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"Möchtegern-Diktator" Die Journalistin, die Hitler durchschaute und trotzdem irrte

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Hitler 1935 beim Zeitunglesen. Der Artikel der Journalistin Dorothy Thompson über ihn gefiel ihm gar nicht.

Hitler 1935 beim Zeitunglesen. Der Artikel der Journalistin Dorothy Thompson über ihn gefiel ihm gar nicht.

(Foto: imago images/KHARBINE-TAPABOR)

Sieben Jahre wartete die US-Journalistin Dorothy Thompson, bis Hitler ihr 1931 ein Interview gab. Nach dem Erscheinen ihres Berichts ließ er sie ausweisen. Auch wenn das Buch dazu ein krasses Fehlurteil über den selbst ernannten "Führer" enthält, ist es ein starkes Werk, das endlich vollständig auf Deutsch erschienen ist.

"Es ist beschämend und aufreizend, dass so dumme Frauenzimmer, deren Gehirn nur aus Stroh bestehen kann, das Recht haben, gegen eine geschichtliche Größe wie den Führer überhaupt das Wort zu ergreifen." So lautete das misogyne Fehlurteil von Joseph Goebbels über die amerikanische Journalistin Dorothy Thompson, das er am 5. April 1942 in seinem Tagebuch festhielt. Seine Verachtung richtete sich nicht allein gegen die Reporterin, sondern die Demokratie insgesamt, die freie Presse, die allen - endlich auch Frauen - das Recht gab, ungestraft über wen auch immer zu schreiben, was man oder frau wollte.

Thompson, die von 1893 bis 1961 lebte, nutzte diese Freiheit ausgiebig. Und wurde zur Ikone des Journalismus. Anfang der 1920er Jahre ging sie nach Europa, von 1925 an leitete sie als erste Frau das Berliner Korrespondentenbüro zweier wichtiger US-Zeitungen und interviewte Polit-Größen wie Gustav Stresemann, Kemal Atatürk und Leo Trotzki. Nur Hitler wollte nicht. Erst nach mehr als sieben Jahre erfolgloser Versuche - "er war hochmütig und hielt sich von allen Ausländern fern" - sagte der Österreicher zu. Thompson glaubte, weil er kurz vor der Machtübernahme stand und es daher für ihn an der Zeit war, "sich an die Welt zu wenden".

Ende 1931 traf die Amerikanerin Hitler im Berliner Hotel "Kaiserhof". Sie war eine der ganz wenigen ausländischen Reporter, die ein Interview mit ihm führte. Der Bericht über ihre Begegnung erschien wenige Wochen später im "Cosmopolitan" und bald darauf als Buch "I saw Hitler!" (Ich traf Hitler!). Es trug wesentlich dazu bei, dass die Nazis Thompson auswiesen. Nun ist das Essay erstmals vollständig auf Deutsch erschienen. Verlegt hat es der Wiener Verlag "Das vergessene Buch", der, wie sein Name schon sagt, Werke aus der Versenkung holt, damit sie in Erinnerung bleiben.

Thompsons Lebensirrtum

Dorothy Thompson durchschaute Hitler und unterschätzte ihn dennoch.

Dorothy Thompson durchschaute Hitler und unterschätzte ihn dennoch.

(Foto: IMAGO/Pond5 Images)

Schon das Vorwort ist, obwohl kurz und bündig, eine scharfsinnige Analyse Hitlers, seines Wesens, seines Handelns, seiner Anhänger, des Kults um ihn sowie des Zustands Deutschlands. Unter dem Jubel "des patriotischen, gekränkten, kleinbürgerlichen Mobs", schrieb die Amerikanerin, "reitet der kleine Mann auf dem Wirbelsturm einer zwölfjährigen Misswirtschaft, für welche die ganze Welt verantwortlich ist". Sie wies also schon damals nicht allein den Deutschen die Verantwortung am Erstarken der Nationalsozialisten zu, sondern auch den siegreichen Gegnern des Reiches im Ersten Weltkriegs, die 1923 das Ruhrgebiet besetzten, trotz Inflation und Wirtschaftskrise auf volle Reparationszahlungen bestanden und somit zur Schwächung der jungen Demokratie der Weimarer Republik beitrugen.

Thompson benannte klipp und klar Hitlers Ziel: "Die Durchsetzung einer Diktatur und die Einrichtung eines neuen - oder ist es das alte? - kriegerischen Deutschlands." Zwischen Fakten, klugen Einschätzungen und Warnungen blitzt in ihrem Aufsatz immer wieder bittere Ironie auf, die eine gewisse Unsicherheit verrät. Die Autorin nahm Hitler und sein Wirken ernst und ahnte auch, welche Gefahr von ihm ausging oder besser: ausgehen könnte. Denn wie so viele andere Zeitgenossen auch, glaubte Thompson, dass seine Gegenspieler in Politik und Wirtschaft den selbst ernannten "Führer" am Krieg hindern und die Juden beschützen würden.

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Gleich der erste Absatz nach dem Vorwort enthält einen Irrtum, der Thompson den Rest ihres Lebens begleiten sollte. Die Reporterin war der "festen Überzeugung, dem künftigen Diktator von Deutschland zu begegnen. Keine fünfzig Sekunden später war ich mir ziemlich sicher, dass dies nicht der Fall war. So lange dauerte es in etwa, um die verblüffende Bedeutungslosigkeit dieses Mannes zu ermessen, der die Welt in Atem hielt." Einmal nannte sie Hitler in dem Text "Möchtegern-Diktator". Andererseits traute sie es ihm zu, "ein souveränes Volk dazu zu überreden, seine eigenen Rechte abzuwählen".

"Thompsons legendäre Fehleinschätzung ist eigentlich ein missverstandenes Missverständnis", befindet Oliver Lubrich, Professor für Germanistik an der Universität Bern, in seinem lesenswerten Nachwort. So oder so: Das Essay ist schon deshalb ein beeindruckendes historisches Dokument, weil Thompson ihren unmittelbaren Eindruck von Hitlers Wesen wiedergab. "Er ist die Verkörperung des kleinen Mannes. Seine Bewegungen sind linkisch, fast würdelos und äußerst unkriegerisch. In seinem Gesicht findet sich keine Spur von innerem Konflikt oder von Selbstdisziplin."

Lächerlich und gefährlich

Inhaltlich war Hitler blank. Fragen zu Plänen und Absichten beantwortete er nicht, damit seine "Feinde" sein Programm nicht "stehlen" könnten, wie er ihr sagte. Umso erstaunlicher ist die Gabe Thompsons, die Machtmechanismen des angehenden Diktators offenzulegen, mit welcher Raffinesse er sich an "die unorganisierten, verwirrten, unglücklichen Deutschen" wandte: "Kleine Leute. Niedergedrückt von einem Gefühl der Minderwertigkeit. Auch Hitler trägt daran." Mit Blick auf außenpolitische Erfolge der Weimarer Republik stellte die Korrespondentin fest: "Hitler und seine Leute ließen sogar Siege nach Demütigungen klingen."

Die mörderische NSDAP hatte längst die Macht der Gefühle als Mittel ihrer Politik, Propaganda und Hetze entdeckt, was vor allem die Juden zu spüren bekamen. Über Hitler stellte die Reporterin fest: "Vor allem appellierte er an die unsichtbaren Wirklichkeiten, an die Emotionen und an den Glauben, nicht an die Vernunft." An anderer Stelle schrieb sie: "Vernunft hat die Welt noch nie vom Hocker gehauen, und Hitler, der begnadete Agitator, weiß das. Eigeninteresse dagegen schon, und mag es auch noch so lächerlich daherkommen."

Heute würde man sagen: Fakten wird mit Fake News und Untergangsängsten mit Gefühlen einer angeblich homogenen Volksmasse begegnet, auch Irrationalität und Widersprüchlichkeit sind Kennzeichen von Politik an den Rändern. Nicht die einzigen Parallelen zur Gegenwart. "Es gibt eine Radikalisierung in Deutschland, bei den Rechten ebenso wie bei den Linken", notierte Thompson. Über Hitler wurde gelacht wie in unserer Zeit über "Reichsbürger". "Er hat keine nennenswerten Waffen: ein paar Pistolen, einige davon mit Wasser oder Zündplättchen geladen; ein paar Gewehre, einige Schlagringe und Dolchringe, ein paar rostige Stahlhelme und als Uniform braune Hemden." Hitlers Bewegung lebte von Antiamerikanismus. "Verachtung für die Amerikaner, diese Dollar-Jäger, Geld-Schaufler, Profiteure."

Der Unterschied ist dennoch gewaltig: Die Bundesrepublik ist anders als die von Weimar eine gefestigte und wehrhafte Demokratie, in der nur eine Minderheit den "Umsturz" oder "Tag X" herbeisehnt. Trotzdem kann man von Thompson und ihrem Buch lernen. Denn es zeigt: Niemand kennt die politische Entwicklung, selbst wenn man die Gegenwart noch so rational und klug zu erfassen vermag. Insofern ist "Ich traf Hitler!" auch eine Warnung an heutige Generationen.

Quelle: ntv.de

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