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Nachwende- oder Arbeiterroman? Die Nullerjahre der Ost-Malocher

In den 2000er Jahren sind die Wohnungen in Leipzig-Grünau noch unsaniert.

In den 2000er Jahren sind die Wohnungen in Leipzig-Grünau noch unsaniert.

(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)

Sie sind Jahrgang 1985, geboren in Sachsen. Sie rauchen und saufen, arbeiten hart und verdienen nicht unbedingt gut. Domenico Müllensiefen schreibt über drei Freunde im Leipzig der Nachwendezeit ohne Bitterkeit oder Larmoyanz.

Heiko, Thomas und Karsten sind Freunde seit Kindertagen. Jetzt ist Thomas tot, Heiko steht an einem Tag im Juli 2014 als Bestatter am Unfallort. Karsten lebt in Amerika und ihre Freundschaft ist den dreien irgendwie verloren gegangen. Fast 30 sind sie inzwischen, außer Thomas, der niemals 30 werden wird. 1985 geboren, Kinder der DDR in ihren letzten Monaten.

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Und Kinder, die in dem neuen wiedervereinigten Deutschland ausgerechnet in Sachsen aufwachsen, in Leipzig, das damals kaum etwas von der hippen und zukunftsschwangeren Atmosphäre hat, für die die Stadt inzwischen gehypt wird. Es sind die Nullerjahre, die Erwachsenen versuchen irgendwie klarzukommen. Die Kinder spüren deren Wut und Frustration und gleichzeitig den Anspruch, dass sie selbst gefällig klarkommen sollen in diesem neuen System, dessen Verheißungen in scheinbar erreichbarer Nähe leuchten.

Der Vater von Thomas hat eine Schlachterei und Fleischerei, so hat wenigstens einer eine berufliche Aussicht. Karstens Vater ist in den Westen abgehauen und hat die Mutter mit Schulden sitzengelassen. Heikos Eltern haben in ihrem eigenen Haus einen Partykeller, in dem ständig gesoffen wird. Ein paar Jahre später wird Thomas' Familie bankrott sein, weil die westdeutschen Fleischkonzerne den Preiskrieg um das immer billigere Fleisch gegen jeden alteingesessenen Handwerksbetrieb gewonnen haben. Karsten wird bester Lehrling Sachsens sein, so gut, dass sie ihn sogar in Amerika mit Kusshand nehmen. Und Heiko hat erst Elektriker gelernt, war dann Pizzafahrer, bis er schließlich in der Bestattungsbranche landet. Sein Vater ist in dem Jahr an Krebs gestorben, in dem es nach Kenia gehen sollte.

"Carpe Diem"

Auf all das schaut Heiko zurück, während er Thomas für die Beerdigung vorbereitet. Er wäscht den Körper des Freundes, auch die Stelle mit dem Tattoo, das sich die Freunde gemeinsam besoffen in Amsterdam haben stechen lassen - alle das gleiche: den Schriftzug Carpe Diem und die Flügel einer Windmühle. Sie waren entschlossen, ihre Feuer zu zünden. Nicht so wie damals, als sie Schulbücher abgefackelt hatten. Sondern richtig. Aus dem Vollen leben, große Autos fahren, Frauen haben, viel Geld verdienen.

Es sind gar nicht so große Träume, aber es sind auch die 2000er Jahre. In Ostdeutschland ist die Arbeitslosenquote hoch, die Vorzeigewohnviertel der späten DDR-Jahre verkommen zu Quartieren der Abgehängten, Rauchen, Saufen, Schlägereien bei jedem Fußballspiel, wenn sich all der Frust entlädt. Wer kann, geht weg. Aber Thomas und Heiko wollen nicht weg und selbst wer den Absprung versucht, kommt manchmal, getrieben vom Heimweh, wieder. Es ist eine Heimkehr, die sich nach einer Niederlage anfühlt.

Domenico Müllensiefen findet für diese bleiernen Jahre mit "Aus unseren Feuern" eine Erzählung. Der 1987 in Magdeburg geborene Autor macht daraus eine überzeugende und lesenswerte Coming-of-Age-Geschichte, die gleichzeitig ostdeutsch und universal ist. Überall scheinen die Verwerfungen der Wendejahre in der Kindheit und Jugend von Heiko, Thomas und Karsten durch. Gleichzeitig sind sie durch ihre soziale Verortung jenseits von Startups und Bionade-Biedermeier das, was einmal als Arbeitermilieu angesehen wurde, die Malocher der neuen Bundesländer.

Es sind Handwerker, Bauarbeiter, Bestatter, Menschen, die früher als Facharbeiter anständiges Geld verdienen, sich ein Häuschen erarbeiten konnten. Eine Schicht, in der auf "die da oben" geschimpft wird, immer ein bisschen Fremdenfeindlichkeit mitschwingt, und trotzdem stehen alle um 6 Uhr morgens auf der Matte, um Läden zu öffnen, Schweine zu zerlegen oder Kabel anzuschließen. Im Sachsen der Nachwendezeit bekommen sie erklärt, wie sie Bewerbungsschreiben verfassen und dass Callcenter immer Jobs haben. An ein Häuschen ist kaum zu denken, die Autos stammen von windigen Händlern und sind eigentlich schon Schrott, Geld macht man kaum noch mit Arbeit, dafür mit allen möglichen krummen Geschäften.

Fußball und Frauen

Wie das läuft, beschreibt Müllensiefen aus der Sicht seines Ich-Erzählers Heiko. Zu seiner Elektrikerausbildung gehört die Einweisung in das Klauen von Buntmetallen einfach dazu, ebenso das Saufen und das allgegenwärtige Rauchen, die Pornos, die Disziplin und die fast zärtliche Kumpeligkeit in den unterirdisch miesen Monteursunterkünften. Fußball und Frauen, darum drehen sich die Gespräche, wer hat Sex, wer hat keinen, wer hat verloren und warum. Lok Leipzig, Ende der 1980er noch Europacupgegner von Ajax Amsterdam und dem SSC Neapel, spielt jetzt in der Zweiten Liga, so kann man Abstieg auch erzählen.

Müllensiefen schreibt Dialoge von schmerzhafter Authentizität, ohne seine Figuren bloßzustellen. Männer heißen Mike und Maik oder Raik, Frauen Mandy oder Jana, wie Heikos erste Liebe, deren Vater bei der Stasi war. Dann waren die Stasi und der dazugehörende Staat Geschichte und ihm lief die Frau weg. Seitdem füllt der Alkohol diese Leere.

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Die Zeit von Thomas' Tod bis zur Beerdigung, Heiko hebt natürlich auch dessen Grab aus, verwebt Müllensiefen mit Rückblenden. Heiko versucht irgendwie, seinen Platz zu finden, während ihm seine Mutter potenzielle Partnerinnen anträgt. Thomas driftet in die "Reichsbürger"-Szene ab und Karsten scheint in Amerika sein Glück zu machen. Erst als er zur Beerdigung zurückkehrt, wird klar: Auch das hat nicht geklappt.

Trotzdem wird es bei Müllensiefen nie bitter oder wehleidig. Die Dinge sind, wie sie sind. Thomas ist tot, sein Vater macht nun mit dem westdeutschen Fleischfabrikanten gemeinsame Sache. Karsten ist wieder da und neben Heiko sitzt plötzlich Juliane. Wenn sie seine Hand streichelt, streichelt sie alle Angst und Sorgen einfach weg. Aber, wenn sie eines gelernt haben, dann das: Jederzeit kann sich alles ändern.

Quelle: ntv.de

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