Fußball

Eine Ikone in DDR und BRDUlf Kirsten schaffte etwas, das nie wieder möglich ist

04.12.2025, 07:15 Uhr
imageVon Tobias Nordmann
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Ulf Kirsten ging auch dort noch mit dem Kopf hin, wo andere mit Fuß agierten.

Ulf Kirsten ist eine Fußball-Legende, erst in der DDR und später im wiedervereinigten Deutschland. Als Stürmer prägte er den Fußball der 90er-Jahre, nun wird er 60. Über einen, der die Härte des Spiels liebte.

Ob es genau so war, wie Uli Borowka erzählt, das weiß Ulf Kirsten nicht mehr. "Könnte aber so gewesen sein", sagt er. Könnte so gewesen sein, dass er, dass Ulf Kirsten, den Bremer Innenverteidiger bei einem Bundesliga-Spiel zwischen Bayer Leverkusen und Werder in den 90er-Jahren in der ersten Minute direkt über die Bande geschickt hatte. Als kleine Revanche "fürs letzte Mal".

Uli Borowka war ein "Eisenfuß". Einer, der mit seinen Ansagen Spieler verschreckte. Wenn er Andreas Möller ankündigte, ihn gleich abzuräumen, zog der sich als Libero zurück. So behauptet es Borowka. Kirsten dagegen schreckte das nicht ab. Es gab auf die Füße, aber es blieb nichts hängen. "Das war ehrlich, das war hart. Aber wir waren auch keine Mimosen." Kirsten hielt voll dagegen. Nicht verbal, sondern körperlich. "Ich habe mir die Luft lieber aufgespart", sagt er im Gespräch mit ntv.de. Er hielt dagegen mit allem, was er hatte: Zweikampfhärte, Leidenschaft, Schnell- und Listigkeit. Er war ein Stürmer, wie gemacht für den Fußball der 90er-Jahre. Er war ihr bester Torjäger und wird an diesem Donnerstag 60 Jahre alt.

Am kurzen Pfosten war er zu Hause

Wenn die Bälle an den kurzen Pfosten kamen, dann tauchte "der Schwatte" auf. Das war sein Ding. Ein typisches Ulf-Kirsten-Tor war eins aus kurzer Distanz. Direkt, ohne Schnickschnack. Der Ball muss über die Linie, egal wie. Nach dieser einfachen Formel arbeitete er sich jahrzehntelang durch den Strafraum. Dort traf er auf Hünen, wie den Bremer Rune Bratseth. Und auf Eisenfüße wie Uli Borowka oder den ehemaligen Uerdinger Helmut Rahner. "Auch ein knallharter Verteidiger." Kirsten entwischte ihnen allen. Oft war er auch mit dem Kopf zur Stelle. Obwohl er nur 1,74 Meter groß war. Wie kann das sein? "Ich hatte einfach ein brutales Timing", sagt er.

Wieder und wieder trainierte er den Kopfball. Er erarbeitete sich das perfekte Gespür dafür, den Tick schneller am Ball zu sein als seine Gegenspieler, egal, wie groß die waren. Kirsten ging mit dem Kopf aber auch dahin, wo andere noch mit dem Fuß agieren. Er haute sich immer rein. Das zeichnete ihn schon aus, als er aus Riesa, seiner Geburtsstadt, nach Dresden kam. Dort schaffte Kirsten in der Oberligasaison 1983/84 den Sprung in die erste Mannschaft. Klaus Sammer und Eduard Geyer waren dort unter anderem seine Lehrer. Eine harte Schule. Besonders unter "Ede". Der sei ein Trainer "ohne Kompromisse" gewesen. Mit "sehr harten Methoden". Freie Tage, an die kann sich Kirsten damals kurz vor der Wiedervereinigung nicht erinnern. Auf Spiele folgte schnell die "Hartbelastung". Aber die Härte tat der Mannschaft gut. 1988, 89 und 90 erlebte Kirsten seine schönsten Jahre, wie er sagt. Erfolge mit Dynamo: Meister und Pokalsieger. "Da stimmte einfach alles." Spaß, Mannschaft, Stimmung.

Dresden ist seine sportliche Heimat, emotional immer geblieben. Dynamo sein Klub, obwohl er viel länger für Bayer gespielt hat. Natürlich, Bayer ist auch Herz, aber nicht so sehr wie Dresden. Die Dynamo-Heimspiele des Klubs verfolgt er bis heute, dafür fährt er immer aus dem Bergischen Land rüber. Nicht nur, weil er für diesen Klub brennt, sondern weil er ihn auch vertritt. Als Repräsentant für die Sponsorenpflege und -akquise. Das ist seine aktuelle Berufung. Nicht immer einfach sei das, sagt er. Wenn es um das hauptsächlich im alten Westdeutschland nicht immer gute Image des Klubs geht, ärgert er sich. Da werde oft nicht mit dem gleichen Maß gemessen. Das gelte übrigens für mehrere Klubs im Osten.

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Ein letztes Spiel für Ulf Kirsten. Damals 2003 gegen 1860 München und Martin Stranzl.

Verschiedene Sachen hat er nach der aktiven Karriere, die am 17. Mai 2003 beim Spiel gegen 1860 mit einem siebenminütigen Joker-Einsatz zu Ende ging (3:0), ausprobiert. Die Trainerlaufbahn war nur kurz. Die zweite Mannschaft von Bayer betreute er einst, aber die wurde vom Verein aus seiner Sicht nur "stiefmütterlich" behandelt. Kirsten fühlte sich in einer Sackgasse. Als Co-Trainer der "Ersten" hätte er gerne gearbeitet, aber das wollte Klubchef Wolfgang Holzhäuser damals nicht. Kirsten probierte viel aus, ehe die Anfrage aus Dresden kam. Eine zweite Sache, die ihm noch am Herzen liegt: seine Stiftung, mit der soziale Projekte unterstützt. Geld dafür sammelt er unter anderem über den Verkauf seines Gins ein. "Der Schwatte" ist zu einer neuen Marke geworden.

Größte Überraschung? "Es gab keine Sauna"

Als Fußballer stand die Marke "der Schwatte" für Tore, für unbändige Leidenschaft. "Zweimal 90 Minuten haben wir damals am Tag gearbeitet", sagt Kirsten. Heutzutage undenkbar. Das Training hat sich verändert. Die Belastungen durch die vielen englischen Wochen für die Topvereine auch. Kürzer, weniger intensiv sind die Einheiten. Es wird mehr gesprochen in der Vorbereitung, der Laptop nimmt eine wichtige Rolle ein. Was nun besser sei, das weiß Kirsten nicht.

Was er aber weiß: Die heutige Welt würde ihm nicht mehr so entgegenkommen. Der mediale Druck, die Omnipräsenz der sozialen Medien, da ist er schon froh, dass die Zeiten damals andere waren. Fußballerisch dagegen würde er sich auch die Gegenwart noch zutrauen. "Wenn man mit Leidenschaft spielt, dann wird man sich zu jeder Zeit durchsetzen. In die anderen Systeme wächst man rein", sagt er. Jede Epoche habe seinen Reiz, findet er. Dem modernen Hochgeschwindigkeitsfußball kann er viel abgewinnen, nur mit dem VAR, da fremdelt er wie so viele. Dass er seinen Platz in den 80ern und 90ern hatte, das sei aber schon gut so gewesen.

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Ulf Kirsten im Jahr 1985 beim Länderspiel der DDR gegen Frankreich im Dresdner Zentralstadion.

Durchgesetzt hat er sich auch gleich zwei Nationalmannschaften. 49 Mal spielte er für die DDR (14 Tore), 51 Mal für die BRD (20 Tore). Das hat kein zweiter Spieler geschafft. Der Wechsel ins gesamtdeutsche Team gelang mühelos. Aber Kirsten fand schon, dass es ihm und anderen Fußballern aus dem Osten schwerer gemacht wurde, in die Mannschaft zu kommen. "Wir wurden damals von Berti Vogts schon ein wenig mehr durchleutet." Obwohl er dreimal Torschützenkönig war, war er kein unumstrittener Stammspieler. Die Konkurrenz mit Rudi Völler, Jürgen Klinsmann und Co. war allerdings auch gigantisch. Heute, so findet Kirsten, führe einen der Weg viel schneller in die Nationalmannschaft. Da reiche manchmal eine gute Halbserie. Einen, den er aber sehr schätzt, ist Deniz Undav. Weil er so variabel spielt, so schwer auszurechnen ist.

Eine fußballerische Revolution erlebte Kirsten Mitte der 90er-Jahre. Längst war er nicht mehr nur eine Ikone in der vergangenen DDR, sondern auch im wiedervereinigten Deutschland. Zu Bayer Leverkusen war er bereits am 1. Juli 1990 gegangen. Es war ein geräuschvoller Transfer, bei dem auch Bundeskanzler Helmut Kohl mitmischte. Kirsten hatte keine Anlaufschwierigkeiten, einen fußballerischen Kulturschock erlebte er nicht. Was ihn in der neuen Welt aber wunderte: "Es gab keine Sauna, in Dresden hatten wir zwei." Die Integration verlief reibungslos. Kirsten traf und traf. Dann, Mitte der 90er-Jahre, kam Trainer Christoph Daum, die Revolution begann.

Daum und Calli zerschlagen Benfica-Wechsel

Nach einem katastrophalen Jahr mit Bayer und der wegen einer Verletzung verpassten EM war Kirsten im Sommer 1996 bereit, ein neues Abenteuer anzutreten. Er war sich mit Benfica Lissabon einig. Daum aber warb eindringlich um ihn, Manager Rainer Calmund war ohnehin nicht bereit, ihn gehen zu lassen. Es war nicht der erste Wechsel, der sich zerschlug. Aber dieser hallte ein wenig nach. "Das hat mich schon eine Woche beschäftigt", sagt Kirsten. Aber schnell gewann er das Vertrauen in Daum. Der versprach ihm, dass er Torschützenkönig werde. Er wurde es. "Da glaubt man dem Trainer schon ein bisschen mehr." Daum war der beste Trainer, den er je hatte. Taktisch und technisch war der seiner Zeit voraus. Die Basis dessen, was und wie heute trainiert wird, legte Daum damals bereits. "Das war einfach ein ganz anderes Niveau", sagt Kirsten.

Einmal sah er die Dinge aber anders als der Chef. Im dramatischen Meisterschaftsfinale 1999/2000. Leverkusens Träume zerbrachen in Unterhaching. Zur Halbzeit nahm Daum Boris Zivkovic raus, Kirsten und Emerson hielten das für keine gute Idee. Sie sahen die rechte Seite von Bayer gut im Spiel. Dann fiel das 0:2, über die Seite, die Zivkovic zuvor verteidigt hatte.

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Christoph Daum machte Kirsten ein Versprechen. (Foto: IMAGO/pmk)

Bei Bayer war schon vor dem Spiel alles anders. "Es war ruhiger", erinnert sich Kirsten. Er spürte, dass die Anspannung fehlte. Aber Zweifel daran, dass man die erste Schale der Vereinsgeschichte holen würde (ein Remis hätte gereicht), hatte er nicht. Auch nicht nach dem Eigentor von Michael Ballack zum 0:1. Das Ende der Geschichte ist bekannt. Was Kirsten fühlte? "Weiß ich nicht mehr und möchte ich auch nicht mehr wissen."

Lieber erinnert er sich an 1993, an das Pokalfinale. Auch so ein Spiel, in dem es eine Kirsten-Szene brauchte, um die Amateure von Hertha BSC niederzuringen. "Wir waren haushoch überlegen, hatten vermutlich 30:1 Torschüsse, aber der Ball wollte nicht rein." In der 77. Minute flankte Pavel Hapal von der linken Seite, Kirsten war zur Stelle, per Kopf, aber ganz untypisch am langen Pfosten. Egal, das Timing stimmte, Kirsten jubelte sich die Erleichterung aus den Knochen.

Andreas Thom "war der kompletteste Spieler"

Michael Ballack, das ist einer dieser großen Namen, mit denen Kirsten in seiner Karriere zusammengespielt hat. Er wurde zu einem großen Star, wie so viele andere in all den Jahren an der Seite des Stürmers. Ein Emerson etwa oder ein Ze Roberto. Manchmal rief "Calli" den Mannschaftsrat zusammen, um über Spieler zu sprechen. Die Entscheidung, ob einer geht oder bleibt, lag aber immer beim Chef. "Einmal hat Calli mich gefragt: Ulf, gegen welchen Verteidiger tust du dich am schwersten. Ich habe ihm dann einen Namen genannt." Rainer Calmund folgte dem Rat und verpflichtete das Kirsten'sche Kryptonit. Wer war's? "Das sage ich nicht."

Die großen Weltstars kamen früher, Anfang der 90er. Bernd Schuster etwa oder Rudi Völler. "Mit Bernd zusammenzuspielen, das war überragend", erinnert sich Kirsten. Auch mit Rudi Völler ging es gut zusammen. Hierarchisches Gerangel mit dem WM-Helden gab's nicht. Nicht mal um die Rückennummer. "Der Rudi wollte die 13 und ich konnte die 9 behalten." Wer der beste Spieler an seiner Seite war, das möchte Kirsten nicht entscheiden müssen. Es waren zu viele gute. Aber einen hebt er doch heraus: Andreas Thom. "Er war für mich der kompletteste Spieler. Er war sauschnell, konnte alles. Rechts, links, war kopfballstark." Auch er kam aus dem Osten.

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"Wir hatten schon eine gute Ausbildung", sagt Kirsten und meint auch Andreas Thom (r.) und Matthias Sammer. (Foto: imago/Pressefoto Baumann)

"Wir hatten da schon eine sehr gute Ausbildung", findet Ulf Kirsten. Technisch und taktisch womöglich besser als die im Westen. Und dennoch hatten die Westfußballer den Ostkollegen etwas voraus. "Die hatten ein grenzenloses Selbstvertrauen. Die sind immer in dem Bewusstsein angereist, dass sie jedes Spiel gewinnen können. Wir waren da zurückhaltender", erinnert sich Kirsten. Wie bitter das enden konnte, erlebte er selbst beim Uerdinger Jahrhundertspiel 1986. Dynamo hatte das Hinspiel 2:0 gewonnen, lag im Rückspiel 1:0 vorne und mit 3:1 zur Halbzeit. Die Laube war gezimmert, dachte man. Doch dann kollabierte Dresden auf absurde Weise. Uerdingen gewann 7:3 und flog ins Halbfinale.

"... dann wusste ich, dass ich schlecht war"

An Bayer Uerdingen hat Kirsten aber noch aus anderen Gründen schlechte Erinnerungen. Die Spiele dort seien immer "eklig" gewesen und selten vor großer Kulisse. Die aber liebte Kirsten. Aus ihr zog immer eine Extramotivation. "Wenn niemand gepfiffen oder 'Kirsten, du Arschloch', gerufen hat, wusste ich, dass ich richtig schlecht war. " Wenn es mal nicht lief, packte er die Grätsche aus. Ehrlicher Fußball, Emotionen.

Zu DDR-Zeiten waren das die großen Duelle gegen den BFC Dynamo aus Berlin. Später im Westen die Derbys gegen den 1. FC Köln, gegen die Borussia aus Mönchengladbach, gegen Schalke, aber auch gegen den FC Bayern. Erst mit Raimund Aumann und später mit Oliver Kahn. Der Titan, der so vielen Spielern das Fürchten lehrte, machte nichts mit ihm. Ganz anders als Frank Rost. "Der war gerade bei Elfmetern sehr stark. Und wenn er dreimal im Eins-gegen-Eins gewonnen hatte, dann hattest du schon ein komisches Gefühl bei dem. Besonders wenn du noch weit laufen musstest, da war das Tor sehr klein."

Sehr oft kam das nicht vor. Das Portal transfermarkt.de listet 633 Pflichtspiele für Dynamo Dresden und Bayer Leverkusen auf, 309 Tore erzielte er. Das letzte im verlorenen DFB-Pokalfinale gegen den FC Schalke 04 (2:4) am 11. Mai 2002. Aus zentraler Position. Sein Laufweg aber führte ihn dahin, wo er am liebsten war: zum kurzen Pfosten.

Quelle: ntv.de

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