
Haben erschreckend gute Laune: Höcke und Chrupalla.
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Der Aufruhr nach dem erstmaligen Sieg eines AfD-Landratskandidaten ist groß. Doch geht es nach der AfD, war Sonneberg nur der Auftakt für einen Durchmarsch im Osten im kommenden Jahr. Was in den neuen Bundesländern passiert, bleibt im Westen nicht folgenlos.
Die Republik staunt, Politikerinnen und Politiker der anderen Parteien sprechen in Interviews und in sozialen Medien von "Schock" und "Entsetzen". Die AfD stellt künftig erstmals einen Landrat - und zwar ausgerechnet die besonders rechtslastige Thüringer AfD mit ihrem Landeschef Björn Höcke - und viel ist die Rede von einer Zäsur. Dass sich in dem 56.000 Einwohner kleinen Landkreis durch das Wahlergebnis so viel ändern wird, ist aber unwahrscheinlich: Ein Blick in die Kreistagsprotokolle genügt, um zu sehen: Die AfD und ihr neuer Landrat Robert Sesselmann regieren auf Kommunalebene längst mit. Eine "Brandmauer" gibt es nicht, insbesondere nicht für die CDU. Gemeinsam bringen die Parteien Anträge ein und durch, sei es beim Wettern gegen hohe Energiepreise, gegen Russland-Sanktionen oder das Verbot von Gender-Sternchen in der Amtssprache des Kreises. Die Sonneberger haben am Sonntag einer Partei zur Mehrheit verholfen, die hier im Süden des Freistaats vor allem eines ist: normal.
Doch nicht nur unter AfD-Gegnern ist die Stimmung nach dem Sieg Sesselmanns aufgeregt: Von einem "politischen Wetterleuchten vom Rennsteig, das in der ganzen Republik wahrgenommen wird", spricht Höcke nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses. "Sonneberg hat Geschichte geschrieben", frohlockt der Co-Parteichef Tino Chrupalla. Und Sesselmann? Versucht die Gäste seiner Wahlparty erst einmal herunterzukochen: "Bitte lassen Sie uns Sachpolitik machen. Lassen Sie uns zeigen, dass wir erfolgreich Politik machen können", sagt der 50-jährige Rechtsanwalt. Doch mit welchem Ziel? "Wir können nächstes Jahr Geschichte schreiben, in Brandenburg, in Sachsen, aber auch hier in Thüringen", ruft Sesselmann mit Blick auf die nahenden Landtagswahlen.
Die AfD will Nummer eins werden im Osten. In den Umfragen ist sie es jetzt schon. Wenn im kommenden Jahr die drei Flächenländer wählen, wittert die Partei die erste Chance auf eine Regierungsbeteiligung oder gar eine eigene Mehrheit. Nichts scheint mehr unmöglich. Und wenn nicht: Steter Tropfen höhlt den Stein der Demokratie. Schon seit Jahren muss die CDU in Thüringen eine rot-rot-grüne Landesregierung tolerieren. Den anderen Parteien fällt es immer schwerer, im Osten eine Mehrheit gegen die AfD zustande zu kriegen. Und je mehr deren Profil in den mühseligen Kompromissen von Drei- oder Vier-Parteien-Koalitionen verloren geht und wichtige Entscheidungen vertagt werden, desto sicherer ist sich die AfD ihrer eines Tages kommenden Regierungsrolle.
Es ist nicht nur der Osten
Auch im 33. Jahr der Wiedervereinigung treibt Deutschland die Frage um, warum rechtsextremistische Positionen im Osten anschlussfähiger sind als im Rest der Republik. Warum jemand wie Höcke kein Paria ist, sondern bei der Mehrheit der Thüringer wahlweise Zustimmung oder Schulterzucken erntet. Doch während es kaum neue Antworten auf diese Fragen gibt, hat sich etwas Entscheidendes verändert: Lange Zeit galt der Osten als rückständig, wenn unter Duldung der schweigenden Mehrheit wieder einmal Rechtsextremisten Menschenjagden veranstalteten. Nun aber sind die prügelnden Glatzköpfe und die vermeintlich unpolitischen Ossis der 1990er und frühen 2000er Jahre Avantgarde: Was in den ostdeutschen Flächenländern passiert, hat Auswirkungen auf die ganze Republik - und nimmt Entwicklungen vorweg, vor denen auch der Westen nicht gefeit ist.
Der Erfolg der Rechtspopulisten gründet auf Faktoren, die nur zum Teil spezifisch ostdeutsch sind: die Erfahrung mit den Umbrüchen der Wendejahre, die unvollständige Aufarbeitung der Verbrechen des Dritten Reiches, der gelebte Rassismus im Umgang mit Gastarbeitern aus sozialistischen Partnerstaaten, die Erfahrungen der politischen und wirtschaftlichen Benachteiligung Ostdeutschlands nach 1990.
Die AfD ist aber nicht überall im Osten stark, ihre Wahlhochburgen haben Gemeinsamkeiten: ländliche Gegenden mit überalterter Bevölkerung und deutlichem Männerüberschuss, Jahre der Abwanderung von gut ausgebildeten Arbeitnehmern, niedriges Vertrauen in die Medien, ein geringer Anteil von produzierendem Gewerbe und Industrie, ein immer weniger präsenter Staat, weil Schulen und Kliniken wegfallen wegen knapper Kassen und schrumpfender Bevölkerung.
Deindustrialisierung, Verstädterung und Alterung der Gesellschaft, die darauf folgende Ausdünnung der Infrastruktur sind aber Entwicklungen, die auch in den Flächenländern des Westens zu beobachten sind. Im Windschatten der Energiepreiskrise hatte die von internen Streits blockierte Niedersachsen-AfD ihre Zustimmung bei der Landtagswahl im vergangenen Herbst binnen drei Monaten fast verdoppelt. Die AfD muss für ihre Erfolge wenig tun, außer die Nöte, Sorgen und Vorurteile der Bevölkerung aufzugreifen, mit dem Finger nach Berlin zu zeigen und das Blaue vom Himmel zu versprechen.
Schwieriges Regieren gegen die AfD
So war es auch in Sonneberg, wo AfD-Wahlplakate vor allem bundespolitische Themen wie Migration, Inflation und Klimaschutzpolitik aufs Korn nahmen. Die Wähler, die im Osten traditionell weniger an eine bestimmte Partei gebunden sind, erklärten freimütig ins Mikrofon der ntv-Reporterin, sie wollten vor allem ein Zeichen an Berlin senden. Zwei Wochen lang waren Journalistinnen und Kamera-Teams aus ganz Deutschland und selbst aus dem Ausland durch Sonneberg gekurvt. Sie waren der für alle Wahlberechtigten sichtbare Beweis, wie viel Aufregung so eine Stimme für die AfD im fernen Berlin lostreten kann. Auch Höcke weiß um den Zuspruch der Frustrierten und Abgeschreckten: "Die Menschen verarmen hier", behauptet er im Gespräch mit RTL und ntv. "Deswegen dieses Ausrufezeichen, dieses Stoppzeichen hier aus Sonneberg."
Mitte Mai wäre im Land-Oder-Spree beinahe der Brandenburger AfD der Coup des ersten eigenen Landrats geglückt. Ob in Kreisen oder Städten: Immer öfter erreicht ein AfD-Mann zumindest die Stichwahl. In den letzten Umfragen von Infratest dimap lag die AfD in Brandenburg bei 23 Prozent, in Sachsen bei 24 Prozent und in Thüringen bei 25 Prozent. Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, die Lebenshaltungskosten steigen und die Politik den Menschen in ihrer Wahrnehmung zumutet, desto weiter könnten diese Werte noch in die Höhe schießen.
Insbesondere in Thüringen herrscht Ratlosigkeit, wie bei diesen Mehrheiten wieder eine stabile, handlungsfähige Regierungskoalition zustande kommen soll. Aber auch in Sachsen verbindet die miteinander koalierenden Christdemokraten und Grünen kaum mehr als ihre Gegnerschaft zur AfD. Die "Kartellparteien", wie Höcke die demokratischen Parteien nennt, können den Wählerinnen im Osten in dieser Konstellation schlicht kein plausibles Angebot machen.
Was macht die CDU?
Das Gleiche gilt andersherum für die AfD: Sie hat jenseits einer - laut Umfragen noch weit entfernten -eigenen Mehrheit keine Machtoption, jedenfalls nicht, so lange die "Brandmauer" zumindest auf Länder- und Bundesebene hält. In den ostdeutschen CDU-Landesverbänden, allen voran Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, gibt es eine langsam, aber stetig wachsende Zahl an Befürwortern einer Kooperation mit der AfD. Regierungschefs wie Reiner Haseloff und Michael Kretschmer halten parteiintern dagegen, doch insbesondere bei Kretschmer ist immer wieder zu beobachten, dass er versucht, inhaltlich an beim Wähler populäre AfD-Positionen anzuknüpfen - sei es in der Migrationspolitik oder im Umgang mit Russland.
Ob man die AfD so schwächen kann oder die Menschen nicht am Ende immer das Original wählen, bleibt innerhalb der CDU die große Streitfrage. Klar ist, dass der in dieser Frage selbst unentschlossene CDU-Chef Friedrich Merz im Jahr vor der Bundestagswahl schon aus wahltaktischen Erwägungen keine Kooperation mit der AfD dulden kann. Begehren die Ostverbände deshalb gegen Merz auf, ist nicht einmal eine Spaltung der CDU ausgeschlossen - so weit treibt die AfD inzwischen die Bundespolitik vor sich her. Derweil reden sowohl Höcke als auch Chrupalla immer wieder gegen die "Brandmauer" von Union und FDP an und versuchen, für eine "bürgerliche Koalition" zu werben. So treiben sie die Polarisierung der Ost-CDU weiter voran oder gewinnen sie vielleicht irgendwann doch noch für eine Zusammenarbeit.
Die AfD kann sich die Entwicklungen bei den anderen Parteien entspannt von der Seitenlinie aus anschauen. Nach Jahren des Flügelstreits und nach diversen anderen innerparteilichen Konflikten steht die AfD unter Chrupalla und der Co-Vorsitzenden Alice Weidel derzeit so stabil da wie vielleicht nie zuvor. So schrill sich AfD-Politiker in ihren Parlamentsreden zeigen, so freundlich-bieder ist oft der Auftritt beim Bürger vor Ort. Sesselmann ist in dieser Hinsicht ein Musterbeispiel für den AfD-Erfolg.
Die Partei wird sich nun der Europa- und den anstehenden Landtagswahlen im kommenden Jahr widmen. Zudem wird sie ihr Augenmerk den Landratswahlen im thüringischen Saale-Orla-Kreis im Januar werfen. Dort könnte sich mit Uwe Thrum der nächste AfD-Kandidat gegen den örtlichen CDU-Bewerber durchsetzen. Das aber würde keinen "Dammbruch" mehr darstellen. Es wäre eine neue Normalität.
Quelle: ntv.de