Von WM, Folter und Hinrichtung Bis der dunkle Saudi-Schatten den Sport komplett auffrisst
01.01.2024, 09:44 Uhr
Eine Frau passiert in Riad die Porträts des Kronprinzen, des ehemaligen und des aktuellen Königs (v.l.) von Saudi-Arabien.
(Foto: IMAGO/Bildbyran)
Heute vor einem Jahr wechselte Cristiano Ronaldo nach Saudi-Arabien. Damit beginnt ein nie dagewesener Angriff auf den Fußball. Innerhalb eines Jahres stellt das Königreich die Sportwelt auf den Kopf, während die FIFA Beifall klatscht - und viele Menschen unglaubliches Leid erfahren.
Diesen Angriff hat niemand kommen sehen. Irgendwie stand er zwar schon fest, nur wollten viele ihn nicht wahrhaben. Und die Abruptheit und Gewaltigkeit hat keiner erahnt. Wie ein dunkler Schatten frisst sich die Offensive Saudi-Arabiens im Jahr 2023 in die gesamte Sportwelt. Mit gefährlichen Folgen für Menschen ohne die Macht der Sport-Stars. Bedrohlich, mächtig - und unaufhaltsam.
Klar, pompös inszenierte und als Mega-Event aufgezogene Boxkämpfe im Königreich gibt es bereits seit ein paar Jahren. Schon als der Mord am Journalisten Jamal Khashoggi gerade ein Jahr her war. Es folgten erst kleinere Sportarten wie Snooker und dann, 2022, der Großangriff auf den Golfsport. Und auch im Fußball ist Saudi-Arabien spätestens seit 2021 kein unbeschriebenes Blatt, als der englische Premier-League-Klub Newcastle United aufgekauft und laut "The Independent" die Gründung der letztlich vorerst gescheiterten Super League entscheidend unterstützt wurde.
Dass aber der Schatten zu solch einem finsteren Gespenst mutieren könnte, sodass auf einmal das bestehende Fußball-System bedroht wird. Dass eine Art Angriff auf das alte Bollwerk Europa samt Topligen und Champions League (immer wieder wird über ein Team aus dem Königreich in der Königsklasse gemunkelt) stattfindet und sie in der Zukunft in den Schatten stellen könnte. Dass Saudi-Arabien Fußball und andere Sportarten tatsächlich kapern, übernehmen und beherrschen möchte.
Dass Cristiano Ronaldo und Co. als Mittel zum Zweck dienen würden, damit etwa nicht über Salma al-Shehab gesprochen wird, die 35-jährige Doktorandin, die im August 2022 zu einer 34-jährigen Haftstrafe und einem anschließenden 34-jährigen Reiseverbot verurteilt wurde, weil sie auf Twitter mangelhafte Frauenrechte im Königreich beklagt hatte. Damit hat niemand so richtig gerechnet.
Benzema und Neymar folgen auf Ronaldo
Die Fußball-Offensive geschieht mit einer knapp eine Milliarde Euro teuren Odyssee - lediglich Ablösesummen, versteht sich; Gehälter, Neymars Luxus-Herberge mit 25 Zimmern oder goldene Throne in Flugzeugen nicht mit einberechnet. Ronaldo macht im Januar den Anfang, im Sommer folgen der brasilianische Superstar Neymar, Ballon d'Or-Gewinner Karim Benzema, Ex-Bayern-Star Sadio Mané und viele weitere. Es scheppert ordentlich im Gebälk der europäischen Topklubs, auch weil niemand mit den Saudi-Millionen mithalten kann (die Finanzierungsregeln des europäischen Verbands UEFA gelten hier selbstredend nicht) und die Klubs der Saudi Pro League noch einkaufen dürfen, wenn in Europa das Transferfenster schon geschlossen hat.
Nach einer Analyse der Wirtschaftsprüfungsfirma Ernst & Young wächst der Wert der Sporteventbranche in Saudi-Arabien jährlich um acht Prozent (von zwei Milliarden Euro 2018 auf schätzungsweise drei Milliarden Euro 2024). Das finale Ziel lautet: Fußball-Weltmeisterschaft 2034. Das größte Event der Sportwelt auf dem gesamten Planeten. Doch zu diesen Plänen später mehr.
Als Nächstes ist das Tennis dran, auch wenn hier die Art des Investments noch nicht klar ist. "Es gibt hier in Wimbledon Gespräche und es heißt, dass die Saudis mit einem Angebot näherkommen", sagt DTB-Präsident Dietloff Arnim gegenüber ntv.de am Rande des Wimbledon-Turniers in London. Auch im Radsport (der führende Rennstall Jumbo-Visma soll übernommen werden), im Handball (nach den Klub-Weltmeisterschaften der vergangenen vier Jahre will der Staat auch ein WM-Turnier im Jahr 2029 oder 2031 ausrichten) oder Esports (nach dem Kauf deutscher Esport-Firmen wird Riad ab Sommer 2024 kurzerhand eine eigene, jährliche Esports-WM veranstalten - natürlich mit dem größten Preisgeld in der Geschichte des Esports) trifft Saudi-Arabien auf offene Ohren.
Islam und ein "Geldtopf"
Für all diese Investitionen braucht es viel Geld. Oder gar einen "Geldtopf", wie Uli Hoeneß es im Herbst im Gespräch mit ntv/RTL beschrieb. Was der Ehrenpräsident des FC Bayern meinte, ist der PIF, der schier unerschöpfliche Public Investment Fund. Der Staatsfonds des Königreichs, dem einige Klubs der Saudi Pro League gehören, soll etwa 600 Milliarden Euro schwer sein. Jüngst gründete das Land zusätzlich eine neue Investmentgesellschaft, die sich ausschließlich auf Sportunternehmen konzentriert.
Die Sport-Übernahmen sind Teil der "Vision 2030", mit der sich Saudi-Arabien dem Westen gegenüber öffnen und modernisieren will und die Wirtschaft innerhalb von nur zwei Dekaden unabhängig vom Öl machen möchte. Es geht dabei aber um viel mehr. Zum Beispiel um Macht, denn die saudische Herrscherfamilie will mithilfe von großen Fußball-Stars und Sportevents die Gefahr der Rebellion gedämmt und die junge Bevölkerung (63 Prozent der 32,2 Millionen Saudis sind 29 Jahre alt oder jünger) ruhig- und zufriedenstellen. Die nationale Identität soll gestärkt werden.
Aber es geht wie so oft in der Region auch um Religion. Viele Sommer-Neuzugänge gehören dem muslimischen Glauben an. Neben den üppigen Ablösesummen und Gehältern sind auch Religion und das Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit Gründe für ihre Odyssee in die Heimat von Mekka und Medina.
Der Islam ist eine wichtige ideologische Währung für das Königreich, das die Vormachtstellung in Sachen religiöse Soft-Power in der muslimischen Welt einnehmen will. Das Ziel: Das Königreich steigt auch durch den Fußball und andere glitzernde Sportevents zu einer respektierten Großmacht in einer neuen multipolaren Weltordnung auf. In dieser agiert Riad ebenso selbstbewusst wie in der Welt des Sports, wie etwa die Annäherungen an Israel vor dem Krieg in Nahost zeigten. Geopolitik ist kaum noch von der Sportwelt zu trennen.
"Folter und Misshandlung" in Saudi-Arabien
Der Westen und Deutschland stehen neuen Playern aus dem Nahen Osten anfangs oft kritisch gegenüber. Aber weil der Westen schon länger mit erhobenem Zeigefinger auf Menschen-, Frauen- und LGBT-Rechte pocht, sieht sich Saudi-Arabien darin bestärkt, zu definieren, wofür der Islam im 21. Jahrhundert steht. Und den säkularen Westen zurechtzuweisen, wie dieser es lange mit nicht-westlichen Ländern getan hat. Ein selbstbewusstes Riad will nicht nur zeigen, dass es mehr als einen Weg gibt, den Sport zu organisieren und den Fußball zu kapern, sondern auch die Gesellschaft zu organisieren.
Einerseits muss der Westen das aushalten können und akzeptieren, dass Sportevents in der Golf-Region und im Nahen Osten für die vielen Fans vor Ort Highlights darstellen, die sie vorher nie zu Gesicht bekamen. Die Jubelstimmung vieler muslimischer Fans verschiedener Ländern bei der WM in Katar, als etwa Saudi-Arabien Argentinien besiegte oder Marokko bis ins Halbfinale vordrang, bezeugte, wie groß die Lust dort auf Ronaldo und Co. wirklich sein kann.
Andererseits hebt der Westen den Zeigefinger nicht ohne Grund. Das Königreich ist aufgrund seiner diversen Menschenrechtsverletzungen zurecht höchst umstritten. Und ohnehin können die 20 Prozent der 32,2 Millionen saudischen Bürgerinnen und Bürger, die in Armut leben - viele von ihnen sind Frauen oder Mitglieder von Haushalten, die von Frauen geführt werden - an den schillernden Fußball-, Box- oder Golf-Events nicht teilhaben.
Der Landesbericht 2023 von Human Rights Watch sieht "friedliche Dissidenten, Intellektuelle und Menschenrechtsaktivisten verhaftet" und Bürgerinnen und Bürger "zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt, weil sie in sozialen Medien gepostet haben". Wie etwa Salma al-Shehab. Missbräuchliche Praktiken in Haftanstalten, "einschließlich Folter und Misshandlung", längere willkürliche Inhaftierung und Beschlagnahmung von Vermögenswerten ohne klares Gerichtsverfahren, sind demnach weiterhin allgegenwärtig.
Bin Salman steht zu Sportswashing
Damit nicht genug: "Die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien verschlechtert sich in vielerlei Hinsicht", sagte Stephen Cockburn, der bei Amnesty International in London für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zuständig ist, Ende November. Kriegsverbrechen im Jemen? Die mutmaßlichen Tötungen von Hunderten äthiopischen Asylsuchenden an der Grenze? 81 Hinrichtungen an einem Tag? Auch Minderjährige sind nicht vor der Todesstrafe gefeit. Diesen finsteren Schatten wollen die saudischen Machthaber verschleiern - und auch hier kommt der Sport mit seiner mächtigen Strahlkraft ins Spiel.
Sportswashing heißt das Prinzip. Mit Großevents und Investitionen in den Sport über die Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen hinwegtäuschen. Bilder von Ronaldo und nicht von Salma al-Shehab oder Jamal Khashoggi sollen im Ausland dominieren. Ende September hat sich Kronprinz Mohammed bin Salman, der faktische Herrscher des Königreichs, zum ersten Mal zu diesen Vorwürfen geäußert und gab zu, dass diese Methode eine Art Staatspolitik ist. In einem in Saudi-Arabien aufgezeichneten, englischsprachigen Interview mit US-Sender Fox News sagte "MBS", dass ihm die Vorwürfe gegen sein Land "egal" seien. Für "MBS" zähle nur der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts. "Wenn Sportswashing mein Bruttoinlandsprodukt um ein Prozent erhöht, dann werde ich weiter Sportswashing betreiben", sagte er. Und so wird der Sport Stück für Stück vom Schatten der Verbrechen verschlungen.
Bin Salman, seit 2022 auch Premierminister des Landes, ist einer der mächtigsten Männer auf dem Planeten und schert sich weder um die Vorwürfe noch um die Menschen in seinen Gefängnissen und die Hingerichteten. Dennoch hat der Kronprinz, der für eine der dunkelsten Phasen bezüglich Menschenrechtsverletzungen in der Geschichte des Landes verantwortlich ist, in der FIFA und ihrem Präsidenten Gianni Infantino längst große Verehrer gefunden. Der FIFA-Boss geht im Königreich ein und aus, schüttelt fleißig Hände und grinst eifrig in Kameras. Laut der britischen "Times" soll der saudische Öl-Gigant Aramco für rund 100 Millionen Euro pro Jahr ein neuer Großsponsor der FIFA werden.
Die FIFA und Infantino jedoch legitimieren nicht nur die Sportswashing-Methodik und die großen Investitionen in Fußball und Co. bei sich verschlechternder Menschenrechtslage; sie gehen noch einen gewaltigen Schritt weiter. Ende November machen sie Saudi-Arabien zum quasi-fixen Ausrichter der Weltmeisterschaft 2034, obwohl die eigentliche Vergabe erst im letzten Quartal 2024 stattfindet. Das passt: Bereits 2013 erklärte der damalige FIFA-Generalsekretär Jérôme Valcke, als er die Strategie des Weltverbandes bei der Auswahl der WM-Gastgeber erläuterte: "Ich werde etwas Verrücktes sagen, aber weniger Demokratie ist manchmal besser für die Organisation einer Weltmeisterschaft." Valcke wurde später wegen Korruption verurteilt, die Liebe für Autokraten blieb.
Arbeitsmigranten in Saudi-Arabien "als Wegwerfware"
Für Riad ist der Gipfel nah. Das Endziel aller Anstrengungen im Angriff auf die Sportwelt. Das ultimative Fußballturnier als bisher strahlendster Diamant in der Sportswashing-Krone. Die Übernahme des Weltfußballs ist wenigstens für einen Sommer (oder eher Winter) gesichtert. Katar hat es vorgemacht, Saudi-Arabien wird in Sachen Prunk und "bester WM aller Zeiten" (O-Ton Infantino) noch eine Schippe drauflegen.
Und auch mit Bezug auf Menschenrechtsverletzungen im Arbeitssektor ist die Lage im Königreich ähnlich im Emirat. Gewerkschaften, Streiks und Proteste sind verboten. Ein Bericht von Human Rights Watch urteilte erst vor wenigen Tagen, dass die Golfstaaten Arbeitsmigranten "als Wegwerfware behandeln". Zwar wird auch die Sportwelt bis zur WM 2034 weiter leiden, aber die echte nächste Katastrophe, die sich anbahnt, ist eine menschliche.
Währenddessen verdient Cristiano Ronaldo 200 Millionen Euro pro Jahr, schüttelt Mohammed bin Salman die Hand und lächelt in die Kameras - und Salma al-Shehab leidet im Gefängnis, weil sie sich für Frauenrechte starkmachte.
Quelle: ntv.de