Wirtschaft

Leben und zahlen ohne VISA-Karte Vielen Russen bleibt nur noch Konto-Tourismus

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VISA- und MIR-Karte sehen sich ähnlich. Aber während die eine Geldkarte weltweit einsetzbar ist, funktioniert die andere fast nur noch in Russland.

(Foto: picture alliance/dpa)

2015 führt Russland eine Alternative zu VISA und Mastercard ein. Das Bezahlsystem MIR ist in der Heimat weit verbreitet. Aber weil selbst vermeintliche Freunde ihre Distanz zum Kreml wahren, sehnen sich viele Russinnen und Russen nach Konten im Ausland.

Seit Februar überzieht der Westen Russland für den Angriff auf die Ukraine mit Sanktionen. Daran beteiligen sich vor allem die USA und die EU. Die allermeisten Staaten der Welt halten sich neutral zurück. Doch der Einfluss des Westens ist groß. Das spüren derzeit auch viele Russen, die seit der Teil-Mobilisierung am 21. September ins vermeintlich befreundete Ausland geflüchtet sind. "Seit kurzem können sie in Ländern wie Usbekistan, Kasachstan oder der Türkei kein Bargeld mehr abheben oder keine Überweisungen mehr durchführen", erklärt Alena Epifanova von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".

Eine Entwicklung, die auf eine Entscheidung zurückgeht, die russische Nachrichtenagenturen am 19. September vermeldet hatten. "Die großen türkischen Banken Is Bankasi und DenizBank bestätigen, dass sie den Service für russische MIR-Karten eingestellt haben", hieß es bei RIA Nowosti. Mehrere türkische Hotels des bei russischen Urlaubern beliebten Landes gaben denselben Beschluss bekannt.

Denn laut der "Financial Times" arbeiten das US-Finanzministerium, EU-Behörden und die britische Regierung derzeit im Hintergrund daran, mögliche Lücken in ihren Sanktionspaketen zu schließen. Vor allem das weitgehend untätige NATO-Mitglied Türkei soll in den Fokus gerückt sein: Demnach warnen westliche Vertreter die Regierung in Ankara, aber auch türkische Banken und Unternehmen deutlich, dass Sekundärsanktionen drohen, wenn sie Russland weiterhin helfen sollten, die westlichen Strafmaßnahmen zu umgehen.

Keine Überraschung

Eine Drohung, die wirkt. Während die russische Zeitung "Kommersant" noch erklärte, welche Auswege es für türkische Banken geben könnte, zogen andere vermeintliche Russland-Freunde nach: Seit dem 20. September akzeptieren auch Armenien, Kasachstan und Vietnam keine Transaktionen mehr mit Karten des russischen MIR-Systems. Drei Tage später gab Usbekistan dieselbe Entscheidung bekannt. Und China, "bester Freund" der russischen Führung, hatte die VISA- und Mastercard-Alternativen zu diesem Zeitpunkt schon seit fast einem halben Jahr ignoriert.

Für Alena Epifanova kommt diese Entwicklung nicht überraschend. In persönlichen Gesprächen hätten ihr Unternehmen und Privatpersonen aus Kasachstan oder Usbekistan bereits im Sommer mitgeteilt, was passiert, wenn die Frage der Sanktionsumsetzung aufkommen sollte, sagt die Berliner Expertin für russische Technologiepolitik: Sollte es Druck aus dem Westen geben, schalten wir die russischen Zahlungssysteme aus, fasst sie die Antwort auf ihre Frage zusammen. Denn niemand würde schlechte Beziehungen mit den USA oder der EU riskieren wollen.

Krim annektieren, MIR einführen

Dabei wollte der Kreml diese Entwicklung eigentlich verhindern, indem er Russland in möglichst vielen Bereichen der Wirtschaft unabhängig vom Westen macht - unter anderem durch das MIR-System, das der Kreml 2014 nach der Annexion der Krim angekündigt hatte. Die EU und die USA hatten nach der völkerrechtswidrigen Einverleibung der ukrainischen Halbinsel Sanktionen gegen mehrere russische Banken verhängt. Die amerikanischen Kreditkartenriesen VISA und Mastercard setzten die betroffenen Geldhäuser anschließend auf eine schwarze Liste für Unternehmen und Banken, deren Transaktionen nicht mehr abgewickelt werden dürfen.

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Für den Kreml war es das Signal, dass Russland ein eigenes Zahlungssystem braucht. Damit wollte er sich auf einen absehbaren Ausschluss aus dem SWIFT-System vorbereiten, das internationale Geldströme zwischen Banken und anderen Finanzinstituten leitet und abwickelt. Auch eine Blockade westlicher Zahlungsdienstleister wie VISA, Mastercard, aber auch Applepay, Googlepay und Paypal sollten auf diesem Wege abgefedert werden.

Neues Konto im Ausland

Auf den ersten Blick ist der Plan aufgegangen: Seit Einführung der russischen VISA-Ersatzkarten im Jahr 2015 wurden ungefähr 100 Millionen Stück davon an Russinnen und Russen herausgegeben. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung besitzt eine. Knapp ein Viertel der russischen Transaktionen wird mit MIR abgewickelt.

Gleichzeitig haben aber auch nur acht Länder den Service akzeptiert. Darunter sind mit Armenien, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan und Weißrussland sechs frühere Sowjet-Republiken. Dazu kommen die Türkei und Vietnam. Doch inzwischen ist der Service stark eingeschränkt: Ein russischer Reiseveranstalter empfiehlt Kundinnen und Kunden, möglichst mit Bargeld in die Türkei zu reisen, weil es kaum noch Möglichkeiten gibt, mit Karte zu bezahlen.

Probleme, die sich selbst in der russischen Heimat nicht vollständig vermeiden lassen. Denn ohne weltweit verbreitete Alternativen wie der VISA-Karte sind in den allermeisten Fällen keine Überweisungen mehr ins Ausland möglich. Das wird vor allem dann zum Problem, wenn russische Unternehmen Rechnungen für importierte Waren bezahlen müssen.

Deshalb hat sich in Russland eine neue Art von "Urlaubsreise" entwickelt, erklärt Alena Epifanova von der DGAP: der Konto- oder Banken-Tourismus. Viele Russinnen und Russen würden in der Heimat möglichst viel Bargeld abheben, damit nach Zentralasien oder in die Türkei reisen und dort ein Konto für eine Kreditkarte eröffnen, sagt die Politologin. "Dann haben sie auch in Russland wieder dieselben Zahlungsoptionen wie mit einer VISA-Karte oder einer Mastercard, die in der EU ausgestellt wurde".

Usbekistan verschärft Regeln

Die beliebtesten Länder für den Konto-Tourismus sind nach Angaben des russischen Wirtschaftsportals RBC Kirgisien, Usbekistan und Armenien. Dort wurden von April bis Juni, zwischen 16 und fast 40 Prozent mehr VISA- und Mastercard-Karten herausgegeben als im Vorjahreszeitraum.

Zuletzt soll die Nachfrage allerdings schon wieder nachgelassen haben. Einerseits, weil immer mehr EU-Staaten wie Finnland ihre Grenzen für russische Bürger schließen und VISA- und Mastercard-Karten aber neben Überweisungen vor allem für Reisen ins Ausland benötigt werden. Andererseits haben beispielsweise usbekische Banken die Bedingungen für eine Kontoeröffnung ausländischer Bürger verschärft, berichtet das unabhängige russische Onlinemedium "The Bell" aus dem Exil. Neuerdings müssen sie sich mindestens 15 Tage in Usbekistan aufhalten, bevor sie ein Konto eröffnen dürfen.

Mutiger Dominoeffekt

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Auch die vermeintlichen Russland-Freunde wollen es sich nicht mit den USA und der EU verscherzen, erklärt DGAP-Forscherin Epifanova die Haltung von Regierungen, Banken und Unternehmen in der Türkei und früheren Sowjet-Republiken. Dazu komme eine Art Dominoeffekt: "Man sieht, dass Kasachstan die Zahlungen mit dem MIR-System ausgesetzt hat, Armenien zum Teil auch. Und Usbekistan. 'Wenn die anderen sich trauen, können wir das auch machen'", beschreibt sie das Vorgehen.

Denn nach dem Zusammenbruch vieler Wirtschaftsbeziehungen hofft man in Astana und Taschkent auf Investitionen aus dem Westen, nicht Sanktionen. "Außerdem wollen sie nicht in einen Krieg hineingezogen werden, den sie sowieso nicht unterstützen - auch wenn sie das öffentlich so nie sagen würden", sagt die Politologin.

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.

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Quelle: ntv.de

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