
Ist mit seinem Roman "Noch wach?" auf Lesereise: Der Autor Benjamin von Stuckrad-Barre.
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Das neue Werk von Benjamin von Stuckrad-Barre ist weder Enthüllungs- noch Schlüsselroman. In "Noch wach?" geht es um viel mehr. Im Fokus steht eine junge, zynische Journalistin, die ihre Rolle im Machtgefüge ihrer männlichen Chefs zunehmend hinterfragt.
Einen "Scheißetsunami" nannte der Autor Micky Beisenherz das, was die Springer-Chefetage überrollen werde, wenn Benjamin von Stuckrad-Barre sein neues Buch veröffentlicht. Das war im März dieses Jahres, also ungefähr zu dem Zeitpunkt, an dem die Spekulationen über Stuckrad-Barres neues Werk an Fahrt aufnahmen. Schnell lag das Wort "Enthüllung" in der Luft. Womöglich gehe es um die Affären des ehemaligen "Bild"-Chefredakteurs mit jungen Kolleginnen und die Machtmissbrauch fördernden Strukturen im Springer-Konzern, hörte man. Kurzum: Die Spannung hätte kaum größer sein können, als "Noch wach?" am 19. April im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschien.
Doch die vermutete Naturkatastrophe im Springer-Hochhaus bleibt aus. Er habe lediglich einen Roman geschrieben, darauf pocht Stuckrad-Barre seit der Veröffentlichung. Der sei zwar "in Teilen inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen", vor allem aber sei er eins: Fiktion. Der Autor selbst ruft das Kommando also zurück. Zum Schutz vor rechtlichen Konsequenzen? Vielleicht. Immerhin ist es kaum möglich, bei den Protagonisten, die Stuckrad-Barre lediglich "meinen Freund" und "den Chefredakteur" nennt, nicht an Springer-Chef Mathias Döpfner und Ex-"Bild"-Chef Julian Reichelt zu denken.
Damit mache es sich die Leserin jedoch zu einfach, macht der Autor klar. Denn in seinem Buch gehe es, so sagte er dem "Spiegel", um einen "bestimmten Typus Mensch", die Auswirkungen von Macht und Abhängigkeiten. Einen Versuch, den eigenen Assoziationshorizont zu erweitern, ist es also wert.
Chefredakteur mit Gottkomplex
"Noch wach?" beginnt mit einer Männerfreundschaft. Den Ich-Erzähler - einen Schriftsteller, der im Sommer in einem Berliner Hotel wohnt und sich davon im Winter in Los Angeles erholt, und den "Freund, vielleicht besten Freund" verbindet vor allem Loyalität. Man hat schon viel erlebt, vor allem Krisen, aus denen man sich herausgezogen hat. Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Erzähler und seinem Freund, dem Chef eines Medienkonzerns mit Sitz in Berlin, gibt es viele, Probleme hingegen keine. Wäre da nicht der zunehmend an Einfluss gewinnende Chefredakteur.
Es war ein seltsames Gespann, mein so angenehmer Freund und dieser Krawalldödel, ich hatte diese Verbindung nie ganz begriffen. Meine Freunde sind deine Freunde - nein, nicht immer. Aber trotzdem war es natürlich zu akzeptieren, wenn ein Freund sich auch mit Leuten umgab, die man ablehnte. Meinungsfreiheit! Und eben auch: Deinungsfreiheit. (Aus "Noch wach?" von Benjamin von Stuckrad-Barre)
Der Erzähler macht keinen Hehl daraus, dass er den Chefredakteur, einen ehemaligen Kriegsreporter mit Gottkomplex, verachtet. Zunächst für die menschenverachtende Berichterstattung, mit der er seinen Boulevard-Sender Tag für Tag füttert. Mal fischt er dafür am braunen Rand, meist geht er über Leichen, etwa wenn er das Liebes-Aus zwischen einem jungen Model und einem Fußballspieler bis ins kleinste Detail ausschlachtet. Dabei spricht er ständig für das ganze Land, immer wird aus seinem persönlichen Impuls ein, für den Ich-Erzähler kaum zu ertragendes "wir", "niemand", "alle" oder "jeder".
Ich hatte diesen Widerling direkt im Ohr, seine hysterischen Standardkaskaden, seine kindisch anmaßende Pluralgefangennahme des gesamten Landes. (...) Wahrscheinlich stand er morgens mit dem Rasierapparat vor dem Spiegel und dachte: Deutschland rasiert sich gerade das Gesicht.
Die Freundschaft zerbricht
Es ist jedoch nicht nur sein Werk, sondern vor allem seine missbräuchliche Art gegenüber jungen Mitarbeiterinnen, die den Chefredakteur zum widerwärtigen Gegenspieler des Romans werden lässt. Der Leser muss sich dabei jedoch mit den Meinungen anderer Romanfiguren über jenen Chef begnügen, denn ausschließlich durch diese Brille sieht er ihn. So bekommt das Ich des Romans Einblick in die Nachtnachrichten, die jener Chefredakteur an junge Mitarbeiterinnen seiner Wahl verschickt.
Schnell vergrößert sich das Bild von anzüglichen SMS zu einem systematischen Schema des Machtmissbrauchs: Immer gaukelt er den jungen Frauen, offenbar äußerst geschickt, eine tiefe Verbundenheit vor. Auf Sex folgen Lob, Achtung und Beförderung - oder zumindest keine Kündigung. Dann, wenn die tiefe Verbindung ebenso plötzlich wie einseitig vom Chefredakteur zerbricht, wird die eben noch zum Himmel gelobte Praktikantin, Volontärin, junge Journalistin im besten Fall ignoriert, im schlechtesten geächtet. Von der Moderation einer Prime-Time-Show zur Newsletter-Beauftragten, das dauert dann nicht einmal einen Tag.
Vermutlich würde dies bei dem Ich-Erzähler zwar einiges an Ekel, allerdings weniger persönliche Betroffenheit auslösen, herrscht bei ihm doch gerade kalifornische Pool-Jahreszeit. Doch zu seinem Missfallen hält der Freund an seinem profitbringenden Chefredakteur fest. Trotz dessen langer Spur an Fehlverhalten und vor allem: trotz aller Appelle des Ich-Erzählers. Auf einer Ebene erzählt "Noch wach?" somit die Geschichte einer an der Moral zerbrechenden Freundschaft zwischen dem Erzähler und seinem - nun - "Ex-Freund".
Sophia, die Hauptperson
Auch Sophia hält zunächst an dem Chefredakteur fest. Sophia, das ist eine Journalistin in ihren Zwanzigern, die als Moderatorin der Krawallshow "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen" dabei ist, Karriere zu machen. Und sie ist eine jener Frauen des Chefredakteurs. In der Geschichte lernt sie den Ich-Erzähler bei einer Suchttherapie kennen, nach der sich beide zur Kirschbananensaft-Schicksalsgemeinschaft verschwören. Im Buch wird sie ab diesem Moment zur Hauptperson und ihre Geschichte zur zweiten Ebene - auch, weil Stuckrad-Barre ausschließlich ihr eine Entwicklung zuschreibt.
So lernt die Leserin Sophia als stets toughe und zynische Jungjournalistin kennen, die - so scheint es zunächst - abgeklärt, fast abgestumpft den Vorteil aus ihrer Beziehung mit dem Chefredakteur zieht. Männer, so ihr Weltbild bis dahin, sind ohnehin alle gleich, daran lässt sich nichts ändern, warum also nicht das Beste daraus machen.
Ich will dir mal was erzählen über deine sensationelle Neuentdeckung Sexismus: Das ist überall, jeden Tag. Get over it!
"My ass, Einvernehmlichkeit!"
Diese Einstellung ändert sich schlagartig, als die ersten Nachrichten des Weinstein-Skandals nach Deutschland schwappen. Gleichzeitig dämmert Sophia, dass die Verbindung zum Chefredakteur gar nicht so tief war, wie dieser doch immer beteuerte und exklusiv schon einmal gar nicht. Nicht weniger zynisch als vorher und mit mindestens so viel Pragmatismus gründet sie nun eine Gruppe mit allen Frauen des Senders, die ebenfalls keine tiefe Verbundenheit zum Chefredakteur hatten, es aber dachten - den "Pink Tank".
Zusammen überlegen sie, wie sie den Sender, vielleicht auch die Öffentlichkeit, von ihrem Schicksal unterrichten und den Chefredakteur im besten Fall zur Verantwortung ziehen. Schnell stoßen sie, allen voran Sophia, dabei jedoch auf einen Begriff, ein kleines Detail, das diesen Kampf für die Frauen viel härter werden lässt, als erhofft und für den Medienkonzern so etwas wie der rettende Anker ist:
Einvernehmlich? Bei dem Machtgefälle willst du mich verarschen? Für wen von beiden ist es denn leichter, die Sache zu beenden - suck my ass, Einvernehmlichkeit!
Stets mit dabei, auf der Seite des "Pink Tanks", vor allem aber auf Sophias Seite, ist der Ich-Erzähler. Während die zunehmend vom Medienkonzern geächtete Journalistin vor Tatendrang nur so sprüht, beschränkt sich das schier Endlose bei dem Erzähler allerdings auf seine Gedankenspiralen. Wie geht er mit all den ihm anvertrauen Machtmissbrauchs-Schicksalen um? Und wäre es sexistisch, Sophia schön und schlau statt schlau und schön zu finden?
Keine Enthüllung, trotzdem lesenswert
Vor allem durch Denkexzesse wie diese wird "Noch wach?" teilweise langatmig und ermüdend. 384 Seiten umfasst das Buch, über elfeinhalb Stunden das Hörbuch. Die Audio-Version hat dabei jedoch einen entscheidenden Vorteil: Stuckrad-Barre selbst liest sein Werk und schafft es mit seiner Stimme, vermeintlich Belangloses emotional zu vermitteln. Da steckt etwa der Ekel gegenüber dem Chefredakteur in jeder Silbe. Auch die große Alterslücke zwischen dem Roman-Ich und Sophia wird der Zuhörerin allein durch die unterschiedliche Aussprache des von Sophia bevorzugten Denglisch deutlich.
Wer Enthüllungen sucht, wird in "Noch wach?" enttäuscht. Selbst, wenn Stuckrad-Barre nicht auf der Fiktionalität seines Romans beharren würde, gäbe es darin kein Detail über den Springer-Konzern, das Journalisten nicht schon aufgedeckt hätten.
Lesenswert ist dieser Roman trotzdem, nein wahrscheinlich gerade deswegen. Denn es geht um viel mehr als nur um die Missstände in einem Unternehmen. Es geht auch um die Schauspielerin Rose McGowan, die den Medienmogul Harvey Weinstein als eine der Ersten wegen sexuellen Missbrauchs anzeigte. Stuckrad-Barre erinnert auch an die US-Amerikanerin Monica Lewinsky, die nach einer Affäre mit dem ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton medial zerstört wurde, unter anderem von ihm selbst. Es geht um "Fickbusse" in Los Angeles und Männer auf Fahrrädern, die Frauen ansprechen und nicht merken, nein, nicht merken wollen, dass ihr Interesse auf Einseitigkeit beruht. Und um Abhängigkeiten sowie Gewohnheiten.
"Noch wach?" stellt die Frage in den Fokus, ab wann Einzelfälle eigentlich keine Einzelfälle mehr sind und drängt den Leser oder Zuhörer dazu, sich zu fragen, was man als Zeuge oder Mitwisser eigentlich tun kann, vielleicht sogar muss. Stuckrad-Barre bietet kaum Antworten und erst recht keine Lösungen. Aber er schiebt längst nicht erledigte Themen in die Aufmerksamkeit seines riesigen Publikums und das ist mindestens genauso wichtig wie große Enthüllungen.
Quelle: ntv.de