Fußball

Zum Tod von Franz Beckenbauer Des "Kaisers" letzter Kratzer

Ein Teil von Beckenbauers Wirken bleibt für immer im Dunklen.

Ein Teil von Beckenbauers Wirken bleibt für immer im Dunklen.

(Foto: picture alliance / dpa)

Schon zu Lebzeiten war der "Kaiser" dem Irdischen entrückt: der erste Popstar des deutschen Fußballs, Weltmeister als Spieler wie als Trainer - eine Lichtgestalt. Weil er bei allem Erfolg nie abhob, blieb er ein Mann des Volkes. Auch noch, als er sich im Schattenreich verirrte.

Als Franz Beckenbauer sich schon nicht mehr blicken ließ im Fernsehen, holten sie manchmal einfach eine Kopie ins TV-Studio. Man muss sich das mal vorstellen: Da saß also ein mittelmäßig talentierter Comedian namens Matze Knop in Fußball-Runden neben ausgewiesenen Experten und hatte nur einen Job - etwas sagen, was so oder so ähnlich auch Beckenbauer hätte sagen können. So dermaßen unvorstellbar war eine Fußball-Welt ohne den "Kaiser". Dann wurde sie langsam vorstellbarer, die großen Zeiten des Matze Knop waren vorbei, der "Kaiser" nicht mehr auf der Tagesordnung, nun hat er die Welt und die Fußball-Welt endgültig verlassen. Franz Beckenbauer ist im Alter von 78 Jahren gestorben.

Man hat seit 2016 nicht mehr viel gehört und gesehen vom echten Franz Beckenbauer. Er, der seit Menschengedenken ausschließlich Hauptrollen im deutschen Fußball gespielt hatte, gab nur noch Gastauftritte. So wie im März 2018. Monatelang war keine Nachricht von ihm an die Öffentlichkeit gedrungen, bis ein Reporterteam ihn zufällig filmte: Gebückt schlich er aus einem Münchner Nobelrestaurant, eine Schiebermütze auf dem Kopf. Prompt schlagzeilten die Gossenblätter: "Sorgen um Beckenbauer!" Doch plötzlich die Entwarnung: Die stets eng verbundene "Bild", über die er sich hin und wieder noch zu Wort meldete, berichtete exklusiv über eine Hüft-OP, inklusive typischer Frotzeleien: "Ich musste in den Länderspielen immer für Günter Netzer mitlaufen", diktierte Beckenbauer dem Boulevardblatt. "Für ihn habe ich gern meine Hüfte geopfert."

Für einen kurzen Moment blitzte wieder der alte Franz durch, dieser Weltstar auf einer Arschbacke, für den das Leben immer so einfach schien. Auch 2020 war so ein Moment, als sich die Weltmeister von 1990 zum 30. Jubiläum unter der Sonne Italiens trafen. Die letzten öffentlichen Bilder stammen von Anfang dieses Jahres, Beckenbauer und Familie hatten zum traditionellen Karpfenessen nach Kitzbühel eingeladen. Auf den Bildern ist ein gebeugt stehender, alter Mann zu sehen.

Die Leichtigkeit, sie war verloren gegangen in seinen letzten Lebensjahren, über gesundheitliche Probleme, persönliche Tragödien - und den Skandal um die wahrscheinlich gekaufte WM 2006 in Deutschland. Die Lichtgestalt des deutschen Fußballs hat sich dagegen entschieden, die Vorgänge aus dem Schattenreich hinaus ins Licht der Transparenz zu holen. So bleibt die Affäre eine irritierend dunkle Episode in einem beeindruckenden Lebenswerk.

Ein Pionier auf und abseits des Feldes

Ein befreundeter Journalist hat Beckenbauer einmal gefragt, was denn auf einst seinem Grabstein stehen solle. Die Antwort: "Nichts. Der Name genügt." Es bräuchte auch einen Grabstein in den Abmessungen eines Fußballtores, um all seine Titel anzuführen: als Spieler viermal deutscher Meister sowie viermal Pokalsieger, dreimal US-Meister, dreimal Europapokalsieger der Landesmeister, einmal Europapokalsieger der Pokalsieger, dazu einmal Weltpokalsieger. Mit der Nationalelf Weltmeister 1974 und Europameister 1972. Die meisten Fußballfans wissen das, fast ein bisschen in Vergessenheit geraten ist, wie er den Sport revolutionierte. Vor ihm agierte der Libero als eine Art Ausputzer, eine Rolle, die Beckenbauer mit seiner Zweikampfstärke am Boden wie in der Luft perfekt beherrschte. Aber schon in jungen Jahren interpretierte er den Libero offensiver - mit dem Ball am Fuß nahm er sich die Freiheit, das Spiel zu gestalten. "Er hat Verantwortung übernommen", sagte Johan Cruyff einmal über Beckenbauer. "Und er wusste immer, was zu tun war."

Als Spieler ein Genie, legte er das Traineramt eher pragmatisch-konservativ aus. Trotzdem reichte es noch zu einigen Glanzpunkten an der Seitenlinie: Beckenbauer führte Deutschland zum WM-Titel 1990, die Bayern zu einer Meisterschaft und einem Uefa-Cup-Sieg sowie Olympique Marseille zum französischen Meistertitel. Aber auch außerhalb des Spielbetriebs galt für Beckenbauer das, was sein Freund und Teamgefährte Pelé, der im Dezember 2022 verstarb, einmal sagte: "Wo Franz ist, ist immer oben."

In gewisser Weise war der junge Beckenbauer das Produkt eines Visionärs: Robert Schwan, ab 1966 Manager des jungen Rohdiamanten. Schwan inszenierte den Fußballer als Popstar. Beckenbauer löffelte für damals astronomische 12.000 Mark Knorr-Suppen, trällerte im Fernsehen "Gute Freunde kann niemand trennen" und spielte sich selbst im Kinofilm "Der Libero", der vor allem Maßstäbe in Sachen Product-Placement setzte. Das Duo Schwan/Beckenbauer wurde zu Pionieren des modernen Fußballs, der "Kaiser" war immer dabei, wenn der Fußball einen neuen Schritt unternahm: Über den Teich in die USA, in die Beckenbauer 1977 wechselte, wenn auch nicht ganz freiwillig. Ins bezahlte Fernsehen, für das Beckenbauer seit 1991 arbeitete, als Sky noch Premiere hieß. Zur alles niederwalzenden Aufmerksamkeitsmaschine, in die der Fußball spätestens mit Beckenbauers WM 2006 mutiert ist.

Der Aufstieg zum Weltstar

"Ich habe mit einem Wollknäuel angefangen, Fußball zu spielen, daraus ist mein ganzes Leben entstanden", sagte Beckenbauer einmal. Geboren wurde er 1945 als Sohn einer Hausfrau und eines Postbeamten. Wer wie die Beckenbauers im Arbeiterviertel Obergiesing wohnte, ging damals zu 1860 München, auch der Weg des talentierten Franz schien zum damals erfolgreichsten Klub der Stadt zu führen. Die Geschichte, warum Beckenbauer sich dann doch den Bayern anschloss, ist zum Mythos geworden: 1958 spielte Beckenbauer mit dem SC 1906 München gegen 1860 - und ein Gegenspieler verpasste ihm eine Watschn. 2010 machte der Bayerische Rundfunk den Mann ausfindig, er habe sich nie getraut, sich zu zeigen, sagte der er, aus Angst, Chaoten könnten ihren Frust darüber auslassen, dass Beckenbauer schließlich die Bayern zu einem Weltklub machte, und nicht 1860.

Wie so oft traf Beckenbauer auf eine glückliche Konstellation - die Bayern strampelten sich bei seinem Debüt 1964 zwar noch in der zweitklassigen Regionalliga Süd ab, hatten aber einige vielversprechende Talente angesammelt: Gerd Müller etwa, Sepp Maier und "Katsche" Schwarzenbeck, sein langjähriger Edelhelfer. Beckenbauers erste vollständige Saison 1964/65 krönte der Aufstieg in die Bundesliga. Gerade sechs Spiele in der höchsten Klasse hatte er absolviert, da machte Helmut Schön ihn zum Nationalspieler. Bei der WM 1966 ging sein Stern auf, vier Jahre später reifte er endgültig zum Weltstar - im "Spiel des Jahrhunderts", bei der 3:4-Niederlage im legendären Halbfinale 1970 gegen Italien im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt. Ikonisch die Bilder von Beckenbauer in der Verlängerung mit dem rechten Arm in einer Schlinge - bei einem Foul in der 70. Minute hatte sich der 24-Jährige die Schulter ausgekugelt.

New York, New York

Den Weltmeistertitel holte Deutschland schließlich 1974, als amtierender Europameister. Wo das Team 1972 allerdings spielerisch überzeugte, quälte sich die Auswahl von Helmut Schön zwei Jahre später in das Heimturnier. Nach dem peinlichen 0:1 gegen die DDR riss Beckenbauer das Ruder an sich - in einer hitzigen Teamsitzung, auf der die künftige Aufstellung nach den Vorstellungen des Kapitäns gestaltet wurde. Zum Opfer fiel dem Machtwort des Kaisers unter anderem Günter Netzer, der Beckenbauer Jahre später recht gab: "Von all seinen Leistungen für den deutschen Fußball war das die größte."

Sportlich war Beckenbauer über jeden Zweifel erhaben, 1972 und 1976 ehrten ihn die Fachjournalisten als "Europas Fußballer des Jahres". Aber, wie er einmal sagte, "auch im Leben ist Libero eine schöne Rolle". Und so geriet er zunehmend in die Schlagzeilen des Boulevards, als Luftikus, als Lebenskünstler, dem nichts Menschliches fremd war. 1977 wurde eine außereheliche Affäre öffentlich, der Fiskus forderte hohe Summen zurück, und der FC Bayern verpasste den Europapokal. Also floh Beckenbauer in die USA, in dem Jahr, in dem Liza Minelli erstmals "New York, New York" sang: "If I can make it there, I'll make it anywhere/It's up to you, New York".

Beckenbauer schaffte es auch in New York.

Beckenbauer schaffte es auch in New York.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Natürlich schaffte es Beckenbauer auch in New York. Fußballerisch konnte er in der Zirkusliga NASL locker mithalten, an der Seite von Größen wie Pelé, Carlos Alberto und Johan Neeskens errang er mit Cosmos drei Titel. Die Zeit in den USA macht sein sportliches Erbe nicht größer, wohl aber die Person Beckenbauer: In New York heftete sich der Münchner Junge internationalen Glamour an. Er feierte im legendär verruchten "Studio 54", traf Mick Jagger und Muhammad Ali, Andy Warhol zeichnete sein Porträt. "Von einer ganz beschaulichen, in eine verrückte Welt", bilanzierte Beckenbauer später. "Für mich war New York die schönste Zeit in meinem Leben." Und doch tauschte er das Leben eines Rockstars wieder aus - gegen das Trikot des Hamburger SV, mit dem er 1982 noch seine letzte Meisterschaft als Spieler feierte. Mit einem erneuten Intermezzo bei Cosmos New York endete im Herbst 1983 seine Karriere.

"Dem Mann gelingt alles"

Sein letzter Manager Marcus Höfl gab einmal zu, er wisse nie genau, was in Beckenbauers Kopf wirklich vorgehe. Ob der Kaiser etwas macht, weil er es will, oder weil er naiv-fremdbestimmt in etwas hineinstolpert, das ließ sich nie so einfach ergründen. 1984 fand er sich plötzlich im Sessel des Teamchefs der Nationalmannschaft wieder, mehr hineingeschubst als freiwillig gegangen, so erzählte er es jedenfalls. Also gewann er sechs Jahre später mal eben die WM, mit einem legendär simplen Rezept: "Geht's raus und spielt's Fußball!"

Komplexer wird Fußball selten bei Beckenbauer, seine Experten-Analysen im Fernsehen waren ein Faszinosum für sich: Wie wenig erhellend doch so ein Jahrhundertfußballer über seinen Sport reden konnte. Das Fußball-Feuilleton, das ab 2006 schleichend den Diskurs eroberte, spöttelte über den Kaiser und sein ewiges "Ja gut, äh." In der Ära der Laptop-Trainer wirkte Beckenbauer schon wie ein Museumsstück, für das nur noch kein Platz im Lager gefunden wurde. Seine eigene Trainerkarriere endete schnell, 1994 übernahm er ein Amt, in dem sein Gespür für Stimmungen und Menschen besser eingesetzt war: Er wurde Präsident des FC Bayern und so eine Art Good Cop der berüchtigten "Abteilung Attacke".

Blatter und Beckenbauer - die Macher der Sommermärchen-WM und auch des FIFA-Skandals.

Blatter und Beckenbauer - die Macher der Sommermärchen-WM und auch des FIFA-Skandals.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Er hätte es dabei belassen können. Hier ein paar Werbespots, da ein paar Golfturniere, dazwischen Auftritte wie der im Sommer 1994 im Sportstudio, als er an der Torwand von einem Weizenglas aus verwandelte. "Dem Mann gelingt alles", jubelte Moderator Dieter Kürten. Das schien auch für seine späte Karriere als Funktionär zu gelten. Vom DFB-Vizepräsidenten stieg er zum Mitglied im FIFA-Exekutivkomitee auf. Um das Soziale wolle er sich kümmern, sagte er damals. Man nahm es ihm ab: In seiner eigenen Stiftung kümmerte er sich um Bedürftige, immer wieder nahm er an Benefizveranstaltungen teil. Und der FIFA haftete 2007 auch noch nicht das Image der Fußball-Mafia unter dem Paten Joseph Blatter an, als die sie sich in den Folgejahren entpuppte. Was Beckenbauer zu den Skandalen der FIFA beigetragen hat, was er wusste und was nicht, das bleibt die große Frage. War er ein Naivling? Ein Schlawiner, der das Spiel nach den Regeln spielte? Oder gar ein eiskalter Machtmensch?

Franz nicht mehr im Glück

Noch immer behaupten in München Menschen, der Sommer 2006 habe genau am 9. Juni um 18 Uhr begonnen. Die Sonne schlug die Wolken, und Deutschland beim Auftakt der Heim-WM Costa Rica mit 4:2. Auf der Tribüne strahlte der Mann, der das alles möglich gemacht hatte - die WM, und wahrscheinlich sogar das Wetter. Er war "das nationale Maskottchen, der gefühlte Präsident", schrieb die "Süddeutsche Zeitung" über Beckenbauer, der das Turnier als Chef des Organisationskomitees ins Land geholt hatte. Jahrelang war er als Botschafter der Bewerbung durch die Welt gejettet, nun erntete ein ganzes Land den Lohn für seine Mühen: 30 Tage lang Sommer, Party auf den Fanmeilen, eine Nationalmannschaft im Rausch. Es war ein Märchen, wie Beckenbauers ganzes Leben: Franz im Glück.

Allein, es war auf Lügen aufgebaut. 2015 berichtete der "Spiegel" über eine schwarze Kasse beim DFB, gefüllt mit 6,7 Millionen Euro. Das Geld floss an den katarischen Skandal-Funktionär Mohamed Bin Hammam, der wahrscheinlich die asiatischen Stimmen für die WM-Vergabe kontrollierte. Im Herbst 2016 durchsuchte die Staatsanwaltschaft Beckenbauers Haus in Salzburg, der Verdacht lautete auf Betrug, ungetreue Geschäftsbesorgung, Geldwäsche sowie Veruntreuung. Der "Kaiser" stritt alles ab, "die Vergabe der WM nach Deutschland war nach meinem besten Wissen und Gewissen nicht gekauft", schrieb er in der "Bild". Danach entzog er sich weitestgehend der Öffentlichkeit. Das Verfahren gegen ihn sowie den ehemaligen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger und den früheren Generalsekretär Horst R. Schmidt verjährten Anfang 2021, die FIFA hat kein Verfahren mehr eröffnen können.

"Größte Gabe" abhandengekommen

Zu den Skandalen gesellten sich persönliche Probleme. Im Juli 2015 musste Beckenbauer seinen Sohn Stefan beerdigen, der infolge einer Krebserkrankung verstorben war. Ein Jahr später legten ihm Ärzte einen Bypass, auch 2017 musste er sich am Herzen operieren lassen. In der Zwischenzeit ramponierten immer mehr Enthüllungen sein Image. Sein Wirken als OK-Chef bezeichnete er als Ehrenamt - tatsächlich erhielt er 5,5 Millionen Euro aus einem Werbedeal des DFB. 2014 sperrte die FIFA ihr Exekutivkomiteemitglied, weil er einen Fragebogen nicht beantwortet hatte. Die WM in Brasilien verfolgte er vor dem Fernseher. Es schien, als komme ihm seine "größte Gabe" (Manager Höfl) abhanden: die Intuition.

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Viel hatten die Menschen der Lichtgestalt verziehen. Seine Sprüche zum Olympiastadion in München ("Da werden sich doch hoffentlich ein paar Terroristen finden, die das in die Luft sprengen."), Doping im Fußball ("Keine Ahnung. Der Doktor hat gesagt: Das ist eine Vitaminspritze.") und den miserablen Zuständen auf den Stadionbaustellen in Katar ("Ich habe noch nicht einen einzigen Sklaven in Katar gesehen. Die laufen frei herum, ohne Ketten."). Seinen Job als Sportbotschafter für den russischen Energiekonzern Gazprom, der schon vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine in der Kritik stand.

Doch nun verziehen die Fans nicht mehr. In einer "Stern"-Umfrage im September 2016 wollten 55 Prozent der Befragten Beckenbauer seinen Ehrentitel "Kaiser" entziehen. Noch wichtiger: 76 Prozent verlangten, die Vorgänge um die WM-Vergabe müssten öffentlich und transparent gemacht werden. Ausgerechnet hier versagte die Lichtgestalt - er beließ die Vorgänge im Schattenreich, gleich dem Altkanzler Kohl, der sein Ehrenwort und die Namen seiner Spender mit ins Grab nahm. Hätte Beckenbauer mehr Licht in die Affäre gebracht, es wäre seinem Lebenswerk angemessen gewesen. Er hat sich anders entschieden.

Quelle: ntv.de

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