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Craig Thompsons "Ginsengwurzeln" "Make American Ginseng Great Again"

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Alte Größe - davon träumen die Ginseng-Bauern in Wisconsin.

Alte Größe - davon träumen die Ginseng-Bauern in Wisconsin.

(Foto: Craig Thompson / Reprodukt 2024)

Ein Buch über Ginseng? Ja, und was für eins. Craig Thompsons Comic "Ginsengwurzeln" erzählt nicht nur von seiner Kindheit und der Kultur einer Heilpflanze. Sondern auch von der US-Landwirtschaft, von Globalisierung und Migration, von Spaltung und Kulturkampf.

1200 Menschen leben in den 1980er-Jahren in Marathon im US-Bundesstaat Wisconsin. Eine Kleinstadt im Mittleren Westen, geprägt von der Landwirtschaft, von harter Arbeit - und damals Zentrum des Anbaus von Amerikanischem Ginseng. Die Pflanze bestimmt hier das Leben, den Rhythmus des Jahres - und prägt die Kindheit von Craig Thompson.

Craig Thompson kommt aus der Arbeiterklasse.

Craig Thompson kommt aus der Arbeiterklasse.

(Foto: Craig Thompson / Reprodukt 2024)

Während andere Schüler ihre Sommerferien genießen, steht Thompson zusammen mit seinen Geschwistern früh auf, um in den Feldern zu arbeiten. Für einen Dollar pro Stunde jätet er Unkraut, holt Steine aus dem Boden. Harte körperliche Arbeit bei jedem Wetter, in permanent gebeugter Haltung, nicht selten Pestizid-Dämpfe einatmend. Amerikanischer Ginseng boomt zu dieser Zeit, wird nach Asien exportiert. Die Farmer machen gutes Geld, Thompson kann sich von seinem Lohn Comic-Hefte kaufen.

Heute ist Thompson ein weltweit bekannter Comic-Künstler, den Mittleren Westen hat er hinter sich gelassen. In "Ginsengwurzeln" (Reprodukt) kehrt er zu den Wurzeln zurück - zu jenen des Ginsengs und zu den eigenen. Der 49-Jährige erlebt am Ort seiner Kindheit ein anderes Amerika, als er es als Künstler an der Westküste kennengelernt hat. Auf 450 Seiten entfaltet er ein intimes Porträt, das gleichzeitig ein Blick auf die heutigen USA ist. Dazu mischt er historische und kulturelle Exkurse, die Kulturgeschichte einer Pflanze, die mancherorts als Allheilmittel verehrt wird. Fakten und Mythen, Reiseerlebnisse und Interviews ergeben Thompsons ganz persönliche Geschichte der Welt.

Craig Thompson in China vor eingelegtem Ginseng. Alte Wurzeln können ein Vermögen wert sein.

Craig Thompson in China vor eingelegtem Ginseng. Alte Wurzeln können ein Vermögen wert sein.

(Foto: Jon Thompson)

"Ein Grund, Bücher zu machen, ist dieses laute Chaos in meinem Gehirn", sagt Thompson im Interview mit ntv.de. Es sei tröstlich, die Vielfalt an Themen und Perspektiven zu verdichten und in ein greifbares Objekt zu formen. "Das ist eine Art meditativer Prozess, in dem ich das innere Chaos nehme und es für mich, aber auch für die Leser verdaulicher mache."

"Make American Ginseng Great Again"

Am Beginn dieses Chaos steht Marathon. Hier, in Wisconsin, einem für die Präsidentschaftswahl so wichtigen Swing State, verdichten sich viele Entwicklungen. Aus den zahlreichen kleinen Familienbetrieben aus Thompsons Kindheit sind wenige große Agrarunternehmen geworden. Nur sie können noch mit dem Weltmarkt mithalten. "Make American Ginseng Great Again", heißt es auf einer Veranstaltung. Es ist nicht ironisch gemeint. Die Landwirtschaft, der ganze Mittlere Westen hofft auf eine Wiederbelebung. Auch deshalb wurde hier gerade erst Donald Trump gewählt, der im Comic auch einen Auftritt hat.

Trump in Wisconsin - der Swing State war auch bei dieser Präsidentschaftswahl mitentscheidend.

Trump in Wisconsin - der Swing State war auch bei dieser Präsidentschaftswahl mitentscheidend.

(Foto: Craig Thompson / Reprodukt 2024)

Thompson kennt beide Seiten - das Leben in den Metropolen der Küsten, aber auch im Herzen Amerikas. Dieser Gegensatz macht ihm zu schaffen. "Ich fühle mich schuldig, dass ich keine harte Knochenarbeit leiste wie mehr als die Hälfte der Menschheit. Ich hinterfrage den Wert von etwas so Privilegiertem wie Kunst", sagt er. In der Arbeitsmoral macht er den Kern der viel zitierten Kluft in den USA aus. Für Trump-Anhänger sei die liberale, urbane Elite faul, sie beutet in deren Augen das System aus, erklärt Thompson. Sich selbst würden diese Leute als hart arbeitende Menschen sehen.

Doch so ganz stimmt das nicht. Denn während Trump die amerikanischen Arbeiter als die besten der Welt lobt, sagen die Farmer zu Thompson, dass heute kein Weißer mehr die harte Arbeit auf den Feldern übernehmen wolle. Die wird von Arbeitern aus Mexiko erledigt, viele davon sind illegal im Land. Oder von Migranten wie den Hmong aus Laos, US-Verbündeten im Vietnamkrieg, die nach Kriegsende in die USA fliehen mussten.

Craig Thompson in Berlin, mit einigen seiner Werke.

Craig Thompson in Berlin, mit einigen seiner Werke.

(Foto: Markus Lippold)

"Jedes Land hat Einwanderer, von denen man einfach annimmt, dass sie die schwierigsten Aufgaben erledigen", erklärt er und spricht von einem universellen Rassismus. Denn Weiße würden diese Jobs nicht machen wollen. "Die Menschen in westlichen Staaten wollen einfach nur konsumieren, und sie wollen es billig haben. Aber wenn es billig ist, beutet man das Land und die Menschen aus. Es bedeutet, dass die lokale Wirtschaft zugrunde geht."

Themen wie ein Wurzelwerk

Thompson verweigert in seinem Buch einfache Antworten. Das macht die Stärke des Comics aus: komplexe Entwicklungen nachzuzeichnen. Dafür hat er Dutzende Menschen interviewt - in den USA, in China und Korea. Aus der Vielzahl an Quellen baut Thompson seine Seiten. Es gibt comic-typische Sequenzen mit Bilderreihen. Doch vor allem entfalten seine collagenhaften, ganzseitigen Darstellungen eine ungeheure Kraft. Menschen, Landschaften, Schaubilder und Ornamente fließen ineinander, ergänzen sich, widersprechen einander. Nichts steht für sich, alles hängt zusammen.

Suche nach Heilung: auch darum geht es in "Ginsengwurzeln".

Suche nach Heilung: auch darum geht es in "Ginsengwurzeln".

(Foto: Craig Thompson / Reprodukt 2024)

Es ist eine Zeichenkunst, die die Komplexität der Realität spiegeln will. Themen und Motive sind tief verzweigt, sie bilden ein Wurzelwerk wie die titelgebende Pflanze. Eine dem Ginseng nachempfundene Figur taucht immer wieder auf. Sie ist Superheld, Erzähler, oft auch Thompsons Gewissen. Denn das Buch ist für den Künstler auch eine Suche nach sich selbst. Nach Heilung.

Anfang des Jahrtausends wird der Zeichner mit "Blankets" schlagartig berühmt. Sein Comic gehört damals zu einer Reihe erfolgreicher Bücher, die als Graphic Novels vermarktet werden. Der Nachfolger "Habibi" wird verhaltener aufgenommen. Die Kritik setzt ihm zu, er leidet zeitweise unter einer kreativen Blockade, hat mit einer Schwellung an seiner Zeichenhand zu kämpfen - eine Autoimmunreaktion des Körpers. "Ginsengwurzeln", an dem er mit Unterbrechungen seit 2011 arbeitet, nennt er nun "das anstrengendste Projekt" seiner Karriere. Es sollte seine Liebe zum Comic wiedererwecken. Geschafft habe es das nicht, sagt er.

Kunst als Schlachtfeld der kulturellen Kluft

Das hat Gründe. Ursprünglich erschien der Comic als Heftserie in den USA, ganz wie die Comics aus Thompsons Kindheit. Doch schon nach der ersten Ausgabe hagelte es Vorwürfe der kulturellen Aneignung - schließlich sei Ginseng Teil der chinesischen Kultur, nichts für Weiße. Es ist eine absurde Kritik, denn Thompson wuchs mit Ginseng und seiner Kultur auf. "Das war ziemlich heftig und gewalttätig, ich habe sogar Morddrohungen erhalten", sagt er.

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"Es fühlt sich an, als wäre die Kunst ein Schlachtfeld der kulturellen Kluft", sagt Thompson. Künstler würden von beiden Enden des politischen Spektrums angegriffen. "Der rechte Flügel hatte schon immer eine Tendenz zu Buchverboten - diese fegen derzeit geradezu über das Land." Andererseits spüre er auch Angriffe vom linken Flügel. Es gebe einfach mehr Zensur für Künstler. "Ich habe das Gefühl, dass ich nichts tun kann, was nicht irgendjemanden verärgert." 90 Prozent seines kreativen Prozesses beständen darin, sich selbst die Erlaubnis dafür zu geben.

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Thompsons "Blankets", in dem es um seine Kindheit und den Ausbruch aus seinem strengen, christlichen Elternhaus geht, ist seit Erscheinen von Verboten betroffen. Erst kürzlich wurde das Buch aus sämtlichen Schulbibliotheken in Utah verbannt. "Im Laufe der Jahre ist das wirklich schlimmer geworden", sagt er und nennt den in den USA verbreiteten puritanischen Glauben als Grund dafür. Dann erzählt er noch, dass manche öffentliche Bibliotheken nur noch für Erwachsene zugänglich seien. "Man braucht einen Altersnachweis, wie bei einem P18-Film oder eine Porno-Website. Das ist verrückt."

Quelle: ntv.de

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