Benachteiligung überwinden "Mit KI kann man Lerninhalte an Schüler anpassen"
24.06.2023, 13:12 Uhr Artikel anhören
Mit digitalen Lösungen lässt sich der schulische Alltag vereinfachen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Nach wie vor haben Schulen das Problem, dass sie nicht alle Kinder gleichermaßen gut betreuen können. Kommen dann noch Barrieren wie Behinderungen, Sprachprobleme oder Rechenschwächen hinzu, kann das die Lage drastisch verschärfen. Hier müssen Lehrer gezielt ansetzen. KI-Programme können sie dabei unterstützen, sagen Robert Kruschel und Katharina Hamisch. Welche Programme bereits im Einsatz sind, wie sie genau funktionieren und welche Risiken Künstliche Intelligenz im Bildungssektor bedeuten kann, erklären die Bildungsforscher im Gespräch mit ntv.de.
ntv.de: Künstliche Intelligenz kann dazu beitragen, Schulen inklusiver zu machen. Bevor Sie uns erklären, wie das gehen soll: Was genau verstehen Sie unter Inklusion?
Robert Kruschel: Wir schließen uns der Definition der Vereinten Nationen an: Bezogen auf Schulen bedeutet das, dass alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten, Bedürfnissen und sozialen Hintergründen gemeinsam lernen und sich entwickeln können. Schulen müssen entsprechend Barrieren abbauen, um eine Chancengerechtigkeit im Bildungssystem zu ermöglichen.
Katharina Hamisch: Es geht dabei nicht nur um Behinderungen. Vielmehr geht es auch darum, das System so zu verändern, dass alle Schülerinnen und Schüler Anschluss finden. Und zwar egal, ob sie aus armen Verhältnissen kommen, ob sie einen Migrationshintergrund haben, ob sie Menschen mit Behinderungen oder Hochbegabung sind. Inklusion deckt die gesamte Spanne an Vielfalt ab. Hier kann Künstliche Intelligenz helfen.
Inwiefern?
Robert Kruschel: Durch KI-Programme können Lerninhalte zukünftig schneller und leichter an den einzelnen Schüler angepasst werden. Sei es bezogen auf etwaige Sprachbarrieren, Rechenschwächen, Barrieren wie Sehstörungen oder Schwerhörigkeit. Dadurch bekommen viel mehr Personen einen auf sie zugeschnittenen Zugang zum Lernstoff. Außerdem können eventuell Probleme wie Ressourcenmangel oder das Fehlen von Lehrkräften angegangen werden.
Katharina Hamisch: Im Grunde rückt die reine Wissensvermittlung durch die Lehrperson in den Hintergrund. Das liegt daran, dass sich spätestens durch KI-Programme Informationen noch leichter beschaffen lassen. Schülerinnen und Schüler können ihnen Fragen stellen und bekommen sehr genaue Antworten. Natürlich gibt es da auch Probleme, etwa Falschinformationen oder erfundene Quellen ...
… was auch bei ChatGPT der Fall ist ...
Katharina Hamisch: … genau. Doch ich denke, das wird immer weiter verbessert werden. Und mit der Zeit können sich Lehrkräfte auf die Stärken und Schwächen ihrer Schülerinnen und Schüler fokussieren, während ein Teil der Informationen durch KI-Tools aufbereitet werden. Im Grunde werden dadurch Freiräume geschaffen.
Nun gibt es mittlerweile eine Vielzahl an KI-Tools. Welche eignen sich denn für die Schule?
Katharina Hamisch: Da stehen einige zur Auswahl. Es hängt immer davon ab, in welchem Bereich sie eingesetzt werden. Die bereits bekannten eher textbasierten Chatbots wie ChatGPT eignen sich zum Beispiel, um Inhalte zu recherchieren, aber auch, um Aufgaben zu vereinfachen. Mit DeepL Write lassen sich wiederum Rechtschreibung und Grammatik verbessern, was ermöglicht, leichter Texte zu schreiben. Zusätzlich gibt es noch Programme, die speziell für den Bildungsbereich entwickelt werden. HyperMind ist zum Beispiel ein sich ständig anpassendes Physikbuch, das unter anderem mit Eyetracking und Pulsmessung arbeitet.
Wozu das?
Es prüft, wie die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler ausfällt und passt daraufhin die digitale Schulbuchumgebung an. Dann wäre da noch Area9. Das Programm gibt Rückmeldung zu Eingaben, weist auf richtige Ansätze hin und gibt Tipps. Getestet wurde es bereits in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Noch sind diese Programme in der Entwicklungsphase, aber in Zukunft wird sich einiges im Bildungsbereich tun, davon bin ich überzeugt.
Wie ist es mit Programmen für Menschen mit Behinderungen, haben Sie da ein paar Beispiele?
Robert Kruschel: Zum Beispiel gibt es für Personen mit Hörschädigung KI-Tools, die mit 3D-animierten Figuren simultan Gespräche in Gebärden übersetzen können, sodass es ihnen möglich wird, uneingeschränkt am Unterricht teilzunehmen. Sehbeeinträchtigte Schülerinnen und Schüler können wiederum heute bereits Tools nutzen, die beschreiben, was auf Bildern zu sehen ist. Hier hat Microsoft mit Visual ChatGPT ein erstes Programm geliefert. Das steckt allerdings noch in seinen Anfängen. Daneben existieren viele Anwendungen in frühen Entwicklungsphasen, um etwa körperlich beeinträchtigte oder auch neurodiverse Kinder und Jugendliche zu unterstützen.
Gibt es denn bereits Schulen, in denen der Einsatz von Künstlicher Intelligenz zum Alltag gehört?
Katharina Hamisch: Noch gibt es leider keine veröffentlichten wissenschaftlichen Studien dazu, wie häufig die Programme eingesetzt werden, wie gut das funktioniert und was gegebenenfalls noch verbessert werden muss. Viele Programme sind leicht zugänglich, doch ob und wie sie eingesetzt werden, ist nicht bekannt. Es gibt auch einige Herausforderungen, zum Beispiel Datenschutz. Bei den konkreteren Programmen, die für den Schulkontext gedacht sind, befinden wir uns noch in der Entwicklungsphase. Es ist aber auch zu beobachten, dass einige Lehrerinnen und Lehrer KI-Programme im Unterricht bereits anwenden.
Könnte KI den Lehrermangel lösen, indem sie Lehrkräfte vollständig ersetzt?
Katharina Hamisch: Es ist naheliegend, davon auszugehen. Da sollte man aber vorsichtig sein. KI-Programme können unterstützen, auch viele Prozesse erleichtern. Es braucht trotzdem die Lehrkraft als Vertrauensperson, als Unterstützung, als Ansprechpartner. Außerdem müssen Lehrpersonen stets auf die Ergebnisse der Programme achten. Die arbeiten schlicht nicht hundertprozentig fehlerfrei. Da sie mit Daten gefüttert werden, die Menschen zur Verfügung stellen, können sie auch Vorurteile reproduzieren. Das kann zu Benachteiligungen führen. Auch Schülerinnen und Schüler können Informationen eingeben, die das Programm fehlerhaft auswertet. Es braucht Menschen aus den Bereichen Pädagogik, Psychologie, auch der Sozialwissenschaften, die sich mit den Tools beschäftigen, um Fehler der KI zu erkennen und zusammen mit den Entwicklerinnen und Entwicklern zu korrigieren.
Allerdings muss auch nicht zwangsläufig alles positiv sein. Welche Risiken kann KI im Bildungssektor mit sich bringen?
Robert Kruschel: Ein großes Risiko ist, dass wir das soziale Miteinander verlieren können. Letztlich ist es immens wichtig, dass Kinder mit- und voneinander lernen. Hier muss die Lehrkraft eingreifen, um ein Miteinander nicht nur anzustoßen, sondern dauerhaft zu gewährleisten. Auch zeigt uns aktuelle Forschung, dass der Erfolg von Bildungsprozessen von der Qualität der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden abhängig ist. Diese können KI-Tools in naher Zukunft vermutlich nicht herstellen.
Katharina Hamisch: Diskriminierung ist ebenfalls eine Gefahr. Wir müssen immer aufpassen, dass wir die Programme stets weiterentwickeln. Ich hoffe, dass es da Fortschritte gibt, sodass die Programme zukünftig weiter kontrolliert und Diskriminierungen ausgeschlossen werden können. Ebenso müssen Lehrpersonen weiterhin auf ihr Urteil vertrauen. Gibt es zum Beispiel ein Tool, das eine Schülerin oder einen Schüler ganz anders bewertet als die Lehrperson, muss dies stets hinterfragt werden. Autoritätsgläubigkeit wäre hier der falsche Ansatz. Damit das möglich ist und Risiken reduziert werden, braucht es regelmäßige Fortbildungen.
Mit Robert Kruschel und Katharina Hamisch sprach Tim Kröplin
Quelle: ntv.de