Ewald Lienen ist sprachlos Kombi-Abstimmung über WM: "Das hört sich manipulativ an"
25.11.2024, 20:51 Uhr
Ewald Lienen beim Bundesliga-Spiel zwischen dem FC St. Pauli und Bayern München.
(Foto: IMAGO/Philipp Szyza)
Ewald Lienen ist das gute Gewissen des Fußballs. Die Gleichzeitigkeit der vielen Krisen macht dem 70-Jährigen zu schaffen. Ist die Stimme des DFB für die WM 2034 in Saudi-Arabien bei der Vergabe Mitte Dezember 2024 problematisch? Wäre es sinnvoller, auf Probleme zu schauen, die noch lösbar sind? Und wieso soll der Fußball etwas leisten, was sonst niemand leistet? Im Gespräch mit ntv.de antwortet Lienen auf diese Fragen.
ntv.de: Herr Lienen. Die WM 2034 wird in Saudi-Arabien ausgetragen, die Vergabe im Dezember ist nur noch Formsache. Auch der DFB wird dafür stimmen. FIFA-Präsident Gianni Infantino hat alle überrumpelt.
Ewald Lienen: Es war immer die Hoffnung, dass bei der FIFA nach Sepp Blatter mit Gianni Infantino frischer Wind reinkommt und alles reformiert wird. Aber es hat sich nichts Grundlegendes geändert. Und das ist schade.
Aber überrascht Sie das?
Es gibt viele gute Dinge, die die FIFA macht. Die Arbeit mit Flüchtlingen nur als ein Beispiel. Ich kenne da wirklich sehr viele sehr gute Menschen. Aber was dort im Zusammenhang mit Wettbewerben und den Weltmeisterschaften von Infantino und seinen Leuten veranstaltet wird, macht einen sprachlos. Was soll jetzt DFB-Präsident Bernd Neuendorf da machen?
Gegen die Vergabe der WM an Saudi-Arabien stimmen, die gemeinsam mit der Jubiläums-WM 2030 vergeben wird. Das Turnier 2030 wird über drei Kontinente ausgetragen werden und …
… erstmal bin ich froh, dass wir so einen Mann an der Spitze haben. Und mit "Nein" stimmen? Wir gehen auch nicht in den Bundestag und beschließen ein Gesetz über die Krankenhausreform und gleichzeitig eins über die Legalität der AfD. Kombi-Abstimmung? Ich weiß nicht, wie man auf so eine Idee kommen kann. Das hört sich manipulativ an. Da werden Kritiker ruhig gestellt, indem man ihnen die Möglichkeit nimmt, irgendwas anderes zu wählen.
Es gibt weniger Wahlmöglichkeiten, weil die Turniere so gigantisch aufgebläht sind. Ab der WM 2026 nehmen 48 Nationen teil. Wie bei Olympia kann ein einzelnes Land diese Sportereignisse kaum noch ausrichten.
Der Fußball ist ein Abbild dieser Welt, in der wir uns gerade bewegen. Auch hier übernehmen Autokraten und Populisten. Wir müssen dabei aber auch ein bisschen mit unserer Doppelmoral aufpassen. Alles, was in der Politik und der Wirtschaft, dort besonders, in Ordnung zu sein scheint, ist dann im Sport plötzlich nicht mehr in Ordnung? Da schweigen teils die gleichen Personen bei Wirtschaftsangelegenheiten und im Sport kritisieren sie dann umso lauter. Das ist einfach Doppelmoral.
Das passiert auch, weil der Sport und besonders der Fußball die Menschen so fasziniert und derart attraktiv ist.
Die UEFA, die FIFA erhöhen die Anzahl der Spiele. Pressen alles aus dem Spiel heraus. Menschen wie Infantino melken die Kuh bis zum Gehtnichtmehr. Das haben wir schon in der Wirtschaft so gemacht. Wir haben Dinge produziert, die niemand braucht. Das einzige Kriterium war: Kann ich damit Gewinn machen? Egal, was ich für Kollateralschänden an der Natur, an der Artenvielfalt, an der Welt produziere. Egal, ob ich damit andere Länder auf anderen Kontinenten ausbeute. Egal, ob ich damit die Zukunft von Kindern und Jugendlichen dort gefährde. Egal, was ich den Menschen antue, die nur prekär beschäftigt sind. Wichtig allein waren die Gewinne. Der Fußball zieht da nur nach.
Herr Lienen, es wirkt so, als wären Sie genervt von der Thematik?
Allein in Deutschland haben wir genug Probleme. Wir können jetzt wieder über Saudi-Arabien diskutieren, so wie wir zehn Jahre über Katar diskutiert haben. Ich habe Verständnis dafür, dass im Sport bestimmte Dinge diskutiert werden. Wir vergessen aber: In der Zwischenzeit geht das Leben weiter. Was wäre die Alternative? Keine WM in Saudi-Arabien, keine WM in Katar, keine Olympischen Spiele in Peking. Und dann in Länder gehen, in denen es keine Menschenrechtsverletzungen gibt?
Aber das wäre doch eine Alternative?
Dieses Land mit diesen Eigenschaften für diesen Gigantismus musst du erst einmal finden. Für mich sind das Scheingefechte, die uns am Ende nicht weiterbringen. Was uns weiterbringt: Wenn wir unser Klima in den Griff bekommen. Aber da passiert zu wenig. Ein Blick zur Weltklimakonferenz in Baku reicht. Was uns weiterbringt ist, wenn hier in Deutschland die großen Sportorganisationen und somit auch der DFB viel mehr Geld in die Sportförderung stecken könnten. Das wirkt sich direkt auf die Charakterentwicklung, auf die Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen aus. Wir verlassen uns da zu viel auf das Ehrenamt, das gleichzeitig immer weniger honoriert wird, finanziell sowieso nicht. Wir brauchen dort mehr Fachkräfte, mehr Gelder.
Wir sind jetzt ganz schön weit weg vom Ursprung unseres Gesprächs.
Aber, Herr Uersfeld, das mit Saudi-Arabien sind Diskussionen, an denen sich jeder beteiligen kann. Manche müssen es, wie Sie als Sportjournalisten. Weil es Ihr Job ist. Es gibt so viele andere Diskussionen, die alle Menschen betreffen - auch direkt betreffen. Das sind für mich die wichtigen Diskussionen.
Sie sagen also: Weniger reden, mehr handeln. Mehr in das Lokale wirken und die Weltpolitik auch mal außen vorlassen?
Was soll bei dieser Diskussion rauskommen? Wenn man am Ende nicht in Saudi-Arabien, sondern woanders eine WM veranstaltet, wäre das in meinen Augen ein Pyrrhussieg, der wenig verändern würde. Die nächste WM in Mexiko oder den USA. Davon redet kein Mensch. Weil es unsere Freunde, weil es unsere Handelspartner sind. Über die Verhältnisse in Mexiko könnte man genauso diskutieren, das passiert aber nicht. Ich möchte gar nicht über Details reden. Ich kann auch die Kritik von Amnesty International verstehen. Der Sport lenkt den Fokus auf diese Dinge. Aber wir haben doch jeden Tag überall auf der Welt Menschenrechtsverletzungen. Ein Boykott würde die entsprechenden Personen in den Ländern nicht unbedingt motivieren, etwas zu verändern. Es geht nicht darum, Menschenrechtsverletzungen zu akzeptieren, sondern nachhaltig zu bekämpfen und nicht nur dadurch, dass wir uns nur bei sportlichen Großereignissen darüber ereifern.
Wieso wird der Fußball derart überhöht, dass wir dort und im Sport allgemein Dinge einfordern, die wir sonst nicht einfordern?
Weil sich die allermeisten Menschen auf der Welt für Fußball interessieren. Das ist die Sportart Nummer eins. Und deswegen ist es die Plattform, auf der über so etwas gesprochen wird. Denn, wenn das über den Fußball kommt, sind viele Menschen bereit, sich damit auseinanderzusetzen.
Was eine gute Sache ist.
Ja. Und es gibt so viele wichtige Probleme, die besprochen werden müssen. Aber wir müssen anfangen, die existenziellen Probleme anzugehen. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass wir das Klima an die Wand fahren. Die Frage nach einer WM 2034 in Saudi-Arabien ist da nicht die wichtigste. 2034 kann es sein, dass weite Teile unserer Welt schon nicht mehr bewohnbar sind. Weil wir vor lauter Bequemlichkeit zwar die Menschenrechte anprangern, aber wir es nicht einmal mehr schaffen bei nunmehr 29 Weltklimakonferenzen einen Konsens zur Sicherung unserer Existenzgrundlagen zu finden.
Was wäre da die Lösung?
Die tägliche Arbeit entscheidet darüber, wo unsere Gesellschaft hingeht. Wir machen momentan weiter wie bisher, natürlich wissen wir um die Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien. Das ist völlig klar. Aber reden wir über Saudi-Arabien und die Menschenrechte, wenn wir Öl von ihnen kaufen? Oder Saudi-Arabien oder die Golfstaaten in unsere Wirtschaft investieren? Kein Mensch redet dann darüber. Beim Fußball sind sie plötzlich alle da.
Auf den Baustellen für die WM-Stadien und für die Infrastruktur sterben echte Menschen. Meistens entfliehen die den Verhältnissen in ihren Heimatländern. Die sie so verzweifeln lassen, dass sie sich in Staaten wie Katar oder Saudi-Arabien locken lassen.
Wir kritisieren vollkommen zurecht, dass die Arbeitsbedingungen in den Ländern desaströs sind und als direktes Resultat unzählige Menschen ihr Leben verlieren. Wir fragen uns aber nicht nach der Ursache, warum diese Menschen aus Bangladesch, aus Indien, aber auch aus afrikanischen Staaten in diese Länder gehen müssen, um dort unter Umständen ihr Leben zu riskieren. Könnte das nicht auch damit zu tun haben, dass wir hier im Westen davon profitieren, dass die Verhältnisse in ihren Herkunftsländern so sind? Auch damit wir hier in jeden Laden gehen und für 10 Euro ein T-Shirt kaufen können. Was, obwohl es um die halbe Welt gereist ist, immer noch Gewinn macht. Könnte es vielleicht also auch mit den Produktions- und Arbeitsbedingungen vor Ort zu tun haben? Von denen wir profitieren.
Kurz gefasst: Alles ist für diese Menschen besser als Bangladesch?
Ja. Das ist der wahre Hintergrund. Wir hier im Westen klopfen uns auf die Schultern, dass wir Müll trennen und dort ersticken sie an unserem Plastikmüll. Das ganze Meer ist voller Plastikmüll, die Meerestiere gehen daran zugrunde. Wir haben alle möglichen Probleme. Das Überleben der Menschheit ist gefährdet. Unendlich viele Menschen sind von Hunger, Krieg und Not betroffen.
Was ist die Konsequenz daraus?
Wir müssen mit diesen Scheingefechten aufhören, uns nachhaltig um die wirklich wichtigen Probleme kümmern, dort, wo sie sind, und nicht nur dann, wenn sie im Fußball sichtbar werden. Fußball ist immer ein großer und wichtiger Teil meines Lebens gewesen, der mir sehr viel Freude gemacht hat - und das wird auch so bleiben. Aber man kann nicht nur kämpfen, sondern man muss auch ein paar Dinge im Leben mal genießen können. Ich glaube, dass es vielen Menschen so geht.
Mit Ewald Lienen sprach Stephan Uersfeld
Quelle: ntv.de