Politik

Norbert Röttgen im Interview "Nach dem Krieg muss es schnell gehen"

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"Nach allem, was die Ukraine seit über einem Jahr an Kriegsverbrechen erlebt, wäre es maximal absurd, ja geradezu eine Perversion der Realität, wenn Putin den Wunsch der Ukraine nach Sicherheit als Provokation ansehen würde", sagt Norbert Röttgen.

"Nach allem, was die Ukraine seit über einem Jahr an Kriegsverbrechen erlebt, wäre es maximal absurd, ja geradezu eine Perversion der Realität, wenn Putin den Wunsch der Ukraine nach Sicherheit als Provokation ansehen würde", sagt Norbert Röttgen.

(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)

Solange Krieg ist, kann die Ukraine nicht NATO-Mitglied werden, sagt der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, "denn dann würde die NATO Kriegspartei". Aber "in dem Moment, in dem der Krieg vorbei ist, muss der Weg für die Ukraine frei sein".

Der Bundesregierung wirft Röttgen vor, in dieser Frage nicht klar zu sein: Sie betone immer nur das Selbstverständliche: dass ein Land im Krieg nicht NATO-Mitglied werden kann. "Das weiß aber jeder. Eigentlich entscheidend ist doch: Was ist die Position der Bundesregierung für die Zeit nach dem Krieg? Den Satz, 'wenn der Krieg vorbei ist, soll die Ukraine NATO-Mitglied werden', habe ich vom Bundeskanzler oder seinen Ministern bisher jedenfalls nicht gehört." Deutschland sei "wieder eines der NATO-Länder, das der Ukraine eine wichtige und mögliche Unterstützung nicht gibt", so Röttgen.

ntv.de: War es ein Fehler, dass die NATO der Ukraine 2008 in Bukarest den Beitritt in Aussicht gestellt hat, den dann aber direkt auf die lange Bank geschoben hat?

Norbert Röttgen: Ja, für die Ukraine war, was 2008 in Bukarest herausgekommen ist, das schlechteste beider Welten. Man hat einerseits die Tür der NATO für die Ukraine aufgestoßen, was Putin als Provokation verstanden haben dürfte. Und andererseits nichts unternommen, um die Ukraine diesem Ziel näherzubringen und so vor Russland zu schützen. Das lag daran, dass der Westen zerstritten in diesen NATO-Gipfel hineingegangen ist und man sich nicht einig war. Das war der eigentliche Kardinalfehler.

Ist denkbar, dass es jetzt ohne Waffenstillstand und ohne Friedensvertrag einen NATO-Beitritt der Ukraine gibt?

Vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj bis zum ukrainischen Botschafter in Berlin sagt die Ukraine ganz klar: Wir wollen NATO-Mitglied werden, für uns und für Europa. Aber sie sagt auch, dass das eine Frage für die Zeit nach dem Krieg ist. Dieser Position stimme ich zu.

Die NATO nimmt kein neues Mitglied auf, das in einen ungeklärten Territorialkonflikt verwickelt ist. Würde ein Waffenstillstand reichen, damit die Ukraine Mitglied werden kann?

Solange Krieg ist, kann die Ukraine nicht NATO-Mitglied werden, denn dann würde die NATO Kriegspartei. Dass es dazu nicht kommen darf, ist innerhalb der NATO und zwischen NATO und Ukraine völlig klar. Darum unterstützen wir die Ukraine mit Waffen, Munition und Ausbildung, aber nicht mit eigenen Truppen. Denn Waffenlieferungen machen uns selbst nicht zur Kriegspartei. In dem Moment, in dem der Krieg vorbei ist, muss der Weg für die Ukraine frei sein.

Würde Putin einen NATO-Beitritt der Ukraine nicht wieder als Provokation ansehen?

Wir wissen nicht, wie dann die politischen Verhältnisse in Russland sein werden und ob Putin an der Macht bleibt. Ich hielte es aber in jedem Fall für grundfalsch, hier auch nur ein Jota zurückzuweichen: Russland hat kein Recht, über die Politik seiner Nachbarstaaten zu bestimmen, auch nicht darüber, ob sich einer dieser Staaten einem rein defensiven Bündnis anschließt. Das gilt erst recht, wenn es sich um ein Land handelt, das Russland gerade mit Krieg überzogen hat. Dass die Ukraine nach dem Krieg ein umso dringenderes Bedürfnis hat, einem Verteidigungsbündnis anzugehören, ist absolut verständlich. Nach allem, was die Ukraine seit über einem Jahr an Kriegsverbrechen erlebt, wäre es maximal absurd, ja geradezu eine Perversion der Realität, wenn Putin den Wunsch der Ukraine nach Sicherheit als Provokation ansehen würde.

Haben Sie die Hoffnung, dass dieser Krieg zu Putins Lebzeiten endet?

Man muss ein Ende des Krieges von Frieden unterscheiden. Bis zu einem Frieden wird es länger dauern als bis zum Kriegsende. Das Ende des Krieges kann erreicht werden, indem die Ukraine militärisch die Oberhand auf ihrem eigenen Territorium gewinnt, und dadurch, dass es zu politischen Veränderungen in Russland kommt. Die wiederum könnten ermöglichen, dass es eine politische Lösung mit der Ukraine gibt. Das ist der Weg, den die Ukraine verfolgt, auf den sollte man setzen.

Gibt es Sicherheitsgarantien für die Ukraine unterhalb eines NATO-Beitritts?

Nein. Im Moment ist unsere größte und wichtigste Aufgabe, alles zu tun, den Krieg zu beenden. Wenn der Krieg beendet ist, dann ist die größte und wichtigste Aufgabe, alles dafür zu tun, dass es keinen neuen Krieg gibt. Ein solcher Krieg würde drohen, wenn Putin oder ein System der Art Putin noch da ist und das Land Zeit hätte, sich militärisch zu erholen. Nach meiner Einschätzung gibt es gegen einen zweiten Krieg nur eine Abschreckung: die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Alles unterhalb einer NATO-Mitgliedschaft lässt die Ukraine in einer Grauzone von Sicherheit und Unsicherheit und macht eine nächste Aggression wahrscheinlicher.

In der kommenden Woche findet in Vilnius ein NATO-Gipfel statt. Was kann die NATO dort beschließen, das der Ukraine helfen würde?

Neben den Waffenlieferungen, die verlässlich kommen müssen und von denen mehr kommen muss, ist das Wichtigste jetzt, dass kein Zweifel an der Glaubwürdigkeit der NATO aufkommt. Deshalb ist es wichtig, dass die NATO beschließt, dass es die üblichen Prozeduren für einen NATO-Beitritt - den sogenannten Aktionsplan zur Mitgliedschaft - in diesem Fall nicht mehr braucht. Was die Ukraine in diesem Krieg militärisch leistet, ist mehr, als jeder Aktionsplan je hätte erbringen können. Nach dem Krieg muss es schnell gehen. Es muss ein Fast-Track-Verfahren geben, über das die Ukraine Mitglied werden kann. Diesen Willen glaubwürdig zu demonstrieren, ist für die Ukraine jetzt auch psychologisch geradezu lebenswichtig.

Von Bundeskanzler Scholz und Verteidigungsminister Pistorius geht das Signal aus, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine derzeit nicht zur Debatte steht. Damit könnten sie dasselbe meinen wie Sie: Aktuell kann die Ukraine nicht beitreten. Oder sie könnten meinen, dass sie darüber lieber nicht diskutieren wollen.

Leider muss man die Bundesregierung im letzteren Sinne verstehen. Mein Eindruck ist, dass die Bundesregierung - der Bundeskanzler, die Bundesaußenministerin und ich glaube auch der Bundesverteidigungsminister - über dieses Thema nicht reden will. Es wird immer das Selbstverständliche betont: dass ein Land im Krieg nicht NATO-Mitglied werden kann. Das weiß aber jeder. Eigentlich entscheidend ist doch: Was ist die Position der Bundesregierung für die Zeit nach dem Krieg? Den Satz, "wenn der Krieg vorbei ist, soll die Ukraine NATO-Mitglied werden", habe ich vom Bundeskanzler oder seinen Ministern bisher jedenfalls nicht gehört. Ich fürchte, die Tatsache, dass man darüber nicht reden will, bedeutet, dass der klare Wille zur NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht vorhanden ist. Zumindest noch nicht. Damit ist Deutschland leider wieder eines der NATO-Länder, das der Ukraine eine wichtige und mögliche Unterstützung nicht gibt.

Mit Blick auf die Waffenlieferungen: Hat Deutschland noch Material, das es der Ukraine zur Verfügung stellen könnte?

Erstens haben wir noch Material, und zweitens könnten wir längst mehr Material haben, wenn wir frühzeitig angefangen hätten, durch Aufträge an die deutsche Rüstungsindustrie die vorhandenen Produktionskapazitäten auszunutzen. Weil es keine politischen Entscheidungen gibt, gibt es auch keine Kapazitätsausnutzung. Das ist nicht nur grob fahrlässig, sondern geschieht vorsätzlich.

War die Entscheidung im Januar, Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern, nicht doch ein Kurswechsel?

Ja, in der Frage, ob wir Kampfpanzer liefern, war diese Entscheidung ein Kurswechsel. Aber auch der kam sehr spät. Diesen Kurswechsel hätte es schon im Juni 2022 geben können, nicht erst im Januar 2023. Das hätte der Ukraine enorm geholfen. Und es war ein Kurswechsel, den im Kern die Amerikaner herbeigeführt haben. Die Position des Bundeskanzlers war: Deutschland liefert nicht, es sei denn, die Amerikaner korrigieren ihre öffentlich kommunizierte und auch sachlich gut begründete Entscheidung beim Thema Panzerlieferungen. US-Präsident Joe Biden entschied daraufhin, dass die USA der Ukraine doch Abrams-Panzer liefern. Damit ließ er dem Bundeskanzler keinen Ausweg. Das ist eigentlich eine ziemlich traurige Geschichte.

Mit Norbert Röttgen sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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