Panorama

Eine besondere Hilfsorganisation Geflüchtete mit Behinderung bekommen kaum Hilfe

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Jeder Beratungsfall liegt anders.

Jeder Beratungsfall liegt anders.

(Foto: AbilityAid)

Eine Flucht ist an sich schon ein extrem hartes und strapaziöses Unterfangen. Einer ungleich härteren Strapaze setzen sich Flüchtlinge mit einer Behinderung aus. Ihnen hilft die Organisation ArrivalAid nach ihrer Ankunft in München.

"Ich habe ein Kind mit einer Behinderung. Darum liegt mir das Thema Inklusion sehr am Herzen", sagt Johanna Bueß. Sie ist Projektleiterin von AbilityAid, einem Programm der Hilfsorganisation ArrivalAid, das sich speziell an geflüchtete Menschen mit einer Schwerbehinderung wendet. "Die Arbeit bedeutet mir sehr viel. Ich weiß, dass sie sehr wichtig ist. Denn allzu häufig bekommen geflüchtete Menschen mit einer Behinderung nicht die Unterstützung, die sie brauchen und die ihnen zusteht."

Durch die Beratung gibt es inzwischen ein sehr spezielles Wissen über die Hilfesysteme.

Durch die Beratung gibt es inzwischen ein sehr spezielles Wissen über die Hilfesysteme.

(Foto: AbilityAid)

Alles beginnt vor gut acht Jahren, also noch vor der großen Fluchtbewegung 2015. Da beschließen Freunde aus München geflüchteten Menschen zu helfen, die nach Deutschland gekommen sind. Zunächst als kleines, ehrenamtliches Projekt. ArrivalAid wird gegründet. Schnell finden sie freiwillige Helferinnen und Helfer, die sie bei ihrer Arbeit unterstützen. Weitere Standorte in Köln, Düsseldorf, Frankfurt am Main und Stuttgart kommen hinzu. Die Freiwilligen helfen Geflüchteten zunächst bei ihren Asylanträgen, später bei der Wohnungs- und Jobsuche. Mit den ArrivalNews entsteht eine Zeitung in einfacher Sprache für geflüchtete Menschen, die Deutsch lernen.

Ein Podcast und eine App kommen hinzu. Die Behandlung von traumatisierten Geflüchteten wird unterstützt, eines der wenigen Programme, die ArrivalAid bundesweit anbietet. Doch die meisten Programme laufen nur in München und Stuttgart. Und dann, im August 2021, wird das Programm AbilityAid ins Leben gerufen. Johanna Bueß koordiniert es. Sie gehört zu den knapp 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von ArrivalAid.

Das große Leid

ArrivalAid ist längst nicht die einzige Organisation, die sich um geflüchtete Menschen mit einer Behinderung kümmert. Da ist zum Beispiel "Crossroads", ein Projekt von Handicap International e. V. Projektleiterin Susanne Schwalgin geht in einem Interview mit Aktion Mensch davon aus, dass etwa 10 bis 15 Prozent aller Geflüchteten eine Behinderung haben. Sie leiden an Diabetes oder einer Herzschwäche, an Augenkrankheiten, können schlecht laufen, haben eine Lernschwäche. Auf ihrer Flucht sind sie leichte Opfer von Kriminellen, Schiebern, Repressalien aller Art.

Kommen sie nach Deutschland, warten die nächsten Probleme. Bei der Erstaufnahme wird nach einer möglichen Behinderung oft nicht gefragt. Längst nicht alle Unterkünfte sind barrierefrei. Bei der Verteilung auf die Kommunen geht es weiter. Auch dabei geraten Geflüchtete mit einer Behinderung nicht selten in Städte und Dörfer, die nicht auf sie vorbereitet sind. Und dann kommt das Asylverfahren. Viele behinderte Geflüchtete haben damit ein Problem. Beispielsweise wissen Menschen mit einer kognitiven Behinderung wie einer Lernschwäche oft nichts von ihren Problemen. Wenn doch, können sie diese wegen der Sprachbarrieren nicht erklären. Schwalgin vermutet, dass es deswegen auch zur Ablehnung von Asylanträgen kommt.

Hier greift das Programm AbilityAid. Johanna Bueß erklärt: "Wir möchten diesen Menschen eine Beratung anbieten und unterstützen." Dazu bietet AbilityAid spezielle Deutschkurse in barrierefreien Räumlichkeiten an, besucht im Notfall Geflüchtete auch zu Hause, falls für sie das Verlassen ihrer Wohnung zu schwer ist. Die freiwilligen Helferinnen und Helfer unterstützen bei Behördengängen, bei der Bewältigung von Sprachbarrieren, aber auch beim Lernen und bei der Vorbereitung auf einen späteren Job. So bietet AbilityAid auch die Teilnahme an EDV-Kursen an.

Besonderes Problem: Behinderte Kinder

Ein besonderes Problem, mit denen sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von AbilityAid auseinandersetzen müssen, sind Familien mit einem schwerbehinderten Kind. Inklusive Kindergarten- oder Schulplätze sind rar in Deutschland. Auch hier können die freiwilligen Helferinnen und Helfer von AbilityAid zumindest versuchen, Tipps zu geben und erste Kontakte anzubahnen. "Sie müssen sich das so vorstellen: Wir sind eine Schnittstelle. Es gibt viele Beratungen für Menschen mit Behinderung in Deutschland. Es gibt viele Beratungen für Menschen mit Fluchthintergrund. Wir sind eine der wenigen Stellen in Deutschland, die sich mit beidem auskennen", beschreibt Bueß die Arbeit von AbilityAid.

"Zu uns kommen die Menschen oft, weil eine andere Beratungsstelle nicht weiter weiß. Also ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin weiß, wie man einen Pflegegrad beantragt, aber nicht, was man dabei bei einem Menschen beachten muss, der kein deutscher Staatsbürger ist oder der kein Deutsch spricht." Die Strukturen und Prozesse in Deutschland seien oft sehr komplex und von den Klientinnen und Klienten nicht zu verstehen. "Wir rufen bei Behörden an, bei Krankenkassen, oder in Fällen von behinderten Kindern in Kindergärten, Kitas und Schulen."

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"In sehr vielen Fällen würde es explizit helfen, wenn Bürokratie abgebaut werden könnte", wünscht sich Bueß. "Wenn Sie zum Beispiel Mitglied in einer Pflegekasse sind und einen Pflegegrad beantragen wollen, müssen Sie eine einzige Seite ausfüllen und fertig. Aber Asylsuchende sind in keiner Pflegekasse. Und da hat der Antrag dann plötzlich 16 Seiten." Die Gesetze, die in Deutschland gelten, seien oft gut. "Aber die Umsetzung ist gerade für die Menschen, die die Sprache noch nicht können und die Strukturen des deutschen Gesundheitssystems noch nicht verstehen, einfach zu kompliziert. Und so kommen sie oft an die Leistungen gar nicht heran, die ihnen eigentlich zustehen würden." Dazu kommt, dass viele schwerbehinderte Menschen in ihren Herkunftsländern oft keine Möglichkeit zur Bildung wahrnehmen können. "Aber das lässt sich nicht für alle Menschen und Länder verallgemeinern", sagt Bueß. "Wir haben beispielsweise gerade blinde Klient*innen, die uns etwas beigebracht haben."

AbilityAid beschränkt ihre Hilfe im Moment nur auf Geflüchtete, die in München leben. Doch das könnte sich bald ändern. Außerdem hofft Bueß auf Hilfe für Geflüchtete von Freiwilligen in weiteren Städten. "Dabei würden wir gerne helfen, damit Menschen, die sich engagieren wollen, von unseren Erfahrungen profitieren können", sagt Bueß.

Quelle: ntv.de

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