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"Spiegel der Gefühlswelt" KI erkennt Missbrauch in Kinderbildern

Künstliche Intelligenz (KI) erkennt in Kinderzeichnungen auch bisher unbekannte Indikatoren für Missbrauch.

Künstliche Intelligenz (KI) erkennt in Kinderzeichnungen auch bisher unbekannte Indikatoren für Missbrauch.

(Foto: imago/photothek)

Kindesmissbrauch ist für Außenstehende oft schwer zu erkennen. Eine neue israelische Software kann Hinweise auf dunkle Geheimnisse in Kinderzeichnungen entdecken. Mit einer hohen Genauigkeit soll sie bald auch Mobbing, Einsamkeit und Essstörungen feststellen können.

Wegen des zunehmenden Antisemitismus in ihrer Heimat wandern in den letzten Jahren viele französische Juden nach Israel aus. Unter ihnen auch der Computeringenieur Marc Toledano, der seit neun Jahren mit seiner Familie in Haifa lebt. Als er eines Tages seinen Sohn zum Fußballtraining bringt, trifft er dort seinen ehemaligen Trainer wieder, der ihn in seiner Kindheit in Paris zwei Jahre lang missbraucht hatte. Während der Konfrontation mit seinem Ex-Coach bittet dieser ihn zwar um Vergebung. Der junge Vater erstattet trotzdem Anzeige.

"Schuld und Trauma quälten mich viele Jahre", erzählt das ehemalige Missbrauchsopfer. Um so glücklicher ist Toledano jetzt, seinen Beitrag beim Projekt des israelischen Startups Anima zu leisten. Das Unternehmen entwickelt zusammen mit erfahrenen Psychologen eine auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Screening-Lösung gezeichneter Selbstbildnisse. Während besonders Kinder in Zeichnungen und Erzählungen Gefühle, aber auch traumatische Erlebnisse verarbeiten, dienen sie für erfahrene Therapeuten als Fenster der mentalen Zustände ihrer Patienten - wo meistens Indizien für sexuellen Missbrauch zu erkennen sind.

"Kindesmissbrauch ist trotz seiner hohen globalen Prävalenz ein unterschätztes Phänomen. Ungefähr jedes achte Kind von 6 bis 14 Jahren hat dieses Trauma durchlebt", erklärt Therapeutin Rachel Lev-Wiesel vom Institut für Psychologie der Universität Haifa. "In ihren Selbstporträts hinterlässt die sexuelle Nötigung meistens eine klare Spur. Um diese Merkmale besser wahrzunehmen, entwickelte unser Forschungszentrum zusammen mit Amina ein System, das anhand der eingegebenen Charaktere Algorithmen erstellt, die die Bilder von sexuell missbrauchten Kindern von denen nicht missbrauchter unterscheiden kann."

Genauigkeit von 90 Prozent

Die erfahrene Kinderpsychologin ist die treibende Kraft hinter dem Konzept. In der Software wurde eine Datenbank mit Tausenden Selbstbildern von Minderjährigen gespeichert. Darunter mit Indikatoren, die in Forschungen der Expertin als Gemeinsamkeit für sexuelle Übergriffe identifiziert wurden, wie zum Beispiel schwarze oder geschlossene Augen sowie isolierte Körperteile. Durch immer mehr Informationen erkennt die Software in den Zeichnungen auch neue Markierungen des Missbrauchs.

Das Programm scannt die Bilder und liefert innerhalb kürzester Zeit ein Ergebnis. Mit einer Genauigkeit von 90 Prozent ist das Resultat für Lev-Wiesel richtungsweisend und soll demnächst auch Mobbing, Magersucht und Bulimie unter Kindern feststellen. "Das System ist wie viele Gehirne zusammen und kann als Warnhinweis eine große Hilfe sein", sagt die Expertin. Sie fordert, dass jedes Jahr, in jeder Klasse aller Bildungssysteme, alle Kinder untersucht werden, um das Gespenst des Missbrauchs zu verringern. "Die meisten Opfer sprechen nie oder erst nach vielen Jahren über ihr Leid. So kann KI präventiv eingesetzt werden."

Das Analysieren der Bilder von Minderjährigen ist nicht neu und existiert in seiner modernen Version bereits seit über 200 Jahren. In den letzten Jahrzehnten aber hat sich die Forschung professionalisiert und Zeichnungen sind zu einem bewährten Diagnosewerkzeug geworden. Besonders häufig wird es bei Kleinkindern eingesetzt, die noch nicht in der Lage sind, das Erlebte mit Worten zu beschreiben. "Missbrauchsopfer können sich in Bildern meistens besser als mit Worten ausdrücken", erklärt Michal Weimer, Psychologin und Dozentin am Magid-Institut der Hebräischen Universität in Jerusalem. "Sie spiegeln die Gefühlswelt der Kinder wider und veranschaulichen eine Reihe von Situationen ihres Lebens, die auch zu Hause passieren."

Warnung vor "Big-Brotherisierung"

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Weimer ist als erfahrene Trauma-Expertin und Autorin des Ratgebers "Vollständige Anleitung zum Entziffern von Kinderzeichnungen" eine große KI-Befürworterin auf diesem Gebiet. In ihren Forschungen hat sie Modelle entwickelt, die es ermöglichen, in Bildern nicht nur das Problem, sondern vor allem Lösungen zu finden, die dem Kind helfen sollen, die Schwierigkeit zu überwinden. "Wie in anderen Bereichen werden Computer immer wichtiger. Trotzdem sollte am Ende das menschliche Urteilsvermögen entscheiden", sagt Weimer. Sie warnt vor der Dynamik der "Big-Brotherisierung" durch die Technik, die das Hoheitsrecht der Eltern als Erziehungspersonen einschränken würde. "Auch wenn KI ein immer mehr bestimmender Faktor menschlichen Lebens ist, ist es wichtig, dass sie von demokratisch legitimierten Institutionen überwacht wird."

Während sich die Amina-Software noch zwischen Experimentier- und Anfangsstadium bewegt, ist definitiv zu erkennen, dass das System einen wichtigen Beitrag leisten kann. Therapeuten sind sich sicher, dass dieser technische Fortschritt allen zugutekommen wird. Das Startup-Unternehmen entwickelte zudem eine zusätzliche Software, die soziale Netzwerke scannt und gefährdete Jugendliche ausfindig machen soll. "Die KI sollte überall angewendet werden, wo Kinder tätig sind", wünscht sich Marc Toledano. Das ehemalige Opfer sexueller Gewalt weiß, das auch Technik keine hundertprozentige Sicherheit bietet, fordert aber, alle Minderjährigen in das System hineinzunehmen, um dieses Phänomen zu reduzieren. "So können missbrauchte Kinder früh geortet werden. Eine Art Warnglocke, als Lebensretter."

Quelle: ntv.de

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