Fußball

Macht, Angst, Islam Was (wirklich) hinter der Saudi-Attacke auf den Fußball steckt

Cristiano Ronaldo war der erste Mosaikstein in Saudi-Arabiens Offensive auf den Fußball.

Cristiano Ronaldo war der erste Mosaikstein in Saudi-Arabiens Offensive auf den Fußball.

(Foto: IMAGO/AFLOSPORT)

Saudi-Arabien schwingt sich zum Big Player im Fußball auf, wenn an diesem Wochenende die neue Superstar-Liga startet. Doch hinter der größten Transferoffensive in der Geschichte des Sports stecken noch bahnbrechendere Pläne: Es geht um Angst vor Rebellion, Kicker als Machtinstrumente - und religiöse Propaganda.

Da ist er, der Superstar. Standesgemäß landet er mit einer Concorde in Riad und wird von Tausenden Al-Hilal-Fans am Flughafen begrüßt. Weiter geht es im Rolls-Royce ins Hotel. Ganz Saudi-Arabien steht Kopf, die Fußball-Liga des Königsreichs erstrahlt in neuem Glanz. August 1978, mit Roberto Rivelino wechselt zum ersten Mal ein ausländischer Top-Spieler - ein ehemaliger Weltmeister, der 1970 mit Pelé den ganzen Planeten begeistert hatte - in die erst zwei Jahre zuvor gegründete Saudi Pro League.

Versuche, sich mit Stars zu schmücken, gibt es schon länger. Aber damals konnte noch niemand ahnen, was 45 Jahre später passieren sollte. Am vergangenen Sonntag stellte die Liga die Armada an Superstars offiziell vor, die in diesem Ruf Rivelino und vor allem dem Lockruf des Geldes gefolgt sind. "Salam aleikum", sagte dabei zum Beispiel der jüngst von Bayern München zum Cristiano-Ronaldo-Klub Al-Nassr gewechselte Sadio Mané: "Ich freue mich sehr hier zu sein und wünsche allen Spielern viel Glück, aber am Ende will mein Team den Titel gewinnen." Liverpool-Legende Steven Gerrard, ab dieser Saison Trainer von Al-Ettifaq, erklärte, er sei "stolz, einfach nur hier zu sein".

"Die saudische Liga hat einige wunderbare Spieler, die alle Fähigkeiten, Schnelligkeit und Stärke haben", fügte der ehemalige Star von Real Madrid und neue Stürmer von Al-Ittihad, Karim Benzema, hinzu und verwies damit auf das neben der WM der Frauen alles beherrschende Fußball-Thema dieses Sommers: Es ist ein neuer Big Player am Horizont aufgetaucht, den so richtig niemand in Europa kommen sehen hat. Und dieser Player hat riesige Mittel und Bahnbrechendes vor: All die neuen Stars, Riyad Mahrez, Roberto Firmino, N'Golo Kanté und viele mehr, sie sind Teil einer nie dagewesenen Transferoffensive einer Liga. Eines gesamten Landes.

Bin Salmans Vision 2030

Der Großeinkauf der Vereine fußt auf dem schier unerschöpflichen Public Investment Fund (PIF), einem Staatsfonds Saudi-Arabiens. Die Saudi Pro League wird gesponsort von Roshn. Saudi-Arabiens führender Immobilienentwicklungsfirma, die vollständig im Besitz des PIF ist und unter dem Vorsitz von Kronprinz Mohammed bin Salman steht. Der 37-jährige "MBS" ist einer der mächtigsten Männer auf dem Planeten und seit 2022 auch Premierminister des Landes. Er gilt als gerissen, machtgierig, unerbittlich - und clever.

Bereits 2011 werkelte der heutige Kronprinz, der als Kind das Strategie-Computerspiel "Age of Empires" und Geschichten von Alexander dem Großen liebte, mit Beratern aus den Bereichen der Ökonomie und des Rechts an seinen eigenen Strategien, woraus später die Vision 2030 entstand. Der Plan, Saudi-Arabien dem Westen gegenüber zu öffnen und zu modernisieren und die Wirtschaft innerhalb von nur zwei Dekaden unabhängig vom Öl zu machen. Dieses Öl aber, es ist der Hauptgrund, warum der PIF so prall gefüllt ist. 600 Milliarden Euro sollen es sein. Jüngst gründete das Land unter Aufsicht von MBS eine neue Investmentgesellschaft, die sich ausschließlich auf Sportunternehmen konzentriert.

Die Attacke auf den Fußball ist ein Teil der Vision 2030. Und dafür werden Gelder auf die Bankkonten geschoben, bei denen (fast) jeder schwach wird. Financial Fairplay interessiert im Königreich nicht, mit den Millionen Saudi-Arabiens kann niemand mithalten. Ronaldo soll um die 200 Millionen Euro pro Jahr verdienen. Doch all die neuen Superstars, sie sind - gewollt oder nicht - ein Machtinstrument in den Plänen bin Salmans. Dazu später mehr.

Rebellion und Islam

An dieser Stelle spielt Angst eine große Rolle. Die Furcht vor Machtverlust. Vor dem Aufbegehren der Masse. MBS hatte genau beobachtet, was im Arabischen Frühling in anderen Ländern passiert war. Zunächst wollte er Fußball limitieren, weil Ultras bei den Aufständen in Ägypten, Libyen oder Tunesien wichtige Rollen gespielt hatten, und dafür Individualsportarten fördern.

Letztendlich schwenkte der Kronprinz jedoch um, als er beschloss, Saudi-Arabien zu transformieren, weil er die Strahlkraft des Fußballs erkannte. Zwar sieht Vision 2030 vor allem ehrgeizige Schritte zur Diversifizierung der Wirtschaft vor, aber mithilfe von großen Fußball-Stars und Sportevents soll auch die Gefahr der Rebellion gedämmt und die junge Bevölkerung (63 Prozent der 32,2 Millionen Saudis sind 29 Jahre alt oder jünger) ruhig und zufriedengestellt werden. Die nationale Identität soll gestärkt werden. Die gut sechs Millionen saudischen Bürgerinnen und Bürger, die in Armut und ohne jeglichen Einfluss leben, mal ausgenommen, denn sie haben auch von Ronaldo und Co. nichts.

Aber es geht wie so oft in der Region auch um Religion. Benzema erklärte im Juni etwa, er habe sich zum Wechsel nach Saudi-Arabien entschlossen, "weil ich Muslim bin und es ein muslimisches Land ist". Der Franzose postete am Montag ein Video von sich bei der islamischen Pilgerfahrt namens Umrah in der Großen Moschee von Mekka in den sozialen Medien. Mit "Alhamdulillah" lobpreiste er seinen Gott auf Arabisch. Das sind Sätze, die die Herzen im saudischen Königshaus erwärmen - und mit denen bin Salman und Co. ihre Macht ausbauen.

Auch Kanté und Mahrez gehören dem muslimischen Glauben an. Viele andere Neuzugänge in der Saudi Pro League sind People of Color. Und so erkennen Experten und Kommentatoren im arabischen Raum eine Verbindung. Omar Al-Ubaydli, ein Wissenschaftler aus Bahrain, schreibt auf der Website des Saudi-Senders Al-Arabiya, der Westen verstehe nicht, "welche Rolle Religion, Kultur und Race spielen bei der Gewinnung von Fußballern für den Nahen Osten".

Saudische Soft Power in der muslimischen Welt

Sicherlich sind die üppigen Ablösesummen und Gehälter der wohl wichtigste Grund für die Wechsel. Sonst wären die Fußballer nicht erst in diesem Sommer in Scharen übergesiedelt. Aber die Gründe sind mannigfaltig und Religion und das Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit dürfen dabei nicht unterschätzt werden. Praktizierende Muslime fühlen sich mit Saudi-Arabien, dem Hüter der beiden heiligsten Städte des Islam, Mekka und Medina, religiös verbunden. Und genauso fühlen sie und People of Color sich in Europa des Öfteren wegen Islamophobie, Angriffen auf Geflüchtete oder Migranten, rassistischen Beleidigungen in Fußballstadien, Koranverbrennungen oder des Erstarkens rechtspopulistischer Parteien nicht willkommen oder zu Hause - selbst, wenn sie hier geboren oder aufgewachsen sind.

Der Islam ist eine wichtige ideologische Währung für das Königreich, die sich effektiv mit seiner Realpolitik vermischt. Wenn Saudi-Arabien viele muslimische Fußball-Stars in die Liga lockt, wenn sie zeigen, wie sie den Islam im Königreich leben und lobpreisen, geht es auch um religiöse Soft Power in der muslimischen Welt. Schon länger kämpft das Königreich dort mit religiösen Propagandaaktivitäten gegen den Iran oder die Türkei um die Vormacht. Besonders weil der Westen mit erhobenem Zeigefinger auf Menschen-, Frauen- und LGBT-Rechte pocht, so gesehen etwa bei der WM 2022 in Katar, sieht sich Saudi-Arabien darin bestärkt, zu definieren, wofür der Islam im 21. Jahrhundert steht. Und den säkularen Westen zurechtzuweisen, wie dieser es lange mit nicht-westlichen Ländern getan hat. Riad will nicht nur zeigen, dass es mehr als einen Weg gibt, den Fußball zu beherrschen, sondern auch die Gesellschaft zu organisieren.

Der saudische Weg bedeutet jedoch nichts Gutes für Minderheiten, wenn sie nicht gerade Fußballstars sind. Zwar will das Land auf seiner englischsprachigen Tourismus-Seite auch queere Besucherinnen und Besucher anlocken - im FAQ-Bereich wird die Frage "Sind LGBT-Besucher willkommen in Saudi-Arabien?" beantwortet mit: "Jeder ist willkommen in Saudi-Arabien und Besucher werden nicht dazu aufgefordert, solche persönlichen Informationen offenzulegen." Doch homosexuelle Handlungen sind strafbar und mit Peitschenhieben und im Höchstmaß mit der Todesstrafe bedroht. Vor und nach der WM in Katar wurden von der Saudi-Regierung Regenbogen-Utensilien und One-Love-Logos einkassiert.

81 Hinrichtungen an einem Tag

Dennoch: Für viele Muslime ist das Königreich attraktiver geworden, seit bin Salman weitreichende soziale Reformen eingeleitet hat, die die beruflichen und sozialen Chancen von Frauen verbessern, die Geschlechtertrennung aufgehoben und eine Unterhaltungsindustrie samt Kinos, Konzerten und schicken Cafés nach westlichem Vorbild eingeführt haben. Die Fußball-Profis und ihre Familien goutieren den gehobenen Lebensstandard. Gleichwohl: Die Veränderungen kann man natürlich nur genießen, wenn man das harte Vorgehen gegen Frauen, Andersdenkende und freie Meinungsäußerung akzeptiert, und solange man nichts gegen Königshaus und Regierung sagt und genug Geld hat.

Auch Geopolitik spielt eine Rolle in der Vision 2030 des Kronprinzen und ist eng verbandelt mit der Transferoffensive dieses Sommers. Etabliert sich Saudi-Arabien als Big Player im Fußball-Business, wird die Saudi Pro League zu einer der fünf besten Ligen der Welt, dann zementiert das die ohnehin schon starke Rolle bin Salmans im arabischen Raum.

Sein Ziel: Das Königreich steigt auch durch den Fußball und andere glitzernde Sportevents (bestens bekannt sind auch saudische Expansionen ins Boxen, die Formel 1 oder den Golfsport) zu einer respektierten Großmacht in einer neuen multipolaren Weltordnung auf. Kriegsverbrechen im Jemen? 81 Hinrichtungen an einem Tag, die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi? Die brutale Unterdrückung der Menschenrechte, Pressefreiheit und politischen Rechte im eigenen Land? Das soll alles vergessen werden.

Sportswashing, Spektakel, WM 2034

Sportswashing nennt man dieses Konzept. Die Sünden mit schillernden Fußballstars reinwaschen. Diese Kritik des Westens weisen bin Salman und Co. zurück. Und der Plan geht auf. Immer mehr Fußballer scheinen kein Problem mit der moralischen Frage zu haben, inwiefern sie sich für die Zwecke der saudischen Monarchie instrumentalisieren lassen wollen. Millionen Menschen, nicht nur im arabischen Raum, freuen sich auf die spektakuläre Saison mit Ronaldo, Benzema und Co.

Auch der Fußball-Weltverband FIFA mischt fröhlich mit, überlegt, die eigene Zentrale nach Riad zu verlegen und legitimiert damit die Machtspiele von bin Salman und Co. Die FIFA Klub-WM findet in diesem Winter in Dschidda statt, die Weltmeisterschaft 2034 will die Königsfamilie als endgültiges i-Tüpfelchen nach Saudi-Arabien holen. FIFA-Boss Gianni Infantino hätte nichts dagegen, er umgibt sich schon jetzt nur allzu gern mit den Machthabern des Landes. Das Königreich soll zudem an der gescheiterten Gründung der Super League mitgewerkelt haben, natürlich mit dem Plan, einen saudischen Verein dort zu etablieren. Ein weiterer Teil einer Attacke auf die Strukturen des Fußballs, wie Europa ihn kennt.

An diesem Wochenende startet die Saudi Pro League, die so viel mehr als Fußball bedeutet. Es geht um Machtkämpfe, Religion und Vorherrschaft im beliebtesten Sport der Welt. Die Millionen Saudis, die in Armut leben, die Dissidenten in den Gefängnissen, die unterdrückten Frauen, die Queeren, die sich und ihre Sexualität verstecken müssen - sie alle können mit Mohammed bin Salmans Plänen und mit Ronaldo, Benzema und Mané im eigenen Land aber wenig anfangen. Sie kämpfen um ihre eigene Existenz.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen