"Bietet sich für Extremisten an" Die hässliche Fratze der EM in Deutschland
29.06.2024, 07:57 Uhr
Kroatische Fans im Spiel gegen Italien.
(Foto: IMAGO/Pressinphoto)
Symbolischer Kulturkampf: Weil Fußball immer politisch ist, bleibt die EM in Deutschland nicht vom Rechtsruck verschont. Nationalisten und Extremisten aus verschiedenen Ländern sorgen in Stadien und auf Fan-Festen für Eklats. Deutsche Neonazis wollen das Turnier "zum Desaster" machen.
Bei der diesjährigen Europameisterschaft feiern Millionen von Menschen aus ganz Europa in den Stadien und auf den Fanmeilen von München bis Berlin. Zum allergrößten Teil bleibt es freundlich und friedlich, so wie sich das Organisatoren, Politik und Fußballfans in Deutschland erhofft hatten, auch wenn eine Person in der Stuttgarter Fanzone am Mittwochabend mehrere Menschen mit dem Messer verletzte.
Aber diese EM besuchen auch Extremisten und Nationalisten aus verschiedenen europäischen Ländern. Sie sorgen mit unschönen Aktionen für Eklats, teilweise gehen diese jedoch als Randnotizen unter im großen EM-Rauschen aus Toren, Tanzen und Bahnchaos. In der Summe allerdings lassen sie mit gefährlichen, politischen Botschaften aufhorchen - und passen zu Rechtsruck und Nationalismus, wie ihn derzeit ganz Europa erfährt.
"Fußball ist immer politisch und diese EM hat viele politische Dimensionen, weil sie eine große mediale Bühne dafür ist, Botschaften zu präsentieren", sagt Jonas Gabler, Politikwissenschaftler und Fan-Forscher, im Gespräch mit ntv.de: "Bei einer EM treten Länder gegeneinander an und deshalb werden am häufigsten nationalistische Botschaften ausgesendet. Es werden Fahnen geschwenkt, was zwangsläufig auch politisch ist."
"Kein Phänomen ausschließlich dieser EM"
Bei Fahnen und Bannern fallen bei der EM in Deutschland vor allem Fans aus dem Balkan mit nationalistischen Kreationen auf. So zierten in Gelsenkirchen und München etwa serbische Banner eine Landkarte, auf denen Kosovo ein Teil Serbiens ist. Dazu stand als Slogan geschrieben: "Keine Kapitulation". Beim Spiel gegen Italien am vergangenen Samstag zeigten die albanischen Fans ein Transparent mit einer Karte ihres Landes, die bis in die Nachbarländer reichte.
"Eine EM bietet sich für Extremisten und Nationalisten an", sagt Gabler, der gleichzeitig bekräftigt, dass natürlich nicht alle 70.000 Menschen im Stadion Nationalisten seien. In der Balkan-Region "gibt es nicht einvernehmlich geklärte Grenzfragen", erklärt er weiter, deshalb würden die Fahnen als niedrigschwellige Möglichkeiten für nationalistische Botschaften auf der größten Bühne genutzt. Zwar nehmen die Aktionen bei dem Turnier in Deutschland viel Raum ein, weil mit Albanien, Kroatien, Serbien und Slowenien (slowenische Fans zeigten in Stuttgart das rechtsextreme Keltenkreuz) gleich vier Mannschaften aus dem Balkan dabei sind, aber "solche Aktionen bei Fußballspielen und -turnieren waren in der Vergangenheit schon mehrfach Thema", sagt der Experte für Fan-Gruppierungen und Extremismus. "Es ist also kein Phänomen ausschließlich dieser EM. Der Fußball wurde im Balkan seit dem Jugoslawienkrieg immer wieder benutzt, um staatliche Souveränität zu inszenieren."
Ein Fußballstadion ist ein höchst emotionales Setting. Die Zuneigung zum eigenen Team, in diesem Fall zum eigenen Land, schlägt nicht nur im Fall der Erfolglosigkeit manchmal in Hass auf den Gegner um. Teilweise geht sie damit einher, definiert sich sogar über die Abneigung. Fußball bietet sich laut Gabler für Extremisten und Nationalisten nicht nur an, weil er in Europa die größte Bühne und die höchste mediale Präsenz hat. "Naturgemäß kommt für nationalistische und extrem rechte Ideologien eher ein männerdominierter Sport infrage als etwa Bodenturnen. Das würde traditionellen Männlichkeitsvorstellungen zu wenig entsprechen", sagt der Fan-Forscher.
"Tötet den Serben", "Putin"-Sprechchöre
Die Balkan-Streitigkeiten bei der EM in Deutschland offenbarten tief sitzenden Hass. Während des Spiels zwischen Kroatien und Albanien in Hamburg sangen Fans beider Teams "Tötet, tötet, tötet den Serben". Serbien drohte daraufhin mit Rückzug, was hauptsächlich eine Bestätigung für die Heimat war, sich so etwas nicht gefallen zu lassen. Serbische Anhänger skandierten derweil "Putin, Putin"-Sprechchöre und huldigten dem Kriegsverbrecher Ratko Mladic. Auch von Unterstützern aus Kroatien und Albanien waren Schlachtrufe für Kriegsverbrecher zu hören, der albanische Nationalspieler Mirlind Daku wurde für zwei Spiele gesperrt wegen nationalistischer Gesänge, in denen er über ein Megafon "Tötet die Serben, tötet die Mazedonier" gerufen haben soll.
Top-Spieler aus dem Balkan wie etwa Luka Modric, Welt-Star von Real Madrid, äußern sich nicht zu solchen Aktionen. Die UEFA versuchte, mit Sperren und Geldstrafen entgegenzuwirken, aber da waren die Botschaften längst auf der großen Bühne versandet. Dem albanischen Journalisten Arlind Sadiku entzog der Verband die EM-Akkreditierung, weil er in Richtung serbischer Fans mit den Händen einen Adler geformt hatte - ein aufgeladenes politisches Symbol aller ethnischen Albaner, auch im Kosovo, mit dem bei der WM 2018 schon die Schweizer Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri für Aufmerksamkeit gesorgt hatten. Vor Sadikus Aktion hatten Serben im Hintergrund seiner TV-Kamera "Kosovo ist das Herz Serbiens" gesungen.
Genauso wie die nationalistischen Balkan-Auseinandersetzungen nicht ohne den Jugoslawienkrieg und die lange Historie der ethnischen Streitereien gelesen werden können, ist diese EM auch politisch, weil sie vor dem Hintergrund des Rechtsrucks in Europa und nicht in einem davon gelösten, luftleeren Raum stattfindet. Das Turnier ist ein Mikrokosmos der derzeitigen Debatten in Europa. Auch in den Stadien und auf den Fan-Festen wird um Deutungshoheit gekämpft. "Die EM spiegelt die großen politischen Konflikte und die gesellschaftlichen Debatten, die derzeit in Europa geführt werden, wider", sagt Fan-Forscher Gabler.
"Rassismus der 90er-Jahre vom Feinsten"
Da ist etwa im österreichischen Fanblock im Spiel gegen Polen in Berlin auf einem Plakat "Defend Europe" zu lesen. Ein Slogan von neu-rechten Bewegungen, etwa der rechtsextremen Identitären Bewegung (IB). Da sind die türkischen Fans mit dem "Wolfsgruß", einem Symbol der rechtsextremen Grauen Wölfe, und anderen türkisch-nationalistischen Codes im Stadion und auf Fan-Partys. Da sind die ungarischen Fans, die den Hitlergruß zeigen, den in Deutschland nach dem Sylt-Video mancherorts verbotenen Gigi-D'Agostino-Song "L'amour toujours" singen und beim Fan-Marsch vor der Partie gegen die DFB-Elf und anschließend im Stadion Banner mit der Aufschrift "Free Gigi" hochhalten.
"Der Song steht für eine Ausdifferenzierung und Popkulturalisierung der extremen Rechten", sagt Gabler. Das Verbot des Liedes hätte den ungarischen Fans "eine Angriffsfläche" geboten, die sie dankbar angenommen hätten. "Gerade mit Blick auf die bekannte politische Gesinnung der führenden Fangruppen der ungarischen Nationalmannschaft spricht einiges dafür, dass hinter den Aktionen eine besondere politische Symbolik steckte", meint der Fan-Forscher weiter. "So entsteht dann ein symbolischer Kulturkampf", passend zu den Debatten, die derzeit Europa im Bann hielten.
Im gleichen Atemzug sagten in einer repräsentativen Umfrage von Infratest dimap vor dem EM-Start 21 Prozent der Befragten, dass sie in der deutschen Nationalmannschaft lieber mehr weiße Spieler hätten. Gabler war nicht überrascht. "Die Zahl ist auf jeden Fall schockierend, aber es spiegelt sich in Einstellungsforschungen wider, wie weit gruppenbezogene menschenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung verbreitet sind."
In Deutschland, wo eine in Teilen rechtsextreme Partei Wahlerfolge feiert, zieht zwar kein Fackel-Mob mehr umher, aber die rassistische Botschaft bleibt die gleiche und scheint sich auch bezüglich der Nationalelf wieder vermehrt festgesetzt zu haben. "Der Slogan, der auf den Gigi-D'Agostino-Song gesungen wird, ist Rassismus der 90er-Jahre vom Feinsten", sagt Gabler. "Jetzt wird er verknüpft mit weniger stumpf wirkenden, sondern cool wirkenden popkulturellen Dingen. Dadurch wird der Rassismus akzeptierter, anschlussfähiger und verbreitet sich schneller in breiteren Schichten von jungen Menschen."
Neonazis wollen EM "zum Desaster" machen
Deutsche Fans fallen bisher nicht mit großen nationalistischen Aktionen auf, aber auch kleinere Eklats auf Fanfesten oder Public Viewings erzählen in der Masse die Geschichte des Rechtsrucks. Gleich zum Eröffnungsspiel zeigte ein Mann in Bremen bei einer Public-Viewing-Veranstaltung den Hitlergruß und sang die rassistische Version des Gigi-D'Agostino-Songs. Aus seiner Gruppe heraus sei auch eine judenfeindliche Parole gerufen worden. In Warnemünde hatte laut Bundespolizei rund um das DFB-Spiel gegen Schottland eine 15-Jährige "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" gerufen. Einer Umfrage von "Zeit online" unter Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften in allen 16 Bundesländern zufolge haben die deutschen Strafverfolgungsbehörden seit dem 14. Juni mindestens 52 Fälle registriert, sieben davon standen in direktem Zusammenhang mit Feiern rund um die Europameisterschaft.
Viele mit rechter Gesinnung haben sich über die Jahre bereits von der DFB-Elf entfernt und besuchen die Spiele nicht mehr mit ihren Hooligan-Gruppierungen. Dafür gibt es Hass auf die Nationalelf. In einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt Robert Claus, Experte für Fankultur, Hooligans und Extremismus im Fußball, wie die neonazistische Dortmunder Zeitschrift "N.S. Heute" von "DFB-Söldnern" spricht und dazu aufruft, die Heim-EM "zum Desaster" zu machen. Die Zeitschrift "präsentiert anschließend mehrere Vorschläge, die mediale Aufmerksamkeit auf das Turnier für extrem rechte Provokationen sowie Interventionen zu nutzen und ruft die extrem rechte Szene zu Kreativität auf".
Der jüngste Rechtsruck in Europa hat bei der EM bisher eher in kleineren Aktionen seine hässliche Fratze gezeigt. Ob er den Fußball und die Fanszenen nachhaltig beeinflusst, kann man laut Experte Gabler noch nicht genau sagen. Das Fan-Klima in Deutschland habe sich aber schon in den letzten zehn Jahren wieder zum Negativen geändert. "In der 2000er-Dekade sind viele Fan-Initiativen und Ultragruppen entstanden, die sich gegen Rassismus und Diskriminierung engagiert haben", sagt der Fan-Forscher. "Aber ab den 2010er-Jahren gründeten sich einige neue Hooligan-Gruppierungen aus dem rechten Spektrum."
Quelle: ntv.de