Das große Verdienst der Fans Warum die Bundesliga die beste Liga der Welt bleibt
24.08.2023, 09:26 Uhr
Momente, die die Bundesliga unsterblich machen.
(Foto: IMAGO/Moritz Müller)
60 Jahre Bundesliga. Manchmal hat es den Anschein, als habe die Liga ihre Mitte verloren. Dann rennt sie dem Geld hinterher und dann begibt sie sich in Duelle, die sie nicht gewinnen kann. Dabei vergisst sie, was sie wirklich weltweit bedeutend macht: die Zuschauer auf den Rängen.
Harry Kane hat in seiner Karriere schon viel gesehen und wenig gewonnen. Das hat sich am vergangenen Freitag geändert. Zwar fehlt dem neuen Superstar des FC Bayern auch weiterhin ein Titel auf seinem privaten Briefkopf, was angesichts seiner Vita ein großes Phänomen bleibt. Aber dafür hat er im Bremer Weserstadion, neben dem Premierentreffer für seinen neuen Arbeitgeber, etwas erlebt, dass er so bislang noch nicht gesehen hatte: Kane ist eingetaucht in eine einzigartige Kultur, eingetaucht in die Fußball-Bundesliga, die an diesem Donnerstag vor exakt 60 Jahren an den Start gegangen ist, die durch Skandale erschüttert wurde, die immer wieder Tod gesagt wird, die jammert, weil sie fürchtet, im Milliarden-Wahnsinn zerrieben zu werden, die aber doch viel mehr ist: ein wichtiger Anker im Leben vieler, sehr vieler Menschen. Ein Ereignis, das größer ist als die 90 Minuten auf dem Platz.
Ein Fußballspiel mag 90 Minuten haben, ein Bundesliga-Spiel kommt damit längst nicht aus. Der Spieltag nahm und nimmt bis heute in vielen Städten und Regionen den ganzen Tag, manchmal sogar die ganze Woche. Das Spiel, die Mannschaft ist Thema. In der Bahn, früher in den Schachtanlagen, heute im Büro, beim Bäcker, auf dem Markt, in der Kneipe sowieso. Der Spieltag klappert das ganze Regal der Emotionen ab. Die Vorfreude, die Glückseligkeit, die Euphorie. Oder auch die Angst, die Wut, die Enttäuschung. Wer nichts zu quatschen hat, der hat den Fußball. Der geht immer. Er schenkt wahlweise Glück und Gemeinschaft, er spendet Trost und gibt Zusammenhalt. Der Fußball öffnet Wege, er löst Spannungen und ist immer auch ein Ventil für aufgestaute Emotionen. Ja, manchmal landen die auch im falschen Kanal.
Es bedurfte hitziger Debatten und einer flammenden Rede des saarländischen Verbandschefs und späteren DFB-Präsidenten Hermann Neuberger, ehe am 28. Juli 1962, auf dem Bundestag des Deutschen Fußball-Bundes um 17.44 Uhr mit 103:26 Stimmen der Start der Bundesliga zum August 1963 beschlossen wurde. 16 Teams gingen damals in der Start. Nicht dabei: der FC Bayern, der erst zwei Jahre später ins Oberhaus aufstieg und schließlich zum allesfressenden Giganten erwuchs. So aber sah das erste Teilnehmerfeld aus: 1. FC Nürnberg, TSV 1860 München, Eintracht Frankfurt, Karlsruher SC, VfB Stuttgart, 1. FC Köln, MSV Duisburg, Borussia Dortmund, Schalke 04, Preußen Münster, Hamburger SV, Werder Bremen, Eintracht Braunschweig, 1. FC Kaiserslautern, 1. FC Saarbrücken und Hertha BSC.
BVB kollabiert, FC Bayern lacht sich kaputt
Viele von ihnen kämpfen heute in der zweiten und dritten Liga ums Überleben, arbeiten sich mit viel Mühe und Spucke aus der Belanglosigkeit zurück, Preußen Münster etwa. Oder sie versuchen irgendwie den gnadenlosen Absturz zu verhindern, siehe Hertha BSC. Liebe und Leiden, das gehört eng zusammen. Und wohl selten so eng, wie am 27. Mai dieses Jahres im Westfalenstadion. Borussia Dortmund führt die Tabelle an, ist dabei, die Titelserie des FC Bayern nach einer überragenden Rückrunde euphorisch zu zerreißen. Doch dann das: Die Fußballer des BVB erleben eine gigantische Panikattacke, schaffen es nicht, Mainz zu besiegen. Der FC Bayern gewinnt parallel in Köln, feuert seine Bosse und lacht sich kaputt. In Dortmund fließen Tränen, die Südtribüne wird zur größten Therapiegruppe des Landes, versichert sich und der Mannschaft, dass ihre Liebe nie enden wird und richtet die blamierten Helden wieder auf.
Harry Kane hat in Dortmund schon gespielt, in der Champions League, mit den Tottenham Hotspur. Er hat einen Eindruck davon bekommen, nur einen kleinen, wie die Stimmung in diesen Stadien einen Gegner erdrücken kann. Er wird es immer wieder erfahren. Ob in der Alten Försterei in Berlin-Köpenick, in der die Anhänger von Union die gegnerischen Spieler beinahe auffressen, im Ruhrstadion in Bochum, wohin die Fans Pilgerreisen ins abgerockte Schmuckkästchen zwischen verstopfter A40 und Knast unternehmen und sich von Herbert Grönemeyers "Bochum"-Magie verzaubern lassen, oder im Frankfurter Stadion, in dem die wildgewordenen Massen die Adler auf dem Feld in immer neue Höhen steigen lassen. Die Bundesliga lebt von der Liebe der Fans. Sie lebt von denen, die ihr letztes Geld dafür aufbringen, ihrer Mannschaft hinterherreisen, den Gästeblock brennen lassen, manchmal auch mit Fackeln, und die so viel mehr als nur Staffage auf den Tribünen sind, sondern vielmehr das eigentliche soziale Gewissen der Vereine. Das war nicht immer so.
In den manchmal verklärten 1980er Jahren ereignete sich eine der größten Tragödien der Liga-Geschichte. Am 16. Oktober 1982 geriet der erst 16-jährige Adrian Maleika gemeinsam mit anderen Anhängern des SV Werder Bremen vor dem Spiel beim Hamburgers SV in einen Hinterhalt. Ein rechtsradikaler Hamburger Fanclub und Skinheads beschossen die Bremer mit Gaspistolen und Leuchtraketen, bewarfen sie mit Steinen. Einer davon traf Maleika. Er starb am nächsten Tag. Die Trauer war groß, die heutige Feindschaft der beiden Fangruppen ist auf diesen Moment zurückzuführen.
Die legendären Stadien verschwinden
Ab der Jahrtausendwende änderte sich das Gesicht der Stadien. Aus den alten Stadien mit Laufbahnen ging es in moderne Arenen, in Gladbach verschwand der legendäre Bökelberg, die Bayern verließen das Olympiastadion und der FC Schalke 04 weinte ein letztes Mal im Gelsenkirchener Parkstadion. Die vier Minuten im Mai lassen sich bis heute auf der Plattform Youtube verfolgen. Sie markieren eine mehrfache Zeitenwende im Fußball. Die historische Fast-Meisterschaft ist nicht nur das letzte Spiel im Parkstadion, es ist auch eines der ersten, das in aller Ausführlichkeit von Fans auf Kamera dokumentiert wird und bis heute noch auffindbar ist.
Mit der Technik ging eine rasante Globalisierung der Bundesliga einher. Deutschland hatte dank des Sommermärchens moderne Stadien, die zu weltweiter Bekanntheit gekommen waren, in der Liga wechselten sich die Meister ab, die Stimmung auf den Tribünen war wild, war farbenprächtig. Die Tribünen hatten längst an Gefahr eingebüßt, schon lange nicht mehr vergleichbar mit den 1980er Jahren. Die Preise waren bezahlbar, das Westfalenstadion wurde von der "Times" zu dem Sehnsuchtsort des Weltfußballs verklärt. Aus England, Schottland und Norwegen, aber auch von anderen Kontinenten reisen die Fans nach Deutschland, dem Land von Bratwurst und Bier und Stehplätzen.
Aus den Ultragruppen erwuchs schon bald ein Korrektiv zum entfesselten Kapitalismus des Spiels. Anfang der 2010er protestieren sie gegen steigende Eintrittspreise, gegen verschärfte Sicherheitsmaßnahmen, gegen ständig wechselnde Anstoßzeiten. Sie erzielen dabei zumindest Teilerfolge. Über die Jahrzehnte wandern die leidenschaftlichen Fans durch ihre Vereine. Mittlerweile sind sie in den oberen Etagen angekommen. Doch dort werden sie nicht euphorisch begrüßt. Die alten Mächte des Fußballs stemmen sich gegen den neuen Blick auf das Geschäft. Mit Argusaugen beobachten sie das Wirken von Kay Bernstein. Er ist einer, der den Weg gegangen und als Präsident zum Gesicht von Hertha BSC geworden ist.
Der Dauerkrisenklub aus dem Berliner Westend sieht sich seit Monaten den Attacken des Boulevards ausgesetzt. Bernstein ist das Ziel der Kampagne. Der 42-Jährige will den Fußball anders denken. Das kommt nicht überall an, der sportliche Misserfolg setzt ihn weiter unter Druck. Genüsslich werfen sie ihm, der den Fußball als ein "korruptes" Geschäft bezeichnet, sämtliche Verfehlungen vor. Doch auch abseits von Berlin erlangen die Fans weiterhin Macht. Als Berater in den Vereinen, in den Aufsichtsräten und immer noch in den Kurven. Dort feierten erst jüngst die Anhänger des FC Bayern einen großen Triumph. Mit ihrer Hartnäckigkeit trieben sie Qatar Airways aus dem Klub. Das Staatsunternehmen aus dem Golf-Staat zeigte sich entnervt von den dauernden Streitigkeiten, von den permanenten Störgeräuschen der Fans und zog sich nach Ablauf des Vertrags als Ärmelsponsor zurück.
Klare Haltung gegen Investoren
Auch in der Investorenfrage vertraten die Kurven eine klare Meinung. Sie wehrten sich mit allen legalen Mitteln gegen den Einstieg eines Investors in die DFL, setzten dabei auf Protest und Dialog und waren am Ende gewiss ein Baustein der Entscheidung gegen frisches Kapital eines Private-Equity-Unternehmens. Ihre Hartnäckigkeit kann anstrengend sein, ihre Proteste manchmal die Grenzen des sehr guten Geschmacks überschreiten, doch als Anteilseigner ohne Anteile am Produkt Bundesliga fordern sie ihre Rechte ein. Sie sind es, die Harry Kane ins Schwärmen geraten lassen und sie sind es, die Bilder produzieren, die die Bundesliga in der ganzen Welt weiter bekannt machen. Mittlerweile auch durch eine neue Art der Berichterstattung. Vlogger haben Einzug in die Medienwelt gehalten. Sie berichten ekstatisch aus den Stadien der Liga. In Abwesenheit eines echten sportlichen Wettkampfs an der Spitze halten auch sie sich an der Atmosphäre fest.
Die Verbindung zwischen Fans und Spielern hat sich verändert. Während sich die Anhänger, die sich mit ihren Vereinen identifizieren, von den immer neuen Wettbewerben, von den ausufernden Transfersummen, den protzenden Spielern und den gierigen, herablassenden Funktionären abgestoßen fühlen, bilden sich neue Fans heraus. Sie verfolgen die Karrieren der Spieler und gehen mit ihnen von Verein zu Verein. Der Starkult um die Superstars wirkt für Traditionalisten verstörend, ist aktuell jedoch ein gewichtiger Teil des neuen Players am Markt. Saudi-Arabien hat sich binnen weniger Monate als disruptive Kraft in den Fußball eingebracht, setzt auf Namen und wird seine Attacke auf das Spiel nicht stoppen. Die mit unendlichen Reichtümern vollgepumpten Klubs drohen den Fußball zu zerreißen. Die europäischen Ligen inklusive der Bundesliga wiegeln noch ab, sehen die Gefahr nur halb am Horizont heraufziehen.
Parallel dazu verlagert sich die Fankultur mit den Abstiegen der Traditionsklubs zusehends in das Unterhaus. Die Strukturen in Hoffenheim, in Heidenheim und anderen neuen Standorten der Liga sind nicht derart gewachsen wie auf Schalke, in Hamburg, in Kaiserslautern, in Berlin oder auch in Karlsruhe. Dazu kommen seit langer Zeit schon die beiden Werksklubs Wolfsburg und Leverkusen und der Sonderfall RB Leipzig, der wohl niemals in der Liga andocken wird. Die Stadien, die Harry Kane begeistern könnten, werden weniger, die Attraktivität der Liga leidet unter dem Verschwinden der Giganten.
Doch trotz all der Störungen, trotz all der Klagen bleibt die Bundesliga auch nach 60 Jahren eine der größten Errungenschaften des Sports. Sie bringt Woche für Woche die Menschen zusammen. In der Bahn, früher in den Schachtanlagen, heute im Büro, beim Bäcker, auf dem Markt, in der Kneipe sowieso. Die Bundesliga bleibt die beste Fußball-Liga der Welt.
Quelle: ntv.de