Politik

Neues Buch über Olaf Scholz "Scholz hegt keine romantischen Gefühle für Russland"

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Einen "Politiker mit Eigenheiten" nennt Brössler Olaf Scholz.

Einen "Politiker mit Eigenheiten" nennt Brössler Olaf Scholz.

(Foto: picture alliance / Flashpic)

Kein Kanzler musste so weitreichende Entscheidungen treffen, kein europäischer Regierungschef unterstützt die Ukraine in diesem Umfang. Olaf Scholz ist jetzt schon ein historischer Kanzler, aber eben auch ein viel kritisierter. Buchautor Daniel Brössler hilft, diesen sehr eigenen Charakter besser zu verstehen.

Seit bald zweieinhalb Jahren ist er nun schon Bundeskanzler dieses Landes und noch immer ist der Mensch Olaf Scholz den Deutschen ein Rätsel - dessen Lösung sich allerdings nur die wenigsten besonders spannend vorstellen. Dabei ist der Sozialdemokrat schon jetzt ein historischer Regierungschef: Er muss das Land durch die größte Kriegsgefahr navigieren, die die Bundesrepublik in den vergangenen 75 Jahren heimgesucht hat. Da drängen sich sehr wohl Fragen auf, wie: Was treibt den 65-jährigen Hamburger an, wenn er mit Putin ringt? Welche Erfahrungen haben ihn geprägt, wenn er über deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine entscheiden muss? Wieso versteht es dieser fraglos hochintelligente Mann nicht, seine Politik besser zu kommunizieren?

Der Journalist Daniel Brössler liefert mit seinem Buch "Ein deutscher Kanzler - Olaf Scholz, der Krieg und die Angst" Antworten und Erklärungsversuche. Er zeichnet nach, wie Scholz geworden ist, wer er ist, wie er die Wochen vor dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 erlebt hat - und wie der Bundeskanzler in den folgenden zwei Jahren reagiert und regiert hat. Die rund 300 Seiten sind dabei selbst für Menschen erkenntnisreich, die diese Zeit beruflich oder aus persönlichem Interesse eng verfolgt haben, und dazu packend geschrieben. Zugleich kommen Leser diesem "Politiker mit Eigenheiten", wie Brössler schreibt, tatsächlich näher: seinen Schwächen, Stärken, seinen Motiven und der ihm eigenen Widersprüchlichkeit.

Das gilt insbesondere für die 40 Seiten über Scholz' Aufwachsen und seine Zeit als junger Mann sowie für das Kapitel "Zeitenwende", als Scholz sehr einsam entscheiden musste, ob er Deutschland mittelbar an diesem Krieg beteiligt. "Kein anderer Kanzler musste in der Nachkriegszeit so Grundsätzliches in so kurzer Zeit entscheiden", schreibt Brössler, wenn man einmal von Helmut Kohls Wiedervereinigungspolitik absehe, die aber bedeutete, die Chance auf ein großes Glück zu ergreifen. Scholz dagegen steht fast seit Tag eins seiner Kanzlerschaft in hervorgehobener Mitverantwortung, dass in Europa keine Atombomben hageln. Es ist eine Stärke dieses Buches, die Ernsthaftigkeit der Lage ohne Alarmismus mitzudenken und Scholz den immensen Druck seines Amtes zuzugestehen.

Vom Marxisten zum NATO-Fürsprecher

Brössler, leitender Redakteur des Parlamentsbüros der "Süddeutschen Zeitung", begleitet Scholz seit Jahren, näherte sich dem Kanzler aber nicht ohne eigene Vorprägungen. Brössler war selbst mehrere Jahre Moskau-Korrespondent. "Diese sozialdemokratische Russlandpolitik ist etwas, worunter jeder deutsche Russlandkorrespondent gelitten hat", sagt Brössler bei der Vorstellung seines Buches an der Seite des "Stern"-Politikchefs Nico Fried und des Grünen-Europapolitikers Anton Hofreiter. Ehemalige Moskauer Kollegen anderer Medien nicken wissend. Nicht nur wegen Wladimir Putins treu ergebenem Kumpel Gerhard Schröder hat die russische Großinvasion ein Schlaglicht auf die notorische Russland-Connection der SPD und deren Folgen geworfen.

Scholz habe "tatsächlich für die Ukraine viel mehr getan, als ich es vor dem Überfall von einem sozialdemokratischen Kanzler erwartet hätte", so Brössler. Dem ambivalenten Lob liegt Brösslers profundes Wissen über Scholz' politischen Werdegang zugrunde. Der war schließlich als Jungsozialist in den 80er Jahren nicht nur Friedensaktivist, der gegen die Stationierung atomar bestückter US-Mittelstreckenraketen in Deutschland und Europa agitierte sowie den wahren Aggressor in Washington statt in Moskau wähnte, sondern auch überzeugter Marxist und als solcher wiederholt in der DDR und in der Sowjetunion zu Gast. Weltanschaulich hat der in kleinen Verhältnissen aufgewachsene Jurist Scholz seither einen weiten Weg zurückgelegt, ist heute entschiedener Befürworter des transatlantischen Verteidigungsbündnisses NATO.

Was aber ist geblieben aus den Anfangstagen? "Scholz hegt keine romantischen Gefühle für Russland", schreibt Brössler. Das unterscheidet ihn von so vielen in seiner Partei. Er habe sich schon vor Amtsantritt keine Illusionen über Putin gemacht, dessen Brutalität, Ruchlosigkeit und imperialistischer Wahn Olaf Scholz ehrlich empöre, lautet - zusammengefasst - Brösslers Beobachtung. Eine Niederlage der Ukraine wäre aus Sicht von Scholz eine Katastrophe. Der Autor sagt während der Buchvorstellung aber auch: "Wir würden die Ukraine fallen lassen, bevor wir mit eigenen Truppen reingehen." Deutschlands Solidarität und Risikobereitschaft haben Grenzen und Scholz handelt in diesem Bewusstsein.

Die Kraft der Atomangst

"Die Atomangst entfaltet eine ungeheure politische Kraft. Sie prägt eine Generation, sie prägt auch Scholz", schreibt Brössler über Scholz' Erfahrungen aus den 80ern. Dass Putin den westlichen Unterstützern der Ukraine wiederholt mit einem Atomwaffeneinsatz droht, nimmt der Bundeskanzler ernst. Er verbucht es als seinen persönlichen Erfolg, den chinesischen Staatschef Xi Jinping im November 2022 zu einer öffentlichen Verurteilung dieser Drohungen bewegt zu haben. "Armageddon ist abgesagt", beschreibt Brössler die Stimmung an Bord während des Heimflugs aus China. Putins verbale Zurückhaltung Putins erwies sich jedoch als von begrenzter Dauer.

Denn Putin droht weiterhin mit einer atomaren Eskalation. Im Umgang damit zählt man im Kanzleramt auch darauf, dass die Deutschen es bei der Bundestagswahl 2025 honorieren werden, dass dieser eigentlich sehr unbeliebte Kanzler sie dann aus einem Krieg herausgehalten haben wird. "Es wäre naiv, zu glauben, dass die Frage 'Wie wirkt das im Wahlkampf?' keine Rolle spielt", sagt Brössler bei der Buchvorstellung über Scholz' Ukraine-Politik. Es ist ein schmaler Grat, berechtigten Ängsten zu begegnen oder diese selbst zu schüren. Wie die SPD diesen Balanceakt bewältigt, je mehr sie und ihr als "Friedenskanzler" beworbener Spitzenkandidat auf den Wahlkampf zusteuern, bleibt zu beobachten.

Scholz bleibt Scholz

Trotz und Kränkung sind dabei kein unwesentliches Motiv, genauso wie Scholz' grundsätzliche Weigerung, sich von irgendwem öffentlich unter Druck setzen zu lassen. "Der Groll, den Scholz im Laufe des Kriegs gegen seine Kritiker entwickelt hat, speist sich aus seiner Überzeugung, dass sie die Tragweite seiner Entscheidungen unter-, die Möglichkeiten Deutschlands aber überschätzen", schreibt Brössler. Scholz' Ärger mag seine Berechtigung haben, Spuren eines Selbstzweifels beim Kanzler sucht man aber auch in Brösslers Buch vergebens.

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Scholz kommunikative Schwächen, seine Weigerung, die Deutschen bei seinen Überlegungen mitzunehmen, sind mit ein Grund für die ausbleibende Anerkennung. "Am liebsten würde Scholz nur sprechen, wenn er etwas zu verkünden hat", schreibt Brössler. So kann oder möchte auch der Autor nicht darlegen, welche möglichen Szenarien für ein günstiges Kriegsende der Kanzler im Kopf hat. Was Scholz zu welchem Zeitpunkt für die Ukraine zu erreichen hoffte, was er ihr zugetraut hat und ihr entsprechend an Hilfen gewährte, ist auch bei Brössler nicht zu erfahren. Keine deutsche Kriegsbeteiligung und Russland dürfe nicht gewinnen: Vielleicht hat der Kanzler wirklich nicht mehr als das als Leitplanken seiner großen und vielen kleinen Entscheidungen.

Dass er so oft im Ungefähren bleibe, dass er sich immer wieder an Floskeln und Slogans klammere und sich in unter Druck in Schachtelsätzen verliere, bestärke den Eindruck vom unnahbaren und abgehobenen Kanzler. Ob Scholz' vermeintliche Arroganz auch Schutzpanzer eines Mannes ist, der nie Kumpel-Typ war, dem das Warme und Umarmende abgeht, lässt Brössler offen. Scholz, aus dem schon seine Mitschüler nicht schlau geworden seien, werde sich aber nicht mehr ändern. "Die Tatsache, dass er so, wie er war, Kanzler werden konnte, hat ihn darin bestärkt, dass er so, wie er ist, als Kanzler bleiben kann", schreibt Brössler.

"Scholz möchte nichts offenlegen"

Inmitten ihrer existenziellsten Krise hat die Bundesrepublik einen Kanzler, der ganz bei sich und mit sich im Reinen ist. So viel Unbeirrbarkeit kann irritieren, erst recht Verbündete. Brössler zeichnet auch nach, wie Scholz die Bereitstellung des Kampfpanzers Leopard 2 derart offensiv an die Lieferung des amerikanischen M1 Abrams knüpfte, dass die US-Regierung um Joe Biden den Eindruck gewann, der Schwanz versuche hier, mit dem Hund zu wedeln. Dass Scholz keine Freunde kennt, wenn es um seine Überzeugungen geht, ist aus Sicht des einen Prinzipientreue und Verlässlichkeit, aus Sicht des anderen Sturheit und Unbelehrbarkeit.

Ob Scholz genug getan hat, um einerseits Schaden vom deutschen Volk abzuwenden und andererseits eine Niederlage der Ukraine zu verhindern, wird die Geschichte noch zeigen müssen. Es ist viel zu früh für ein abschließendes Urteil über diesen Kanzler. Wer sich bis dahin eine Meinung bilden möchte, wie Olaf Scholz regiert und was ihn leitet, der ist mit "Ein deutscher Kanzler" hervorragend bedient - und unterhalten. Auch weil der Autor den Charakter des Kanzlers beleuchtet, ohne ihn auszuleuchten. "Scholz möchte nichts offenlegen, schon gar nicht sein Innerstes", schreibt Brössler. Es ist dem Autor anzurechnen, dass er diese Grenze respektiert und dennoch ein schlüssiges Bild davon zeichnet, wie der Mann tickt, der unverschuldet nun am ganz großen Rad der Geschichte mitdreht.

Quelle: ntv.de

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