Mittelfinger für Autokraten Paris' olympische Prunkshow polarisiert, provoziert und vereint die Welt

Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele ist gigantisch. Es gibt keinen Zweifel, dass sie die gigantischste der Geschichte war. Aber womöglich auch die langatmigste. Es gibt viele großartige Botschaften - die in einer zerrissenen Welt als Mittelfinger fungieren.

Nach vier Stunden war es dann geschafft. Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele endete mit einem großen Finale. Die schwer kranke Céline Dion sang auf dem Eiffelturm "L'Hymne à l'amour" der französischen Chanson-Ikone Édith Piaf. Es war ihr erster Auftritt seit vier Jahren und der zweite große Gänsehaut-Moment des Abends. Zuvor war das olympische Feuer an den großen Sehenswürdigkeiten der Stadt, vom Eiffelturm kommend, am Louvre vorbeigetragen worden, ging durch die Hände von Legenden des Sports, von Para-Athleten und des im Rollstuhl sitzenden Charles Coste, dem mit 100 Jahren ältesten noch lebenden Olympiasieger (Radsport), und stieg wenig später, entzündet von Leichtathletin Marie-José Pérec und Judoka Teddy Rinerals, als flammender Ballon in den Pariser Nachthimmel. Dort soll es die nächsten 16 Tage bleiben.

Es war ein atemberaubendes Finale einer Show, die polarisierte und provozierte. Manch einer wähnte sich in einem Rausch ohne Bremse, andere sehnten früh das Ende herbei. Das Bild des mürrisch dreinschauenden FIFA-Bosses Gianni Infantino wurde zum Meme der Gelangweilten. Immerhin die Dramaturgie stimmte, denn je länger dieses Spektakel vor 300.000 Zuschauern dauerte, desto stimmungsvoller wurde der Abend. Was auch an der einbrechenden Nacht lag, die die gigantische Laser- und Lichtershow zur Wirkung brachte. Paris darf für sich verbuchen, das selbst gesteckte Ziel erreicht zu haben. Bereits am ersten Eröffnungstag. Man wolle, so sagte der Organisationschef Tony Estanguet in seiner Rede, die Spiele noch größer machen. Check. Dass es beim Hissen der Olympischen Flagge einen Patzer gab: Sie wurde zunächst verkehrt herum aufgezogen - egal!

Die olympische Magie kommt spät

Und Spielraum für noch mehr bei den nächsten Spielen ließen sie nicht. Wer soll denn noch mehr Pomp, noch mehr Stars, noch mehr Geschichte an den Start bringen als Paris? Zum dritten Mal empfängt die Metropole die Welt zum sommerlichen Kampf der Giganten - nach 1900 und 1924. Und wohl nie zuvor war der Auftakt so voller Botschaften an die Welt. Die Show war schrill, bunt, provokant, historisch in jeder Hinsicht - in vielen Momenten auch zermürbend langweilig. Manche Acts verloren sich in der Länge des Auftritts, so etwa der geheimnisvolle Reiter, der auf einem beleuchteten Wasserfeuerzeug über die Seine ritt. Und auch die außergewöhnliche Idee mit den Athleten-Booten ging nur bedingt auf. Im Pariser Grau und Nass wollte lange keine enthusiastische Stimmung aufkommen. Erst mit einbrechender Dunkelheit, mit mehr wummernden Beats und kleineren Nationen wurde es atmosphärisch. Die olympische Magie des Besonderen blitzte auf.

Die Seine wurde zur Disco und langsam zum größten Spektakel auf dem Fluss seit 285 Jahren - damals hatten die Hochzeits-Feierlichkeiten der zwölfjährigen Louise-Elisabeth, Tochter von König Ludwig XV., und des spanischen Infanten Philipp Prunk-Maßstäbe gesetzt. Diese wurden nun in Fetzen gerissen, vor den Augen einer Welt, die zerrissen ist wie lange nicht. Erschüttert von Konflikten, Kriegen und anderen Krisen.

Weltoffen und hemmungslos

Pop-Superstar Lady Gaga trat in einem ultrakurzen Outfit auf, an ihrer Seite wedelten Tänzer mit rosa Puscheln. In der Stadt der Mode nichts, was es nicht gibt. Minutenlang begeisterte sie das noch trockene Publikum mit ihrer Revue-Einlage. Paris zeigte sich, wie es ist. Weltoffen, hemmungslos. Noch während die Schiffe mit den Athleten über die Seine fuhren, tanzten weiße Models und People of Color über einen pitschnassen Catwalk. Den Kostümen junger Designer waren keine Grenzen gesetzt, dem Habitus auch nicht: Männer in Strumpfhosen und Kleidern, wild knutschende Models im gehobenen Alter, ein blau bemalter Gott Dionysos, lasziv posend und nur leicht bekleidet, der auf einem riesigen Kunst-Obstteller lag und Dragqueens sowie Transgender-Models, die Leonardo da Vincis berühmtes Gemälde "Das letzte Abendmahl" nachstellten. Wild angetrieben von Barbara Butch, der DJane-Ikone der LGBTIQ+-Bewegung. Was für ein Mittelfinger in Richtung all jener Autokraten, die das freie Leben unterwerfen oder unterwerfen wollen.

Die Show kam in diesem Moment richtig in Wallung, löste sich vom langsamen Schritt durch die Geschichte. Immer wieder tauchten Vielfalt, Multikulturalität und verschiedene Geschlechtsidentitäten auf. Über den Dächern tanzte der erste schwarze Solist an der Pariser Oper. Auch die Nationalhymne wurde von einer Frau of Color gesungen. Das Land, das zuletzt weit nach rechts gerückt und nur mit einem gewaltigen Kraftakt und lauten Stimmen des Sports eine rechtsextreme Mehrheit im Parlament verhindert hatte, zeigte sich stolz auf das, was es hat. Auf seine royale Tradition, etwa mit einer spektakulären Metal-Hommage an die geköpfte Marie Antoinette, auf seine vielfältige Kultur und auf die Liebe, die in der Hauptstadt ihre Heimat hat.

Thomas Bach, der ewige Visionär, der sich gerne als großen Versöhner und Friedensstifter sieht, beschwor nach einer flammenden Liebeserklärung an die Stadt des Gastgebers die offene Gemeinschaft des Sports, die die Athleten beim Einzug ins gemeinsame Dorf leben und erleben würden. Wie Generationen vor ihnen. Der umstrittene IOC-Chef fand diesmal richtige, wichtige und nicht zu überschwänglich Worte: "In einer von Kriegen und Konflikten zerrissenen Welt ist es der Solidarität zu verdanken, dass wir heute zusammenkommen können." 6800 Sportlerinnen und Sportler aus 205 Nationen gehen an den Start, hinzu kommt noch das Flüchtlingsteam.

Anschließend bemühte Bach ein Zitat von John Lennon aus dem Song "Imagine", einem Friedenslied: "Manche mögen sagen, wir in der olympischen Welt seien Träumer. Aber wir sind nicht die einzigen. Und unser Traum wird heute Nacht wahr: eine Realität, die jeder sehen kann", sagte Bach. "Olympia-Teilnehmer aus der ganzen Welt zeigen uns, zu welcher Größe wir Menschen fähig sind. Also lade ich jeden ein: Träumt mit uns." Das Lied war zuvor von der französischen Pop-Sängerin Juliette Armanet auf einer Insel in Herzform mitten auf der Seine gesungen worden. Paris war still und lauschte diesem einzigartigen Moment.

Warum die "zerrissene Welt" dieses Motto gut gebrauchen kann, zeigte sich kurz zuvor. Die Eröffnungsfeier wurde zum Mikrokosmos der kaum überschaubaren Weltpolitik. Es fuhr das Schiff mit den israelischen Athletinnen und Athleten über die Seine. Wegen des Kriegs in Gaza wurde es am stärksten bewacht. Genau davor schipperte das von Irak und dann das des Iran, Israels Erzfeind, durch das Fluss-Wasser. Wenig später folgte das Boot mit den Palästinensern. Anfeindungen gab es nicht, in der Realität außerhalb der olympischen Blase ist das bis in ferne Zukunft nur ein Traum.

"Nennen Sie ein besseres Duo, ich warte."

Wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine durften zudem die 15 russischen Athletinnen und Athleten nicht an der Parade teilnehmen, sie starten in Paris unter neutraler Flagge. Die Menschenrechtsorganisation Global Rights Compliance hatte erst vor wenigen Tagen Vorwürfe gegen die Mehrheit von ihnen erhoben, den Angriffskrieg unterstützt zu haben oder mit dem Militär verbunden zu sein. Viele haben das Träumen in diesem Konflikt bereits aufgegeben.

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Auch Frankreich ist in diesen Wochen und Monaten zerrissen wie lange nicht mehr. Die Erfolge des Rassemblement National um die Rechtsextremistin Marine Le Pen bei der Europa-Wahl hatte Staatspräsident Emmanuel Macron zu Neuwahlen bewegt. Umso beeindruckender war bei der Eröffnungsfeier der Auftritt von Aya Nakamura. Die französisch-malische R&B-Künstlerin, die in einer Banlieue in Saint-Denis aufgewachsen ist, war in Frankreich schon mehrmals rassistisch angefeindet worden. Zuletzt, als bekannt wurde, dass sie bei der Show in Paris auftreten würde. Le Pen war unter den größten Kritikern, sprach von einer "Schande". Im Gegenzug mobilisierte Nakamura vor den Neuwahlen erfolgreich gegen Rechts.

Die meistgestreamte französischsprachige Sängerin gab nun ihre Songs ausgerechnet mit Musikern der Republikanischen Garde und Chorsängern der französischen Armee zum Besten. Ein Statement der Solidarität und für Diversität. Ein Mittelfinger für die Spalter in der Grande Nation. Gabriel Attal, der französische Premierminister, schrieb zu der Kollaboration auf X: "Nennen Sie ein besseres Duo, ich warte."

Quelle: ntv.de

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