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Nach Venezuelas Säbelrasseln Dschungelkrieg in Guyana? "Das wäre Vietnam hoch drei"

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Auf dieser Landkarte von Präsident Nicolás Maduro ist Essequibo schon ein Teil von Venezuela.

Auf dieser Landkarte von Präsident Nicolás Maduro ist Essequibo schon ein Teil von Venezuela.

(Foto: picture alliance / Anadolu)

Nach Venezuelas Annexions-Referendum fürchtet die Welt den nächsten Krieg, doch mittlerweile hat sich die Lage beruhigt. Eine Schlacht im Regenwald wäre ohnehin für niemanden zu gewinnen, sagt ein ortskundiger Experte.

Erinnerungen an Russland und die Krim-Annexion vor neun Jahren werden wach, als der Präsident von Venezuela Nicolás Maduro vor zwei Wochen das Ergebnis eines bizarren Referendums feiert. Venezuela erhebt damit Anspruch auf den Großteil seines Nachbarlandes Guyana. 95 Prozent stimmen beim Referendum dafür, dass sich Venezuela die Region Essequibo in Guyana einverleibt.

Staatschef Maduro spricht von einem Sieg seines Landes. Das venezolanische Volk habe "hart, laut und deutlich gesprochen". Deshalb trete man nun "in eine neue, mächtige Phase ein". Venezuelas Präsident ruft dazu auf, das Gebiet per Gesetz zu einer Provinz von Venezuela zu machen und Lizenzen für die Ölförderung auszugeben.

Guyana dagegen prangert die Abstimmung als "existenzielle Bedrohung" an. Das Land im Norden Südamerikas ist eines der kleinsten des Kontinents - im europäischen Maßstab aber nicht winzig, sondern nur etwas kleiner als Großbritannien. Doch auf fast zwei Drittel des Staatsgebiets erhebt Venezuela Anspruch - eine Region, ungefähr doppelt so groß wie Österreich.

"Region heißt nicht zum Spaß Eldorado"

Die Region Essequibo erstreckt sich von der Atlantikküste im Nordwesten Guyanas bis tief in den Süden an die Grenze zu Brasilien. Ein sehr rohstoffreiches Gebiet, weiß Christian Cwik, Historiker an der Universität Graz am Zentrum für Inter-Amerikanische Studien. Der Österreicher ist in Südamerika bestens vernetzt und hat in der Region jahrelang geforscht. "Es geht natürlich um die neuen Erdgas- und Erdölfunde vor der Küste von Guyana. In Wirklichkeit geht es aber auch um Diamanten, um Gold, um Bauxit, um Uran. Diese Rohstoffe sind alle verborgen in der Region, die nicht zum Spaß Eldorado genannt wird", berichtet der Experte im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".

Venezuela und Guyana stünden "im Dauerstreit" um Essequibo, erzählt Cwik. "Auf praktisch allen venezolanischen Karten ist das als reklamiertes Gebiet eingezeichnet." In der Region selbst sei daher niemand über den Schritt Venezuelas überrascht.

"Unwegsameres Gelände gibt es nicht"

Immerhin ist nach gut zwei Wochen verbalen Säbelrasselns mittlerweile wieder Entspannung eingekehrt. Vorige Woche trafen sich die Präsidenten Maduro und Irfaan Ali auf neutralem Boden im Karibikstaat St. Vincent und die Grenadinen. Danach hieß es in einer gemeinsamen Erklärung, auf Gewalt müsse verzichtet und der Konflikt solle im Einklang mit dem internationalen Recht geklärt werden. Außerdem wollen Venezuela und Guyana eine Kommission einrichten.

Das alles klingt danach, als ob der Konflikt erneut einfriert. Ortskundige Experten wie Christian Cwik sind davon nicht überrascht. Der Österreicher hatte im Vorfeld bereits verdeutlicht, dass er einen Militäreinsatz für sehr unwahrscheinlich hält. Eine Eroberung des regenwaldreichen Eldorados sei "eigentlich unmöglich", sagte Cwik im Podcast. "Es handelt sich um sehr dichten und zum Teil noch primären Regenwald. Ein unwegsameres Gelände als dieses Gebiet gibt es gar nicht."

"Venezuelas Perspektive ist nicht ganz falsch"

Venezuela leitet seinen Anspruch auf Essequibo vom Genfer Abkommen aus dem Jahr 1966 ab. Damals unterzeichneten Venezuela und Großbritannien einen Grenzvertrag - unmittelbar vor der Unabhängigkeitserklärung der ehemals britischen Kolonie Guyana.

Zuvor hatte eine Vereinbarung von 1899 gegolten. Venezuela warf dem Gericht aber in den Jahren danach vor, parteiisch zugunsten von Britisch-Guyana entschieden zu haben. Die Vereinbarung von 1899 erklärten London und Caracas mit dem Genfer Abkommen für nichtig. "Neutral gesehen ist das schon eine umstrittene Frage. Die Perspektive Venezuelas ist nicht ganz falsch. Da gibt es, offen gesagt, schon viel Schindluder, das vonseiten der Briten getrieben wurde. Sie haben versucht, das Gebiet so weit wie möglich zu ihren Gunsten auszudehnen", analysiert Cwik bei "Wieder was gelernt".

Das Genfer Abkommen aus den 1960er-Jahren brachte letztlich aber auch keine zukunftsträchtige Lösung. Der Grenzstreit wurde wenige Jahre später eingefroren.

Wirtschaftliche und innenpolitische Gründe

Der Fluss Essequibo im tropischen Regenwald Guayanas.

Der Fluss Essequibo im tropischen Regenwald Guayanas.

(Foto: picture alliance / WILDLIFE)

Venezuelas Perspektive in Bezug auf das Schiedsgericht mag "nicht ganz falsch" sein, sagt Cwik. Abgesehen von über 100 Jahre alten Vereinbarungen, über die sich Caracas aufregt, habe das Vorgehen Venezuelas vor allem aber einen wirtschaftlichen Hintergrund. 2015 wurden vor der Atlantikküste Guyanas riesige Ölvorräte gefunden. Guyana ist seitdem das Land mit dem weltweit größten Wirtschaftswachstum. Venezuelas staatlicher Ölkonzern hat - wenig überraschend - keine Schürfungsrechte bekommen und Caracas fühle sich auch "deshalb herausgefordert", analysiert Cwik.

Das Referendum zur Annexion sollte nicht nur Venezuelas Position gegenüber Guyana stärken. Maduro gehe es auch darum, seine innenpolitische Lage zu verbessern, sagte Guyanas Premierminister Mark Philipps in einem "Welt"-Interview. Der Machthaber sei "am Tiefpunkt seiner Popularität angekommen" und deshalb habe er "nach einer Möglichkeit gesucht, die Menschen wieder auf seine Seite zu ziehen." Einen Volksfeind schaffen? Eine Anleitung dazu dürfte in jedem Autokraten-Handbuch auf einer der ersten Seiten stehen.

USA könnten intervenieren

Guyanas Präsident Ali sagte nach dem Annexions-Referendum, sein Land bereite sich "auf das Worst-Case-Szenario" vor. Die Regierung Guyanas habe deshalb primär ihre Kontakte in die USA verstärkt, berichtet Politikwissenschaftler Aaron Tauss von der Universität Wien bei ntv. "Der guyanische Vizepräsident hat gesagt, dass alle Optionen auf dem Tisch liegen und die Guyaner es auf keinen Fall erlauben würden, dass Venezuela dieses Gebiet annektiert."

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Das US-Militär ließ wenige Tage nach dem Referendum ihre Luftwaffe über Guyana aufsteigen, um die Unterstützung für das Land zu unterstreichen. Womöglich hat auch diese Maßnahme einen Teil dazu beigetragen, dass eine Eskalation vorerst abgewendet wurde.

Sollte sich Venezuela eines Tages entgegen den Erwartungen doch zu einem militärischen Vordringen entscheiden, kämen die Vereinigten Staaten wieder ins Spiel. "Ich kann mir gut vorstellen, dass die USA gewillt sind, ihre Interessen zu verteidigen, so wie sie das schon oft in Lateinamerika gemacht haben. Bis hin zu einer militärischen Intervention. Aber auch Großbritannien würde selbstverständlich gerne eine Art Schutzmachtfunktion ausführen", analysiert Cwik im Podcast. "Aber es geht um reinen Dschungelkrieg. Das ist ein Vietnam hoch drei. Ob da wirklich jemand hineingehen würde, mag ich bezweifeln."

"Wieder was gelernt"-Podcast

Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?

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Quelle: ntv.de

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