Vom Opfer zum Täter? Die dramatische Wendung im Fall Gil Ofarim
31.03.2022, 18:12 Uhr
Soll sich vor Gericht verantworten: Gil Ofarim.
(Foto: imago images/Lumma Foto)
Als die Meldung kursiert, Gil Ofarim sei in einem Leipziger Hotel antisemitisch beleidigt worden, ist das Entsetzen groß. Doch rasch tauchen Ungereimtheiten auf. Mit der Anklage des Sängers erfährt der Fall nun gar eine 180-Grad-Wende. Auch wenn für Ofarim natürlich die Unschuldsvermutung gilt.
"Es kann gut sein, dass am Ende Aussage gegen Aussage steht und dass alle Verfahren eingestellt werden." Das sagte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, vor gerade mal zwei Monaten. Gemeint hatte er damit die juristische Auseinandersetzung um den Musiker Gil Ofarim, der behauptete, in einem Leipziger Hotel antisemitisch beleidigt worden zu sein. Schon da kam Klein zu dem Schluss, dass der Fall dem Kampf gegen Antisemitismus "eher geschadet" habe: "Als Zweifel an der Darstellung von Gil Ofarim laut wurden, hieß es in den sozialen Medien sofort: 'Der Jude lügt.'"
Zwei Monate später stellt sich heraus: Der Schaden ist noch um einiges größer als von Klein befürchtet. Denn, nein, es werden eben nicht alle Verfahren eingestellt. Nur die Ermittlungen gegen den Hotelmitarbeiter, den Ofarim beschuldigt hatte, werden ad acta gelegt. Gegen ihn bestehe "kein hinreichender Tatverdacht für ein strafrechtlich relevantes Verhalten", teilt die Leipziger Staatsanwaltschaft mit. Gegen den Musiker dagegen ergeht Anklage - "wegen falscher Verdächtigung und Verleumdung".
Dies ist ein Paukenschlag und eine 180-Grad-Wende in einem Fall, der ganz zu Beginn doch noch so eindeutig zu sein schien. Am 5. Oktober 2021 lud Ofarim auf seiner Instagram-Seite ein Video hoch, in dem er sich ebenso erschüttert wie empört zeigte. Nur wenig zuvor sei ihm beim Check-in in das Leipziger Hotel übel mitgespielt worden. Der Grund: der Davidstern an einer Kette um seinen Hals. "Pack deinen Stern ein!", habe der von ihm nur "Herr W." genannte Hotelmitarbeiter gefordert. Auch ein anderer Gast habe in die antisemitischen Anfeindungen eingestimmt.
Heiko Maas war "fassungslos"
Das Video ging nicht nur rasch viral. Auch aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger, Politik und Medien waren schnell zur Stelle, um womöglich vorschnell ein Urteil zu fällen. Bereits am Abend des 5. Oktober 2021 demonstrierten rund 500 Menschen vor dem Hotel gegen Antisemitismus. Der damalige Bundesaußenminister Heiko Maas erklärte, er sei "fassungslos" und "Leipzig ist kein Einzelfall." Die Sache schlug so hohe Wellen, dass sogar US-Medien wie CNN und "New York Times" darüber berichteten.
"Herr W." jedoch wies die Darstellung Gil Ofarims entschieden zurück und erstattete als erster Beteiligter in der Angelegenheit Anzeige gegen den Sänger. Der Vorwurf: Verleumdung. Wenige Tage später zog der Musiker nach, indem er nun den Hotelmitarbeiter ebenfalls anzeigte. Seither wurde gegen "Herrn W." unter anderem wegen Beleidigung, versuchter Nötigung und Volksverhetzung ermittelt.
So wie der Hotelmitarbeiter den Vorfall im Behördendeutsch "deutlich abweichend von den Auslassungen des Musikers" schilderte, so beharrlich hielt Ofarim an seiner Darstellung fest. "Ich habe die Wahrheit gesagt. Über das Hotel, im Hotel, vor dem Hotel, in dem Video, in der Vernehmung", beteuerte er etwa am 19. Oktober 2021 in einem RTL-Interview. Doch zu diesem Zeitpunkt gab es bereits erste Zweifel an seinen Ausführungen.
Mit Video gedroht?
Schließlich widersprach nicht nur "Herr W." der Aussage Ofarims, sondern auch mehrere andere Personen wollten etwas anderes erlebt haben. Keine Zeugin und kein Zeuge habe "in der Hotellobby eine antisemitische Beleidigung gehört. Niemand soll sich an Aussagen über eine Kette mit Davidstern erinnern", meldete etwa die "Zeit" unter Berufung auf den internen Untersuchungsbericht einer Anwaltskanzlei zu den Vorkommnissen. Vielmehr habe sich Ofarim völlig daneben benommen, mit Worten wie "Scheißhotel" um sich geworfen und sogar bereits an der Rezeption damit gedroht, ein Video hochzuladen, das viral gehen werde.
Das Problem: Die Kanzlei handelte im Auftrag des Hotels. Dementsprechend wurde der "sogenannte Untersuchungsbericht" von Ofarims Anwalt Markus Hennig auch alsbald in Zweifel gezogen. "Ein vom Hotel bezahlter Untersuchungsbericht" könne "kein Beitrag zur Wahrheitsfindung sein", befand der Jurist. Dem Hotel indes reichte das Ergebnis seiner Nachforschungen aus. Es holte den zunächst beurlaubten "Herrn W." zurück an seinen Arbeitsplatz.
Entscheidender für den Fortgang der Auseinandersetzung waren aber zwei andere Dinge. Zum einen natürlich die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft. Zum anderen die tonlosen Aufnahmen, die eine Überwachungskamera von dem Geschehen in dem Hotel am Abend des 4. Oktober 2021 gemacht hatte. Denn auch diese Aufnahmen hielten einige Ungereimtheiten fest.
"Ich habe nicht gelogen"
Schließlich war die Kette mit dem Davidstern, die Ofarim getragen haben will und zum Stein des Anstoßes geworden sein soll, auf den Videobildern nirgends zu sehen - weder bei Ofarims Betreten des Hotels, noch bei seinem Gespräch an der Rezeption, noch bei seinem Verlassen des Gebäudes. Die Ermittler ließen daraufhin anklingen, dass es mittlerweile "ernstzunehmende Zweifel" an den Schilderungen des Musikers gebe.
Ofarim jedoch beteuerte, die Kette definitiv getragen zu haben. Womöglich sei sie ihm jedoch unters Shirt gerutscht, räumte er mit einer diesmal wirklich holprigen Argumentation ein. "Man kann den Stern auch durch das T-Shirt sehen. Ich wurde als Jude angegriffen, weil ich den Stern trage. Ich habe nicht gelogen, ich trage den Stern immer", erklärte er, ehe er noch weiter ausholte: "Es geht hier nicht um die Kette. Es geht eigentlich um was viel Größeres. Da ich oft mit dem Davidstern im Fernsehen zu sehen bin, wurde ich aufgrund dessen beleidigt."
Ist Gil Ofarim wirklich so populär, dass jeder weiß, wer er ist, geschweige denn, ihn sofort mit Davidstern-Kette vor Augen hat? Diese Frage kann nur gefühlt beantwortet werden. Kann die entsprechende Kette wirklich so verrutschen, dass sie auf den Aufnahmen der Überwachungskamera kein einziges Mal auch nur zu erahnen ist? Um das herauszufinden, stellten die Ermittler Ende des Jahres 2021 die Szene sogar mit Schauspielern nach.
Beweisaufnahme erst vor Gericht
Seither war es ruhig geworden um den Sachstand des Verfahrens. Bis jetzt. Mit der Anklage wegen Verleumdung und falscher Verdächtigung wird Gil Ofarim vorgeworfen, gleich zweimal die Unwahrheit gesagt zu haben - einmal in seinem online veröffentlichten Video, ein weiteres Mal bei seiner Anzeige gegen "Herrn W.".
"Einzelheiten zu den Ergebnissen der Beweiserhebung sowie zu dem mutmaßlichen Geschehensablauf können nicht mitgeteilt werden, da dies eine unzulässige Vorwegnahme der Beweisaufnahme wäre, welche der Hauptverhandlung vor Gericht vorbehalten bleibt", heißt es in der Mitteilung der Staatsanwaltschaft. Man darf gespannt sein, auf welche Beweise sie sich stützt. Klar ist dabei auch: Solange Ofarim nicht verurteilt ist, gilt für ihn natürlich die Unschuldsvermutung.
Als sich die Zweifel an seiner Darstellung im vergangenen Jahr mehrten, sagte Ofarim: "Dass ich vielleicht vom Opfer zum Täter gemacht werde, darüber habe ich mir jedoch keine Gedanken gemacht." Keine Frage: Sollte das ungerechtfertigt so sein, wäre dies eine Tragödie und Katastrophe. Sollte sich jedoch herausstellen, dass er den Vorfall im Hotel erfunden hat, wäre auch das ein Desaster.
Quelle: ntv.de