
Mats Hummels trieb seine Gegner in die Balllosigkeit.
(Foto: IMAGO/Nicolo Campo)
Borussia Dortmund nimmt seine Anhänger in dieser Saison mit auf eine wilde Achterbahnfahrt. Keine Selbstverständlichkeit, findet zumindest Geschäftsführer Watzke vor dem 3:1 beim AC Mailand. Der schlaflose 64-Jährige sieht im San Siro die Geburt eines Fußballgotts. Sein müder Kopf kann ruhen.
Hans-Joachim Watzke kann es immer noch nicht verstehen. Der Tag, der zur Krönung seines Spätwerks hätte werden sollen, lastet immer noch tonnenschwer auf ihm. An einem herrlichen Mai-Samstag war in Dortmund alles vorbereitet. Die fliegenden Händler verkauften ihre Meisterschals, die Menschen der Bierhauptstadt kannten nur ein Thema: Der BVB ist wieder da, Deutscher Meister in diesem Jahr.
Doch der 27. Mai 2023 quetschte nach dem angstgelähmten 2:2 gegen den FSV Mainz stattdessen nur die letzte Träne aus den Fans der Borussia. Eine Stadt und nicht nur ein Verein war am Boden. Nur selten sind nach einem Fußballspiel in einer Stadt desolatere Szenen zu beobachten gewesen. Das Spiel hatte den BVB nicht zur Meisterschaft, sondern zum gefühlten Abstieg geführt. Da nützten auch die trotzigen Gesänge der Südtribüne nichts. Diese dienten nur der gegenseitigen Vergewisserung des gemeinsam durchlebten Albtraums.
"Es war der Tag der größten Enttäuschung meines Lebens", erklärte der mittlerweile 64-jährige Sauerländer dieser Tage vor den Aktionären der Borussia Dortmund GmbH & Co. KGaA. Die zählt sich in ihrer Selbstbeschreibung zu einem der "markenstärksten internationalen Fußbalklubs". An diesem Samstag im Mai nun hatte der BVB alles dafür getan, diese Marke auf ungünstigste Art und Weise zu schärfen.
"Das kann einen Klub zerstören"
Die ganze Welt hatte erst mit Erstaunen und dann mit Mitleid auf diese ewigen Bundesliga-Verlierer geschaut. Der BVB hatte eine Jahrzehntchance auf die Meisterschaft nicht achtlos weggeworfen, sondern war vielmehr vom Druck zerquetscht worden. Es war an ihnen, die Dominanz der Bayern zu durchbrechen und das Scheitern war fatal. Hans-Joachim Watzke, der CEO, der nur noch selten Aki Watzke genannt wird, konnte an diesem Tag nicht schlafen. Eine Sorge trieb ihn um. "Ich wusste, dass so etwas einen Klub zerstören oder zumindest auf Jahre hinaus schaden kann", erzählte er an diesem Montag.
In der Tat präsentierte sich die Borussia in dieser mittlerweile auf die Winterpause zusteuernden Nachfolgesaison bislang als angeschlagener Verein, der seit dem ersten Spiel der Saison, einem 1:0 gegen den 1. FC Köln, von inneren und äußeren Zweifeln gleichermaßen erschüttert wird. Die Unruhe hat sich in den vergangenen Monaten über Dortmund gelegt wie einst die Aschewolken des Eyjafjallajökull über Europa. Sie lähmen den Klub, der seine Erfolge nicht mehr als Erfolge verkaufen kann und dessen Misserfolge genüsslich seziert werden.
Noch so etwas, was Watzke zutiefst stört. "Wir sind seit Monaten einem medialen Trommelfeuer ausgesetzt, wie ich es ewig nicht erlebt habe. Ich muss mich jede Woche vergewissern, dass wir nicht gegen den Abstieg spielen", schimpfte er: "Wir lassen nicht zu, dass man uns zerstören will, weil man dadurch mehr Klicks generiert. Wir bitten um eine faire Berichterstattung mit einem analytischen Ansatz."
Ein sympathischer, aber ewiger Zweiter
Dabei waren es gerade die analytischen Ansätze, die an dem BVB-Fußball auch nach Bundesliga-Siegen kaum ein gutes Haar gelassen hatten. Der von Trainer Edin Terzić zelebrierte Heldenfußball funktioniert ohne den zu Real Madrid abgewanderten letzten Helden Jude Bellingham nur in wenigen Momenten. Das auf defensive Stabilität fokussierte Spiel kollabierte immer wieder und führte zu teils unerklärlichen Auftritten. Die Pleiten gegen Bayern München (0:4) und den VfB Stuttgart (1:2) waren da nur das Aushängeschild. Zu viele rätselhafte Partien hat diese hoch bezahlte Mannschaft in dieser Saison bereits auf den Platz gebracht.
Besonders im Scheinwerferlicht des überwältigenden Fußballs von Bayer Leverkusen und der Wunder-Geschichte des VfB Stuttgart bleibt den Dortmundern wenig Rampenlicht. Viel mehr verschwinden sie in dieser Saison die meiste Zeit in den Aschewolken, die sich aus den Überresten des Watzkeschen Ground Zero, dem 27. Mai 2023, über den Verein legen.
Das Jahr 2023 ist das Jahr, in dem sich der BVB für lange Zeit international als sympathischer, aber ewiger Zweiter zementiert hat. National scheint diese Sympathie außerhalb der eigenen Fanblase zu schwinden. Borussia Dortmund ist nicht mehr sexy. Und läuft in diesem Herbst mal wieder Gefahr, die Champions League zu verpassen. Beinahe traditionell. Noch haben sie sich bis auf ein Ausnahmejahr, dem letzten Klopp-Jahr, davon nicht aus dem Konzept bringen lassen. Aber Krise ist immer, wenn Herbst ist.
Ein Fußballgott wird geboren
Unter diesen Voraussetzungen nun und mit der kleinen Atempause, dem 4:2 gegen Borussia Mönchengladbach im Gepäck, trat der BVB nun mit seiner Ansammlung aus Alt- und Bundesliga-All-Stars im Mailänder San Siro in der sogenannten Todesgruppe der Champions League gegen den von Verletzungssorgen geplagten AC Mailand an. Die Startbedingungen waren klar: Mit einem Sieg würde der Einzug in das Achtelfinale der Königsklasse gelingen. Was an diesem fünften Spieltag einer kleinen Sensation gleichkommen würde. Sie gelang der Borussia. Beim 3:1 zeigten sie, was sie eben auch auszeichnet.
In ihren guten Momenten ist das Team um die später von Trainer Terzić als "Fußballgott" ausgerufene Vereinslegende Mats Hummels eine abgezockte, international höchst erfahrene Truppe. Eine, die sich gegen Rückschläge wehrt, die in einem Spiel leiden kann und mit Jamie Bynoe-Gittens plötzlich nach Jadon Sancho und Jude Bellingham einen neuen Super-Engländer hervorzaubern kann.
Der 19-Jährige, jahrelang von Schulterproblemen geplagt, holte einen Elfmeter raus und erzielte in der zweiten Halbzeit seinen ersten Treffer in der Königsklasse. Dieser, ein gut getimter Flachschuss nach einer wunderbaren Kombination über Marco Reus, Niclas Füllkrug und Marcel Sabitzer, ließ ihn träumen: "Für mich war es das perfekte Spiel, hier im San Siro zu treffen. Ich habe versucht, den Schuss früh nehmen, das Jubeln war dann großartig. Ich glaube, dass wir weit kommen können", sagte er und durfte sich dann sein Lob abholen.
"Er hat in der Entscheidungsfindung noch Luft nach oben", erzählte Niclas Füllkrug, einer aus der Gruppe der BVB-Bundesliga-All-Stars und legte dann los: "Aber er ist immer gefährlich für den Gegner. Wir wissen, dass wir ihn im Eins-gegen-eins nicht unterstützen müssen. Es ist Gold wert, so einen Spieler im Team zu haben und wir freuen uns, wenn er so weitermacht." Unbewusst hatte Füllkrug damit auch den Fokus auf das gelegt, was den BVB in den vergangenen Jahren auf der einen Seite am Boden hielt und auf der anderen überhaupt erst zu dem Klub gemacht hatte, an dem immer wieder alle verzweifeln.
Natürlich trifft Mister 1:0
Das Ausharren des BVB auf dem Königsklassen-Plateau gelingt dem mal kollabierenden, mal wankenden und manchmal überzeugendem Giganten aus dem Ruhrgebiet nur über die Erlöse auf dem Transfermarkt. Zum ersten Mal jedoch seit einigen Jahren bedarf es nahezu übermäßiger Fantasie, einen neuen Bellingham, einen neuen Erling Haaland oder einen neuen Sancho im Kader auszumachen.
Die Borussia hat ihr Modell angepasst, setzt auf Erfahrung und auf das, was ihnen nach schlechten Spiel als biederen Durchschnitt um die Ohren gepfeffert wird. Bynoe-Gittens ist nur noch die Ausnahme und in der Tat der, der aufgrund seines Alters und seiner Nationalität für den BVB noch zu Gold werden könnte.
Eben nicht nur auf dem Platz, auf dem der gebürtige Londoner auch von individuellen Ausnahmeleistungen in der Defensive profitierte. Gregor Kobel hielt schon wieder einen Elfmeter, Marco Reus lieferte als Mister 1:0 und Hummels grätschte wie zu WM-Finalzeiten nahezu jeden Angreifer des AC in die Balllosigkeit. Coach Terzić, bewandert in der BVB-Vereinsgeschichte wie kaum ein anderer, fühlte sich sogar an Jürgen Kohler erinnert.
Hans-Joachim Watzke kann ausschlafen
"Kohler ist damals in Manchester zum Fußballgott geworden. Ich weiß nicht, ob seine Leistung damals besser war als die von Mats heute", übertrieb er, den Fakt außer Acht lassend, dass Kohler in Manchester 1997 die Karriere von Éric Cantona beendet hatte. Der beendete nur wenige Wochen nach dem Spiel seine Karriere.
Über einen Rücktritt von Mailand-Stürmer Olivier Giroud ist bislang noch nichts bekannt geworden. Was aber auch vollkommen unerheblich ist, denn auf Giroud werden die abgezockten Dortmunder in der Champions League in dieser Spielzeit eher nicht mehr treffen.
Im letzten Spiel gegen Paris Saint-Germain geht es Mitte Dezember nun nur noch um den Gruppensieg in der Todesgruppe. Newcastle United und AC Mailand hat der BVB nach fünf Spieltagen bereits hinter sich gelassen. Das ist nach allem, was wir über Borussia Dortmund 2023 zu denken wissen, tatsächlich eine Sensation. Und weil sie also am 27. Mai 2023 nicht gestorben sind, leben sie noch heute. Hans-Joachim Watzke kann endlich wieder ausschlafen.
Quelle: ntv.de