
Die Ära Thomas Tuchel endet, bevor sie ernsthaft begonnen hat. Der FC Bayern verkündet die Trennung vom Trainer zum Saisonende - rund drei Monate also soll Tuchel die Mannschaft des Rekordmeisters noch betreuen. Die Münchner steuern auf die erste Saison ohne Titel seit zwölf Jahren zu, auf die drei aufeinanderfolgenden Niederlagen im Bundesliga-Topspiel in Leverkusen (0:3), im Achtelfinalhinspiel der Champions League bei Lazio Rom (0:1) und bei Abstiegskandidat VfL Bochum (2:3) folgt die Gewissheit: (Spätestens) im Sommer sortiert sich der FC Bayern neu.
Warum muss Thomas Tuchel überhaupt gehen?
Eine Saison ohne Titel hat es beim FC Bayern zuletzt 2011/12 gegeben. Damals holten erst die von Jürgen Klopp angetriebenen Dortmunder das nationale Double aus Meisterschaft und Pokal, dann ging das "Finale Dahoam" in der Champions League gegen den FC Chelsea verloren. Das allein reicht jedoch nicht als Erklärung. Die Münchner spielten viel zu oft (gemessen an den eigenen Ansprüchen) schlechten und uninspirierten Fußball ohne sichtbaren Fortschritt.
Sie waren und sind dann auf die Qualität der Einzelspieler angewiesen, etwa auf die Abschlussstärke eines Harry Kane, dessen 25 Bundesliga-Tore so manche wenig überzeugende Phase verdecken. Nach schwächeren Auftritten gab Tuchel sich in Interviews oft ratlos, bisweilen auch gereizt - und so lieferte Thomas Müller die Antworten, die eigentlich ein Trainer geben müsste. Zudem überraschte Tuchel immer mal wieder mit seinen Personalentscheidungen und das nicht unbedingt Guten wie bei der den Meisterschaftskampf vorentscheidenden Niederlage in Leverkusen.
Allerdings geht die Krise an der Säbener Straße weit über Tuchel hinaus, der 50-Jährige ist "nur" das erste prominente Opfer in der laufenden Saison. Sonst wären im Vorjahr nicht am Tag der Meisterschaft Vorstandschef Oliver Kahn und Sportvorstand Hasan Salihamidžić vor die Tür gesetzt worden und sonst hätten sich Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge nicht verpflichtet gefühlt, einzugreifen. Die Krise ist nicht neu, sie ist nicht die Alleinschuld von Tuchel, sie ist auch nicht durch einen neuen Trainer allein zu lösen.
Wie ist die Lage für Tuchel bis zum Saisonende?
Schwierig. Das Bild der "Lame Duck" drängt sich unweigerlich auf, das einen Politiker beschreibt, der zwar sein Amt noch bekleidet, dessen Abgang jedoch schon feststeht - und der deshalb als weitgehend handlungsunfähig angesehen wird. Tuchel braucht jetzt keine mittel- oder gar langfristigen Prozesse mehr anstoßen, sondern muss kurzfristig die sportliche Saisonbilanz retten. Wobei nach dem blamablen DFB-Pokal-Aus bei Drittligist Saarbrücken und inzwischen acht Punkten Rückstand auf eine seit 32 Pflichtspielen unbesiegte Leverkusener Elf die Champions League die letzte Titelchance darstellt. Die erneute Königsklassen-Quali ist beim Blick auf die Tabelle so gut wie sicher. Damit konzentriert sich jetzt erst einmal alles auf das Achtelfinal-Rückspiel gegen Lazio am 5. März (21 Uhr/Prime Video und im Liveticker bei ntv.de), um trotz Hinspielniederlage noch in die Runde der letzten Acht vorzustoßen.
Im Fokus dürfte dabei neben den Ergebnissen auch das Verhältnis zur Mannschaft stehen. Klublegende Thomas Müller sitzt unter Tuchel zumeist auf der Bank, beweist seinen Einfluss jedoch regelmäßig bei gewinnbringenden Interviews. Joshua Kimmich, Schlüsselspieler der Sextuple-Elf von 2020 und eigentlich auf dem Weg zur Bayern-Ikone, regte sich in Bochum fürchterlich über seine vorzeitige Auswechslung auf. Beide gelten als einflussreich in Mannschaft und Verein - während Tuchel öffentlich eher durch seine Dünnhäutigkeit auffällt. Wie sich diese Dynamik entwickelt, dürfte maßgeblich dafür sein, ob Tuchel womöglich doch schon früher von seinen Aufgaben entbunden wird. Oder ob er hinschmeißt. Theoretisch denkbar ist natürlich auch, dass alle jetzt plötzlich wie befreit zur Höchstform auflaufen. Theoretisch.
Was bedeutet das für den Kader?
Die Situation ist nicht nur für Tuchel, sondern auch für sein Team kurios. Bleibt Tuchel wirklich bis zum Saisonende im Amt, spielen Kapitän Manuel Neuer und Co. für drei Monate unter einem scheidenden Trainer. Das erleichtert die Zusammenarbeit sicherlich nicht. Praktisch ist die Saison schon abgeschrieben, da könnte schnell das Gefühl aufkommen, dass kein Spiel mehr sonderlich wichtig ist. Und dass die Ansagen vom Trainer ohnehin kein Gewicht mehr haben. Mental ist die Bekanntgabe des Tuchel-Aus' für die Spieler kompliziert. Das gerüchteweise ohnehin angespannte Verhältnis könnte für eben jene Profis eine Einladung sein: Um unliebsame Vorgaben ab sofort zu ignorieren, weil der Trainer ohnehin kaum noch tiefgreifende Konsequenzen ziehen kann. Um sich nicht mehr richtig zusammenzureißen, nicht mehr alles zu geben, weil das große Ganze ohnehin nicht mehr zu gewinnen ist. Klar, die Siegermentalität sollte gerade bei Bayern-Profis implementiert sein. Aber wenn nun ohnehin bekannt ist, dass es auseinandergeht …
Andererseits geht es natürlich auch um die Zukunft jedes einzelnen. Beim FC Bayern ist niemand unangetastet, ein neuer Trainer bringt womöglich neue Spielideen und neue Wünsche nach Transfers mit. Wer da nicht überzeugt, könnte schnell mal hintenüberfallen. Selbst wer wechselwillig ist, überzeugt andere Klubs natürlich nur mit guten Leistungen, wobei Ex-Bayern-Profis für gewöhnlich weich fallen. Und doch hat die Führungsetage die Spieler so in eine vertrackte Situation gebracht.
Welche Nachfolger stehen zur Debatte?
Die Liste der Kandidaten ist so lang wie prominent. Zinédine Zidane führte Real Madrid zu drei Champions-League-Triumphen, sein Name wabert immer mal wieder durch München. José Mourinho lernt angeblich immer mal wieder Deutsch, Antonio Conte hatte bei Juventus Turin, dem FC Chelsea und Inter Mailand Erfolg, Xabi Alonso entwickelt sich in Leverkusen zum nächsten Star auf dem Trainermarkt. Selbst eine Rückkehr von Hansi Flick wird diskutiert und Sebastian Hoeneß, einst mit Bayern II Drittliga-Meister, empfiehlt sich beim VfB Stuttgart gerade für höhere Aufgaben. Jürgen Klopp indes kündigte an, nach seinem Abschied vom FC Liverpool erstmal (mindestens) ein Jahr auszusetzen.
Warum kommt niemand für den Rest der Saison?
Der heißeste Kandidat ist wohl Xabi Alonso, immerhin beendete er seine eindrucksvolle Spielerkarriere 2017 in München und schickt sich nun an, als Trainer kaum weniger erfolgreich zu arbeiten. Die Aussicht auf den ersten deutschen Meistertitel mit Bayer Leverkusen wird er keinesfalls aufgeben, um dem FC Bayern die Saison zu retten. Einen klassischen "Feuerwehrmann", wie ihn etwa der Zweitligist 1. FC Kaiserslautern mit Friedhelm Funkel jüngst vorstellte, gibt es auf dem Niveau des Rekordmeisters kaum. Zumal Vorstandschef Jan-Christian Dreesen bereits eine "sportliche Neuausrichtung mit einem neuen Trainer" für den Sommer ankündigte. Diese würde ein neuer Hochkaräter sicherlich lieber mitprägen, als mit der Hypothek eines verkorksten Saisonendspurts zu starten.
Könnte nicht einer der Co-Trainer für Tuchel übernehmen?
Eine naheliegende Lösung, nur: Die Co-Trainer Anthony Barry, Arno Michels und Zsolt Löw sind allesamt mit Tuchel gekommen, arbeiteten mit diesem schon bei Chelsea, teilweise auch in Paris oder sogar in Dortmund mit ihm zusammen. Dass sie Cheftrainer-Ambitionen hegen könnten, ist nicht bekannt. Zumal von ihnen ja keine Abkehr vom Tuchel'schen Kurs zu erwarten wäre.
Und Jupp Heynckes?
Wann immer die Münchner kurzfristig einen Trainer suchen, fällt der Name Heynckes. Seine erste Zeit als Cheftrainer in München ist fast vergessen, doch bereits von 1987 bis 1991 stand Heynckes beim FC Bayern an der Seitenlinie. In Erinnerung blieb vielmehr sein Rettungseinsatz im April 2009, als er für den geschassten Jürgen Klinsmann übernahm und am letzten Spieltag die direkte Champions-League-Qualifikation rettete. Im Juli 2011 folgte er dann auf Louis van Gaal und übergab nach dem Triple-Sieg 2013 an Pep Guardiola. Der war übrigens bis heute letzte Bayern-Trainer, der (mindestens) zwei Saisons überstand.
Im Oktober 2017 dann der letzte Einsatz, nachdem Carlo Ancelotti entlassen worden war und Interimslösung Willy Sagnol eine ebensolche bleiben sollte. Heynckes gewann souverän die Meisterschaft und erreichte das DFB-Pokalfinale, das gegen Eintracht Frankfurt verloren ging. Der inzwischen 78-Jährige sagte jedoch schon 2020: "Jeder, der normal darüber nachdenkt, wird zu dem Entschluss kommen, dass man mit 74 Jahren keine Mannschaft mehr übernehmen soll."
Wer spielt noch eine Rolle bei der Planung?
Einer, der noch gar nicht Angestellter des FC Bayern ist, spielt eine gewichtige Rolle in der ganzen Nummer: Max Eberl. Er wird als Sportvorstand kommen, bald schon, auch wenn es bislang nicht einmal offiziell ist. Der 1. März steht schon länger im Raum. Gemeinsam mit Sportdirektor Christoph Freund wird Eberl für die Kaderplanung zuständig sein - alles andere als ein großer Umbruch wäre überraschend. Nur hier und da eine Ergänzung zum bestehenden Kader, wie mit Harry Kane zu dieser Saison, wird es mit Eberl nicht geben.
Der einstige Gladbacher und kurzfristige Leipziger Planer wird darauf pochen, das große Geld des FC Bayern zur Verfügung gestellt zu bekommen. Für ihn wäre es von Vorteil, wenn schnell ein neuer Trainer gefunden wird, das erleichtert die Abstimmung. Wahrscheinlich darf er bei der Entscheidung schon dabei sein. Denn welcher Trainer würde gern unter dem bekanntermaßen riesigen Druck beim FC Bayern arbeiten, wenn er so gar nicht bei seinem Personal hat mitreden können? Und welcher Kader kann vernünftig geplant werden, wenn gar nicht klar ist, wer der Trainer ist und wie dieser spielen lassen möchte? Die Personalie Eberl, sie ist eine richtungsweisende.
Was kann der FC Bayern seinem neuen Trainer bieten?
Noch Mitte Februar sagte Tuchel: "Ich spüre keinen Druck." Dabei ist das natürlich eine sehr geschönte Ansicht. Denn wenn es beim FC Bayern etwas gibt, dann ist es Druck. Der Meistertitel ist immer Pflicht, DFB-Pokal-Triumph und eine lange Champions-League-Saison mehr als schmückendes Beiwerk. Ohne Erfolg ist in München alles nichts. Das empfinden nicht nur die erfolgsverwöhnten Fans so, davon sind sie auch im Verein überzeugt.
Da mischen auch die Urgesteine Hoeneß und Rummenigge immer noch mit, die sich eigentlich längst zurückgezogen haben wollten. Vor allem mit der Aura des Erstgenannten muss man als Angestellter des Klubs umgehen können. Und damit ist natürlich auch die mediale Aufmerksamkeit so groß wie bei keinem anderen deutschen Verein. Der FC Bayern verzeiht keine Fehler, keinen kleinen Zweifel, kein mangelndes Selbstbewusstsein.
Und doch träumt vermutlich jeder - deutsche - Trainer davon, einmal den FC Bayern zu übernehmen. Ein Angebot des Klubs zu bekommen, ist wie ein Ritterschlag. Zur Verfügung steht der größte Etat des Landes, ein Kader, der quasi ausschließlich aus Stars und Nationalspielern besteht. Schließlich geht es den Profis wie den Trainern: Einem Angebot aus München muss man erstmal widerstehen. Mehr Selbstverwirklichung als ein Engagement beim FC Bayern geht - zumindest in Deutschland - kaum.
International gesehen haben andere Klubs den Münchnern diesen Nimbus abgeluchst. Mehr Geld ist in der Premier League, wohin Pep Guardiola und Jürgen Klopp der Bundesliga entwuchsen, bei Real Madrid, bei Paris Saint-Germain im Spiel. Die ganz großen internationalen Trainer-Legenden konnten die Münchner schon länger nicht mehr locken, nach Ancelottis Aus im September 2017 folgten Heynckes, Niko Kovač, Hansi Flick, Julian Nagelsmann und eben Tuchel. Alle hoch angesehen, klar, aber (noch) keine Mitstreiter des Trainer-Olymps, obwohl sie mitunter sogar die Champions League gewannen.
Wie geht es für Tuchel weiter?
Der logische Weg führt zum DFB. Schließlich haben diesen seine Vorgänger Hansi Flick und Julian Nagelsmann bereits beschritten. Thomas Tuchel als neuer Bundestrainer, merken Sie sich unsere nicht ganz ernst gemeinten Worte. Und weil Tuchel seit Jahren mit demselben Co-Trainer arbeitet, wäre die Schlagzeile "Löw beim DFB" doch auch einfach zu schön. Allzu realistisch erscheint das jedoch nicht.
Was sagen eigentlich die Verantwortlichen selbst?
Jan-Christian Dreesen: "Wir sind in einem offenen, guten Gespräch zu dem Entschluss gekommen, unsere Zusammenarbeit zum Sommer einvernehmlich zu beenden. Unser Ziel ist es, mit der Saison 2024/25 eine sportliche Neuausrichtung mit einem neuen Trainer vorzunehmen. Bis dahin ist jeder Einzelne im Klub ausdrücklich gefordert, um in der Champions League und in der Bundesliga das maximal Mögliche zu erreichen. Hierbei nehme ich auch explizit die Mannschaft in die Pflicht. Insbesondere in der Champions League sind wir davon überzeugt, dass wir nach dem 0:1 im Hinspiel bei Lazio Rom im Rückspiel in unserer vollbesetzten Allianz Arena mit unseren Fans im Rücken ins Viertelfinale einziehen werden."
Thomas Tuchel: "Wir haben vereinbart, dass wir unsere Zusammenarbeit nach dieser Saison beenden. Bis dahin werde ich mit meinem Trainerteam selbstverständlich weiter alles für den maximalen Erfolg geben."
Quelle: ntv.de