
Über 200 Tonnen Fische sind bei der Oder-Katastrophe verendet. Experte Christian Wolter schätzt, dass die Dunkelziffer etwa drei- bis viermal höher ist.
(Foto: picture alliance/dpa)
Tonnenweise tote Fische trieben im August in der Oder. Bis sich der Fluss erholt, dauert es noch mehrere Jahre, sagt ein Experte. Jetzt kommt es darauf an, die Natur einfach mal machen zu lassen. Doch der Oder-Ausbau gefährdet die Regeneration.
Helfer schaufeln massenhaft tote Fische in Eimer und Mülltonnen. Ganze Teppiche verendeter Tiere treiben auf dem Wasser. Diese Bilder von der Oder haben die Menschen vergangenen Monat schockiert. Tausende Fische, Muscheln und Schnecken sind im August in dem Grenzfluss zwischen Deutschland und Polen gestorben.
Die Ursache für die Umweltkatastrophe war eine massive Salzeinleitung, wodurch der Salzgehalt im Oder-Wasser gestiegen ist, erklärt Christian Wolter im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Er ist Fischökologe am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. "Damit ist es einer Brackwasseralge, der Prymnesium Parvum, möglich geworden, eine Algenblüte zu bilden. Nicht alle Algen produzieren Toxine, diese Alge ist aber in der Lage dazu gewesen, ein Toxin aus der Gruppe der Prymnesine zu produzieren, und hat unmittelbar das Fisch- und Muschelsterben verursacht."
Welche chemische Substanz genau den hohen Salzgehalt herbeigeführt hat, untersuchen Experten noch bis Ende September. Mehrere Hundert kommen laut Bundesumweltministerin Steffi Lemke dafür infrage. Und es ist auch noch nicht klar, wo die Stoffe eingeleitet wurden.
Schuld sind auch Niedrigwasser und Hitze
Zu dem hohen Salzgehalt kam noch, dass der Wasserstand extrem niedrig war, erklärt Christian Wolter. "Der Aufstau von Gewässern führt dazu, dass die Verweilzeit des Wassers erhöht wird. Die Alge hat Zeit, sich an Ort und Stelle zu vervielfachen und dann Massenentwicklungen zu bilden. Und die nächsten Ingredienzien, die zu diesem Algenreaktor dazugehören, sind Nährstoffe, von denen es in der Oder immer noch reichlich gibt, hohe Temperaturen und Sonnenlicht." Dass Algen so massenhaft wachsen, sei eigentlich ungewöhnlich in so einem naturnahen Fluss wie der Oder.
Über 200 Tonnen tote Fische waren die Folge. Christian Wolter schätzt, dass noch viel mehr gestorben sind, bis zu 800 Tonnen. Nicht alle Fische hätten eingesammelt werden können. Viele seien zum Beispiel gar nicht zu sehen gewesen, weil sie unter der Wasseroberfläche oder im Schilf trieben. Dazu kämen noch massenhaft tote Muscheln und Schnecken: "Niemand hat sich die Mühe gemacht, auch die Muschel-Kadaver einzusammeln." Das organische Material belaste den Sauerstoff-Haushalt des Gewässers noch eine ganze Weile, erklärt Wolter im Podcast. Der kürzliche Regen in Polen sei ein echtes Plus für das Ökosystem.
Institut zählt Fischbestand in der Oder
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.
Alle Folgen finden Sie in der ntv App, bei RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts und Spotify. Für alle anderen Podcast-Apps können Sie den RSS-Feed verwenden.
Sie haben eine Frage? Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an podcasts@ntv.de
Vor der Umweltkatastrophe hätten bis zu 600 Kilo Fische pro Hektar in der Oder gelebt, schätzt der Fischökologe. Darunter viele Arten, die dort einzigartig waren, wie der baltische Goldsteinbeißer. Wie viele Fische noch übrig sind, wollen er und seine Kollegen ab Ende September untersuchen, wenn sich der Sauerstoff-Haushalt im Wasser wieder stabilisiert hat. Hoffnung macht der Landesfischereiverband Brandenburg-Berlin, der bereits wieder viele gesunde Fische beobachtet hat - auch, weil das Wasser durch den Regen wieder um etwa einen Meter gestiegen ist.
Bis sich die Tierwelt in der Oder vollständig regeneriert hat, wird es mehrere Jahre dauern. "Ich rechne damit, dass dieser Prozess sogar vergleichsweise schnell geht, in zwei bis drei Jahren", sagt Christian Wolter. Die Muscheln würden mindestens fünf Jahre benötigen. "Wir wissen, dass viele Fische überlebt haben, die auch ein hohes Reproduktions-Potenzial haben, sodass sich der Fischbestand aus eigener Kraft sehr schnell erholen kann." Eingreifen müsse der Mensch da nicht, so der Experte. In Nebenflüssen wie der Warthe hätten Fische überlebt, "die als geschlechtsreife Fische dann sehr mobil sind und auch die Oder wiederbesiedeln können".
Streit um Oder-Ausbau
Einfach mal innehalten, empfiehlt auch Bundesumweltministerin Lemke, das Ökosystem solle sich jetzt erholen. Doch das ist nicht der Plan an der Oder. Der Fluss soll ausgebaut werden, für den Hochwasserschutz - damit die Eisbrecher im Winter besser durchkommen. So haben es Deutschland und Polen vereinbart. Umweltschützer vermuten, dass Polen eigentlich ein anderes Interesse hat, nämlich Frachtschiffe auf der Oder fahren zu lassen. Lemke will, dass der Oder-Ausbau gestoppt wird. Ihre polnische Kollegin Anna Moskwa zieht da nicht mit. Sie sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Ausbau und dem Fischsterben.
Christian Wolter warnt davor, den Fluss auszubaggern: "Der Fluss wird tiefer und damit wird die Landschaft auch tiefer entwässert. Und es wird genau das Gegenteil von dem erreicht, von dem wir wissen, dass wir es als Anpassung an den Klimawandel brauchen." Für zwei Funktionen könnten die Flüsse fit gemacht werden. "Wir müssen das Wasser in der Landschaft zurückhalten. Und das schaffen wir durch natürlichen Hochwasserschutz", so der Ökologe.
Besonders dramatisch ist die Lage bei Reitwein in Brandenburg. Dort lebte bisher der seltene baltische Goldsteinbeißer: die einzige Population dieser Art in ganz Deutschland. Durch den Oder-Ausbau und das Algengift könnte die kleine Art jetzt bei uns ausgestorben sein. Christian Wolter und sein Team werden das in den nächsten Wochen untersuchen.
Alle Folgen von "Wieder was gelernt" können Sie in der ntv-App hören und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Google Podcasts und Spotify. Mit dem RSS-Feed auch in anderen Apps. Sie haben eine Frage? Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an podcasts@ntv.de
Quelle: ntv.de