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"Wir haben alle geweint" Neues Verfahren hilft Schlaganfall-Patientinnen schnell

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Die Schlaganfall-Patientin Heather Rendulic sagt, die Rückenmarkstimulation gebe ihr das Gefühl, zum ersten Mal nach neun Jahren wieder Kontrolle über Arm und Hand zu haben.

(Foto: Tim Betler, UPMC and University of Pittsburgh Schools of the Health Sciences/dpa)

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Jedes Jahr erleiden Hunderttausende Menschen in Deutschland einen Schlaganfall. Viele von ihnen können danach ihre Gliedmaßen nicht mehr kontrollieren. Ein Verfahren zur Nervenstimulation kann helfen - und zwar erstaunlich schnell.

Gegenstände greifen, mit Besteck essen, Schlösser öffnen: Derartige Bewegungen soll ein Verfahren jenen Patienten ermöglichen, die nach einem Schlaganfall Arme und Hände nicht mehr kontrollieren können. Wie US-Forschende im Fachblatt "Nature Medicine" berichten, verbesserte die Rückenmarkstimulation in einer Studie Kraft, Beweglichkeit und Koordination zweier Studienteilnehmerinnen mit chronischer Muskelschwäche - und das erstaunlich schnell.

In Deutschland erleiden laut Deutscher Schlaganfall Gesellschaft jährlich etwa 270.000 Menschen einen Schlaganfall - die Zahl dürfte künftig steigen, aufgrund des demografischen Wandels, aber auch wegen bestimmter Lebensstil-Faktoren wie Bewegungsmangel und Übergewicht. Ein großer Teil der Überlebenden hat später Defizite in der motorischen Kontrolle von Armen und Händen.

Metallelektroden am Hals implantiert

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Zwei Patientinnen wurden entlang des Halses dünne Metallelektroden implantiert.

(Foto: Tim Betler, UPMC and University of Pittsburgh Schools of the Health Sciences/dpa)

Einem Teil dieser Menschen könnte künftig eine Rückenmarkstimulation helfen. Ein Team um Marco Capogrosso von der Universität Pittsburgh adaptierte die Methode, die bereits seit Jahren zur Behandlung chronischer Schmerzen eingesetzt wird, und testete sie erfolgreich an zwei Patientinnen: Ihnen wurden entlang des Halses dünne Metallelektroden implantiert, die an Spaghetti erinnern.

Diese Elektroden geben Stromimpulse ab, welche Nervenzellen in jenen Rückenmarksbereichen aktivieren, die für die Muskelkontrolle der Gliedmaßen zuständig sind. Normalerweise werden solche Impulse vom Gehirn ausgesendet. Ein Schlaganfall kann allerdings dazu führen, dass diese Kommunikation gestört wird, sodass die Impulse nicht mehr ausreichen, um Aktivitäten zu stimulieren.

"Wir haben uns gefragt, wie wir die Signale verstärken können, und haben uns dabei nicht auf das Gehirn, sondern auf das Rückenmark konzentriert", erläutert Capogrosso. Daher ersetze das System nicht die Funktion des Gehirns, sondern unterstütze lediglich noch vorhandene Signale.

Kontrolle schnell wiedergewonnen

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Nicht nur die Patientinnen, auch das Forschungsteam ist überglücklich über den Erfolg.

(Foto: Tim Betler, UPMC and University of Pittsburgh Schools of the Health Sciences/dpa)

Nach der Implantation erlangten die Patientinnen schnell wieder Kontrolle über ihre Arme und Hände. Eine von ihnen konnte bereits am ersten Tag nach dem Eingriff ihre Hand wieder öffnen und schließen - eine Bewegung, zu der sie neun Jahre lang nicht in der Lage war. Entsprechend emotional reagierten sowohl sie als auch das Forschungsteam. "Wir haben alle geweint", erinnert sich Capogrosso.

Im weiteren Verlauf des 29-tägigen Versuchs verbesserte die kontinuierliche Rückenmarkstimulation die Arm- und Handkraft der Teilnehmerinnen sowie ihren Bewegungsumfang und feinmotorische Fähigkeiten. So konnten sie etwa eine Dose sicher greifen oder mit Besteck essen.

"Selbst leichte Defizite nach einem Schlaganfall können Menschen vom sozialen und beruflichen Leben isolieren und sehr einschränkend wirken, wobei motorische Beeinträchtigungen von Armen und Händen besonders belastend sind und einfache tägliche Aktivitäten wie Schreiben, Essen und Anziehen behindern", sagt Mitautorin Elvira Pirondini.

"Zum ersten Mal nach Jahren wieder Kontrolle"

Patientin Heather Rendulic bestätigt das: Die Rückenmarkstimulation gebe ihr das Gefühl, zum ersten Mal nach neun Jahren wieder Kontrolle über Arm und Hand zu haben. "Sie fühlt sich wie ein Kitzeln an und tut nie weh. Man muss sich aber daran gewöhnen", beschreibt sie.

Unerwarteterweise hielten die Besserungen der Stimulation bis zu vier Wochen nach Entfernen des Implantats an. Woran das liegt, wissen die Forschenden nicht. Möglicherweise sei die Technologie zumindest bei Betroffenen mit moderater Muskelschwäche nicht dauerhaft nötig. Doch auch ein stetiger Einsatz des Systems sollte unproblematisch sein, wie die Erfahrungen mit Schmerzpatienten nahelegten, so Elvira Pirondini.

Mitautor Douglas Weber betont, das Patientenspektrum bei Schlaganfällen sei sehr divers. Entsprechend bestünden die nächsten Schritte nicht nur darin, Sicherheit und Wirksamkeit des Ansatzes zu bestätigen. Vielmehr müsse auch untersucht werden, welche Menschen am meisten von der Therapie profitierten.

Die Forschungsgruppe setzt ihre Versuche mit weiteren Patienten fort. Doch Heather Rendulic habe bereits gefragt, wann sie ein permanentes Implantat bekommen könne, so Weber: "Das wird zwar noch einige Jahre dauern, ist aber schon jetzt ein schönes Zeichen."

Quelle: ntv.de, Alice Lanzke, dpa

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