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"Da muss man einfach durch" Jahrzehnte in der Eisernen Lunge - kein Einzelfall

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1955 gab es in Boston Hunderte Polio-Fälle - teils wurden sie in der Polio-Notstation des Haynes Memorial Hospital behandelt.

1955 gab es in Boston Hunderte Polio-Fälle - teils wurden sie in der Polio-Notstation des Haynes Memorial Hospital behandelt.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Über 70 Jahre lebt Paul Alexander mit einer Eisernen Lunge, bevor er vor wenigen Tagen stirbt. Er ist kein Einzelfall. In seiner Generation gibt es zahlreiche Menschen, die Polio in das Gerät zwingt. Auch ein Deutscher nutzt das Gerät zumindest für seinen Schlaf. Fast fünfzig Jahre lang.

Es ist erstaunlich und beeindruckend mit welchem Elan Paul Alexander sein Leben meisterte. Der Mensch, der am längsten in einer Eisernen Lunge lebte, starb vor wenigen Tagen - Medienberichten zufolge an einer Corona-Infektion. 78 Jahre wurde er alt. Paul Alexander lebte 72 Jahre mit der "Alten Dame", wie er das Gerät laut dem "Süddeutsche Zeitung Magazin" nannte. In dem Interview aus dem Januar bezeichnete er sich als "einen glücklichen Mann".

Alexander ist nicht der einzige Mensch, der nach einer Kinderlähmung Jahrzehnte in einem solchen Gerät lebte. 60 Jahre musste die Australierin June Middleton 21 Stunden am Tag in einer Röhre liegen, die ihr das Atmen ermöglichte, ehe sie 2009 im Alter von 83 Jahren starb. Wenige Monate vor ihrem Tod feierte Middleton mit Freunden und ihrem Hund Angel, dass sich der Tag, an dem sie 1949 in die Eiserne Lunge kam, zum 60. Mal jährte. In einem Interview zeigte sich damals, dass sie die Situation- ähnlich wie Alexander - so gut wie möglich ertrug. "Es ist schwer zu erklären, aber da muss man einfach durch. Man muss das Beste draus machen und Hürden überwinden", sagte sie.

Prägende Krankenheit bis in die 1950er-Jahre

Alexander und Middleton sind keine Einzelfälle. Erst seit den 1950 waren erste Polio-Impfstoffe verfügbar, die mit den Jahren verbessert wurden. Davor gab es in vielen Ländern regelmäßig Polio-Epidemien. In den USA gehört die Krankheit für diejenigen, die in den 1940er- und 1950er-Jahren aufwuchsen, zum kollektiven Gedächtnis. Der Autor Philip Roth schrieb mit "Nemesis" gar einen Roman, der einen fiktionalen Polio-Ausbruch in New Jersey zur damaligen Zeit behandelte.

60 Jahre Leben mit einer Eisernen Lunge - das feierte June Middleton 2009.

60 Jahre Leben mit einer Eisernen Lunge - das feierte June Middleton 2009.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Alexander infizierte sich im Jahr 1952, als er sechs Jahre alt war, mit Polio. Die Krankheit, die auch als Kinderlähmung bekannt ist, greift das Nervensystem an und kann zu Lähmungen führen, bis die Atemmuskulatur versagt und der Erkrankte erstickt. Alexander kam zu seinem Glück rechtzeitig ins Krankenhaus und wurde in eine Eiserne Lunge gelegt. Er überlebte, konnte aber seitdem nur mithilfe des Geräts atmen. Bis vor wenigen Jahren konnte Alexander die Unterdruckkammer stundenlang verlassen, zuletzt fehlte ihm dazu die Kraft, berichtete das SZ-Magazin.

"Schützende Wände" für den Schlaf

Auch in Deutschland gibt es Fälle von Menschen, die Jahrzehnte mit einer Eisernen Lunge lebten. So etwa der von Ferdinand Schießl, der als fast Zweijähriger 1958 an Polio erkrankte. Wie er laut Informationen in einem Digitalprojekt zur Eisernen Lunge des Lippischen Landesmuseums berichtete, wurde ihm damals zum Verhängnis, dass er bei seiner Infektion noch ein wenig zu jung für die bereits existierende Polio-Impfung war.

Als "Schützende Wände" bezeichnete er dem "Spiegel" zufolge das Gerät, in dem er dann bis 2004 über vier Jahrzehnte nächtens lag, um zu schlafen. Wenn er wach war, nutzte er dem "Münchner Merkur" zufolge die sogenannte Froschatmung, die ohne sein verkümmertes Zwerchfell funktioniert habe. 2004 schaffte er es nach einigen Anlaufschwierigkeiten mit einer Atemmaske, sich an das Schlafen außerhalb des Geräts zu gewöhnen. Zehn Jahre später starb Schießl.

Es sind noch zahlreiche weitere Fälle von Menschen dokumentiert, die Jahrzehnte mit einer Eisernen Lunge lebten. Medienberichten zufolge gilt nun Martha Lillard aus dem US-Bundesstaat Oklahoma als eine der letzten oder gar als letzter Mensch, die mit Hilfe des Geräts ihr Leben bestreiten.

Quelle: ntv.de, mpe/dpa

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