Kanzler trifft Brandenburger Olaf Scholz rät: "Locker bleiben!"


Scholz fühlte sich in der Bürgerrunde erkennbar wohl.
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Der Bundeskanzler führt wieder Bürgergespräche, diesmal in Brandenburg. Es zeigt sich: Die Menschen treibt vieles um, das nicht täglich die Schlagzeilen füllt. Olaf Scholz bereitet die Begegnung sichtlich Vergnügen.
Der Wendler war schon da, genauso Cindy aus Marzahn und die Puhdys sowieso. Nun also macht der Bundeskanzler Olaf Scholz dem Stahlpalast seine Aufwartung. Der Name weckt falsche Erwartungen: Das unspektakuläre Veranstaltungszentrum am Stadtrand von Brandenburg an der Havel war einmal Sporthalle des nach der Wiedervereinigung geschlossenen Stahlwerks. Rund 160 Leser der "Märkischen Allgemeinen Zeitung" haben eine Zusage erhalten, hier dem deutschen Regierungschef einmal ganz nahe kommen und mit ein wenig Glück ihre Fragen stellen zu dürfen.
Sie erleben am Montag einen Kanzler, wie er im Fernsehen selten zu sehen ist: Entspannte Körperhaltung, oberer Hemdknopf offen, lockere Fomulierungen und etwas weniger technokratischer Politsprech; etwa, wenn Scholz seine Arbeitsmarktpolitik erklärt. Totalverweigerern sage er: "Nee, Freundchen, ganz ohne Arbeit geht es nicht." Scholz lächelt viel an diesem Abend, er mag das Format, es ist sein 13. Kanzlergespräch.
"Wann trittste endlich ab, Alter?"
Schon zur Bundestagswahl hatte der damalige SPD-Spitzenkandidat immer wieder auf die sogenannte Townhall gesetzt. Keine Ansprache, keine Journalistenfragen. Der Bürger fragt und Scholz antwortet, auch mit dem Risiko, dass es einmal ungemütlich wird. Am Ende der mehr als 90 Minuten wird ein Mann laut. "Wann trittste endlich ab, Alter?", ruft er und: "Du laberst nur Pisse!". Die Correctiv-Recherche zum rechtsextremen Treffen in Potsdam sei eine Lüge. Scholz sagt nur "ja, ja" und schaut schon gar nicht mehr hin, als der Pöbler des Saales verwiesen wird.
Draußen erwarten den Störer mehr als 200 Gleichgesinnte, die vor der Halle ihren Unmut über die Bundesregierung bekunden. Es ist das - ausweislich ihrer Plakate und Fahnen - übliche Potpourri, das dieser Tage beinahe jedem öffentlichen Auftritt eines prominenten Mitglieds der Bundesregierung beiwohnt: AfD-Anhänger, Russland-Freunde, Gegner von Waffenlieferungen, Kritiker der Corona-Politik und ein Traktor. Irgendein Landwirt ist also auch da.
Der Kanzler dürfte von all dem wenig mitbekommen haben. Braucht er auch nicht, er kennt die Stimmung vor Ort: Die Stadt Brandenburg liegt im Nachbarwahlkreis von Scholz' eigenem Wahlkreis Potsdam. Die SPD kämpft darum, auch nach dem 22. September mit Dietmar Woidke den Ministerpräsidenten Brandenburgs zu stellen. Das Bundesland ist eine sozialdemokratische Hochburg im Osten, ist seit der Wende ununterbrochen SPD-regiert und auch zur vergangenen Bundestagswahl meinte es das Land gut mit der Partei: Alle Brandenburger Direktmandate gingen 2021 an die SPD. In einer Forsa-Umfrage Mitte Januar lag die SPD bei 22 Prozent, zehn Punkte hinter der AfD, aber immerhin.
Jesus taugt Scholz nicht zum Vorbild
Auch im Saal ist die allgemeine Stimmung eines der wichtigsten Themen: "Ich erlebe, dass mir zunehmend Menschen sagen: 'Wir können nicht mehr aussprechen, was wir denken'", berichtet ein älterer, ehrenamtlicher Pfarrer. Jesus habe gerade mit den Ausgegrenzten gesprochen, anstatt Brandmauern zu ziehen. Er empfinde es als "bedrückend", dass viele Menschen das so sehen, sagt Scholz. Dabei könne jeder in Deutschland alles sagen, sogar den Kanzler beschimpfen und ihm obszöne Gesten zeigen. "Jeder soll so reden, wie er will" grenzt sich Scholz dennoch von vermeintlichen Sprachregelungen ab. Er rät allen Seiten: "Locker bleiben! Das würde unser Miteinander erheblich verbessern."
Einem Vorbild Jesu' kann Scholz im Umgang mit der AfD und anderen Rechtsextremen indes nichts abgewinnen. "Mit mir kann mal über alles diskutieren." Rechtsextremen Positionen müsse aber widersprochen werden, die Brandmauer sei richtig: "Die Demokratie darf nicht in Frage stehen, da ist die Grenze. Da muss man sagen: Du nicht!"
Ein junger Mann widerspricht: "Wahlergebnisse führen durch Brandmauern nicht zu Veränderungen." Im Land herrsche eine ganz andere Stimmung, als es Politik und Medien widerspiegelten. Ob der Kanzler nicht zumindest mehr Direktwahlen über einzelne politische Entscheidungen wie Atomausstieg, Migration und Außenpolitik ermöglichen wolle? Scholz erklärt in aller Ruhe noch einmal das Wesen der repräsentativen Demokratie und dass Volksabstimmungen wie im Falle des nicht mit Wohnungen bebaubaren Tempelhofer Feldes in Berlin auch in der Sache falsche Entscheidungen bringen könnten. Der Mann sagt, er hätte auch gegen eine Bebauung des einstigen Flughafens gestimmt. "Das hätten Sie mal nicht tun sollen!", sagt Scholz laut lachend.
Politik gegen Schlawinertum
Es ist ein wilder Ritt durch die Themen: Ein jesidischer Iraker fragt, warum Deutschland wieder Jesiden abschiebe? "Wir haben eine vorsichtige Praxis." Ein Mann fordert niedrigere Netzentgelte für Regionen wie Brandenburg, die mit vielen Windrädern einen größeren Beitrag zur Energiewende leisteten. Scholz sagt zu, "dass es demnächst gerechter zugeht". Eine junge Frau findet Scholz' Versprechen, massenhaft abzuschieben, rassistisch. Der entgegnet: Deutschland sei weltoffen, aber die Bundesregierung müsse darauf achten, "dass nicht jeder sagen kann: 'Ich bin jetzt hier und jetzt bleibe ich auch'".
Scholz erklärt einer Frau, dass es richtig gewesen sei, ukrainische Flüchtlinge direkt ins Bürgergeld und in den Arbeitsmarkt zu lassen, weil eine Prüfung der Asylanträge nur unnötige Arbeit für die Behörden bedeutet hätte. "Wir wissen ja, warum all diejenigen weggelaufen sind." Einem gegenüber E-Autos freundlich gesonnenen Mann erklärt der Kanzler, dass Volkswagen bald günstigere Elektroautos produzieren werde und es richtig sei, diese nicht mehr im bisherigen Umfang zu subventionieren. Eine Erbrechtsanwältin fragt, ob es sich überhaupt noch lohne zu sparen, wenn das Pflegeheim später die Rücklagen auffresse? Scholz sagt zu, dass der Eigenanteil bei längeren Aufenthalten künftig sinken solle.
Eine Rentnerin fragt, warum ihre Rente nur um 6,5 Prozent gestiegen sei, das Bürgergeld aber um 12 Prozent. Ein Raunen im Saal signalisiert Unmut bei weiteren Gästen. Weil sich die Renten an der Lohnentwicklung orientierten und das Bürgergeld an Inflationsindikatoren, sagt der Kanzler. "Für die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland ist die Orientierung an der Lohnentwicklung besser als die Orientierung an der Inflationsrate." Die seien so langfristig immer besser weggekommen. Die Rente werde nächstes Jahr wieder spürbar steigen, das Bürgergeld hingegen nicht. Zudem bekräftigt Scholz, auch er sei dafür, dass alle Menschen arbeiteten. "Ich kenne auch welche, die immer sich durchschlawinern", sagt er. Deshalb habe die Bundesregierung auch wieder mehr Sanktionen beim Bürgergeld ermöglicht.
Der Stahlpalast ist kein Elfenbeinturm
Zufällig ausgewählte Fragen von zufällig ausgewählten Menschen haben für Politiker den Reiz, einmal wegzukommen von den Aufregerthemen, die die Medien umtreiben. Es ist schon auffällig, dass unter 19 Fragestellerinnen und Fragestellern niemand etwas zur Ukraine wissen will. Nur ein Mann lobt Scholz' Nein zur Lieferung des Marschflugkörpers Taurus. "Ich ziehe meinen Hut vor Ihnen", sagt der, um dann über etwas ganz anderes mit dem Chef der Ampel-Koalition zu sprechen.
So sind die einzigen außenpolitischen Themen des Abends eine mögliche Wiederwahl des früheren US-Präsidenten Donald Trump, die Scholz nicht für ausgemacht hält, und die Lage der Menschen im Gazastreifen. Die Fragestellerin findet es widersinnig, dass Deutschland sich nicht hinter Waffenstillstandsforderungen stelle, Israel mit Waffen unterstütze und zeitgleich den Menschen in Gaza ein bisschen Lebensmittel schicke. Die 1,5 Millionen Menschen dort gehörten ja nicht alle der Hamas an. Scholz ist erkennbar dankbar, seine Nahost-Politik erläutern zu dürfen. Er berichtet, wie er in Israel nicht nur mit Premierminister Benjamin Netanjahu, Präsident Jitzchak Herzog und Oppositionsvertretern gesprochen habe, sondern eigens auf Englisch eine Pressekonferenz abgehalten hat, damit ihn jeder verstehe.
Deutschland sei "wahrscheinlich unter den großen Ländern der verlässlichste Partner des Landes. Aber gerade als Freund dürfen wir dann auch klare Worte sprechen" sagt Scholz. Er habe in Israel 500 statt täglich 200 Lastwagen mit Hilfslieferungen für Gaza gefordert. Zudem warnt Scholz vor der geplanten Offensive Israels in Rafah. "Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ohne riesige Menschenverluste geschehen soll, dort einen Angriff zu starten. Da sind wir auch sehr klar und sehr deutlich." Zudem habe sich die Bundesregierung klar gegen Gewalt durch israelische Siedler und gegen weitere Siedlungen ausgesprochen.
Es ist der große Rundumschlag und wer sich hernach im Publikum umschaut und umhört, stößt vor allem auf zufriedene Gesichter. Dass Politik so nahbar sein kann, bricht mit dem Bild, das sich bei vielen Menschen inzwischen festgesetzt hat. Das bedeutet nicht unbedingt, dass sie dem Kanzler nun zwingend in allem recht geben, der an diesem Abend natürlich auf alles eine Antwort und zu jedem Thema eine Meinung hatte. Auch einem lockereren Scholz fliegen die Herzen nicht unbedingt zu. Aber der Stahlpalast ist zumindest kein Elfenbeinturm und die Bereitschaft, einander zuzuhören, ist mehr als das, was viele andere derzeit aufbringen. Ob so viel Bemühen um Verständigung aber über die bei solchen Veranstaltungen doch überschaubare Zahl an Teilnehmern hinausstrahlen kann, ist eine ganz andere Frage.
Quelle: ntv.de