker gibt. Die Bundesliga, das ist selbst für den lokalen Krösus FC Bayern noch immer das Land der begrenzten Möglichkeiten. Die Premier League ist es längst nicht mehr. Und das gilt nicht alleine für Klubs aus dem obersten Drittel. So konnte Aston Villa vor ein paar Wochen einfach mal so 55 Millionen Euro für den Leverkusener Moussa Diaby aus dem Ärmel schütteln. Die TV-Gelder machen es möglich. Der deutsche Fußball ist abgehängt.
Wie gravierend die Unterschiede mittlerweile sind, hatte Bayerns wieder ins Amt berufenes Alphatier Karl-Heinz Rummenigge gerade erst vehement beklagt: "Die Premier League treibt uns in den Wahnsinn." Deren Verträge für die Auslandsvermarktung bringen derzeit für drei Spielzeiten 5,3 Milliarden Pfund ein, also umgerechnet rund 2,05 Milliarden Euro pro Saison. Die Premier League kassiert mehr als das Zehnfache im Vergleich zur Bundesliga. Rummenigges vernichtendes Urteil: "Wir sind katastrophal aufgestellt in der Auslands-TV-Vermarktung."
Der FC Bayern möchte diesen Status nicht akzeptieren. Die angestrebte Verpflichtung von Kane soll nicht nur eine Korrektur des größten Kader-Versäumnis des vergangenen Sommers sein, sondern vor allem auch ein Statement an die internationale Konkurrenz: Seht her, wenn wir wollen, dann können wir auch. Mit dem 30-Jährigen soll die Fähigkeit, im Kampf um den Champions-League-Titel wieder ein kraftstrotzender Herausforderer zu sein, wieder hergestellt werden. Es ist ein Duell mit harten Bandagen, das weder die Münchner, noch Tuchel so kennen. Die Münchner nicht, weil sie umworbene Spieler der nationalen Konkurrenz fast immer bekamen, und sich international noch nie an solch ein Kaliber in einem solch überhitzten Umfeld gewagt haben.
Geld war bestenfalls zweitrangig
Und Tuchel nicht, weil er schon zweimal den grenzenlosen Gigantismus erlebt hat. Bei Paris St. Germain und beim FC Chelsea. Zu Beginn seiner Zeit in Frankreich bekam er unter anderem Kylian Mbappé (gekauft nach vorheriger Leihe) und insgesamt Spieler mit einer Ablöse von über 400 Millionen Euro. Nicht schlechter lief es in London. Dort war Sturmbüffel Romelu Lukaku mit knapp 113 Millionen Euro der teuerste Neuzugang. Und auch bei den Blues rutschten 400 Millionen Euro über die Theke, 80 davon für Wesley Fofana (huch!) und 65 für Marc Cucurella (hä?). Tuchel konnte als Teammanager über die Dinge selbst verfügen. Das Geld war bei Umsetzung seiner Vorstellung bestenfalls zweitrangig.
Mit dieser Machtfülle ist er beim FC Bayern nun nicht mehr ausgestattet. In der "Task Force" wird sein Wort zwar sehr geschätzt und gehört, aber mit Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge hat er jetzt wieder zwei mächtige Kaderarchitekten, mit einem eigenen Blick auf die Dinge. Siehe Sechser-Debatte. Noch läuft die Sache mit der Planung ohne Dissens, das beteuern sie. Vielleicht auch, weil sowohl der Rekordmeister als auch der Trainer beides schon auf bittere Weise erlebt haben. In München zerrieb sich Hansi Flick an Ex-Sportvorstand Hasan Salihamidžić und in Paris war einer der Gründe fürs Tuchels Aus der Streit mit Sportdirektor Leonardo.
Kane bleibt Transferziel Nummer eins
Doch wie geht es weiter? Kane bleibt Transferziel Nummer eins, die Verrenkungen des Klubs bereiten Experten bereits große Sorgen. 100 Millionen plus X Euro für einen 30-Jährigen? Puh! Aber wenn der Verein erst einmal von einem Spieler beseelt ist, dann ist er schwer davon abzubringen. Das war einst bei Leroy Sané so und auch im vergangenen Sommer bei Sadio Mané. Doch während der Senegalese vor allem Schmuckstück ohne klares Auftragsgebiet war - als Erbe von Robert Lewandowski war er nicht tauglich - gibt es für den Sehnsuchtsspieler Kane immerhin eine definierte Leerstelle. Das Sturmzentrum. Er kann das. Das weiß man.
Die Probleme des Kaders sind damit aber längst nicht abgearbeitet. Immer drängender wird das Torwart-Thema. Wann Manuel Neuer zurückkehrt, das weiß niemand. Und in welcher Form? Noch unklarer. Wie es dem Keeper wirklich geht, wird wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Nur einen geplanten Eingriff und eine "Metallentfernung" an Neuers schwer verletztem rechten Bein machte der Klub publik. Die Münchner aber haben ihre Pläne B und C verscherbelt. Alexander Nübel ist an den VfB Stuttgart weitergegeben worden. Yann Sommer darf sein Glück bei Inter Mailand finden.
Und nun? Na klar, der Blick geht (unter anderem) wieder nach England. Der vereinslose David de Gea soll auf dem Zettel stehen und neuerdings auch der Spanier Kepa Arrizabalaga, der dem FC Chelsea einst 80 Millionen Euro wert war. Er soll der "Task Force" vom Bayern-Trainer persönlich empfohlen worden sein und ein heißer Kandidat sein, obwohl er einst nicht die Nummer eins unter Tuchel war. Man bekommt Thomas Tuchel aus der Premier League, aber man bekommt die Premier League offenbar nicht aus Thomas Tuchel.
Quelle: ntv.de