Lehren aus der EM-Vorrunde (II) Das Bahn-Chaos lässt die EM einfach nicht los

Volle Bahnen gehören in allen EM-Spielorten zum Stadtbild.

Volle Bahnen gehören in allen EM-Spielorten zum Stadtbild.

(Foto: IMAGO/dts Nachrichtenagentur)

Die Europameisterschaft in Deutschland begeistert die Fußballfans. Nach 36 von 51 Spielen gibt es viele Erkenntnisse, nicht nur sportlich. Wir blicken auf die Vorrunde abseits des Rasens zurück. Immerhin haben der Kontinentalverband UEFA und die Organisatoren um Turnierchef Philipp Lahm im Vorfeld die nachhaltigste EM der Geschichte angekündigt. Wie die Umsetzung mit der Deutschen Bahn und lokalen öffentlichen Verkehrsmitteln läuft, wie die Stimmung in und um die Stadien ist und was auf den Fanmeilen passiert, lesen Sie hier.

Wie groß ist denn jetzt das Bahn-Chaos?

Mindestens so groß, dass die Deutsche Bahn sich schon dazu verhalten musste. "Wir verstehen den Unmut und die Kritik von Fans", hatte Vorstand und Fernverkehrschef Michael Peterson konstatiert und ausgeführt, dass sein Arbeitgeber aktuell nicht die Qualität biete, die alle verdient hätten. Mit speziellen Tickets zur EM - die Fahrt zum Spielort zum Fixpreis von 29,90 Euro - sollten die Fans fürs Zugfahren gewonnen werden. Dazu wurden pro Tag 10.000 zusätzliche Sitzplätze angekündigt und Bauarbeiten so gelegt, dass sie weder Verspätungen noch Beeinträchtigungen zur Folge haben sollten. Nach dem Gruppenspiel zwischen Portugal und Tschechien standen trotzdem einige Hundert Fans erst gute 40 Minuten am Leipziger Bahnhof (wegen Verspätung aus vorheriger Fahrt) und dann noch einmal 20 Minuten vor dem Berliner Südkreuz (wegen einer nur eingleisig befahrbaren Engstelle auf der Strecke) - wobei die Probleme andernorts noch weitaus größer waren.

Die sicherlich prominenteste Verspätung erlebte Philipp Lahm: der Turnierchef verpasst glatt den Anstoß der Partie zwischen Ukraine und Slowakei. Er kritisierte anschließend die in die Jahre gekommene Infrastruktur, mit der die Bahn schon länger zu kämpfen hat. "Aber das ist kein Problem, was jetzt auftritt, während des Turniers. Da hätte man weit vorher schon dran arbeiten müssen", richtete der Ex-Profi einen Appell auch an die Politik und hielt zugleich fest, weiter Bahn fahren zu wollen. Ein Reporter der "New York Times" schimpfte über verstopfte U-Bahnen in München, schottische Fans berichteten von "unzuverlässigen und glühend heißen" Zügen in München und Köln. Die englische "Daily Mail" sah "entsetzliche Szenen" in Gelsenkirchen, wo Tausende Fans lange warten mussten, um per Straßenbahn vom Stadion abreisen zu können.

Und doch läuft vieles auch gut: So mancher Fan etwa berichtet positiv erstaunt vom vielfältigen Angebot in den Bordbistros, die vor den Spielen zur Völkerverständigung und Geselligkeit einladen. Ein Österreicher, der zum Vorrundenspiel gegen Polen mit dem Zug nach Berlin gereist war, zeigte sich begeistert vom günstigen Fahrpreis und der entspannten Fahrt in die Bundeshauptstadt. Anekdotische Evidenz, aber immerhin. Und bei allem Ärger über Verspätungen und Ähnliches: Eine reibungslose Reise taugt ja doch eher selten für eine gute Geschichte.

Läuft es rund um die Stadien denn besser?

Die Volunteers begegnen einem so gut wie immer und überall mit einem Lächeln und großer Hilfsbereitschaft, das fällt auf. Was auch auffällt: Dass bei allem Bemühen um gute Wegeführung, Beschilderung & Co. dann doch so mancher sinnvolle Hinweis auf der Strecke geblieben ist.

Die Wegeführung an den Stadien verwirrt hier und da, gerade bei einer solchen EM, bei der ja die wenigsten Fans schon einmal vor Ort gewesen sein dürften. Auch die langen Schlangen am Einlass verwundern bisweilen, schließlich finden in allen Stadien regelmäßig Fußballspiele vor Zehntausenden statt. Dass sich dann trotzdem die Menschenmassen vor dem Berliner Olympiastadion stauen, scheint vermeidbar. Wobei dadurch zumindest alle Besucherinnen und Besucher das Wort "Vereinzelungsanlage" gelernt haben dürften - die irgendwann im Gedränge plötzlich auftauchte, um den Einlass in geordnete Bahnen zu lenken.

War das Ticket aber erst einmal gescannt, der Körper abgetastet und die Tasche kontrolliert, war das Anstrengendste geschafft. Auf dem Stadiongelände wurden die Fans von vielen und stets zuvorkommenden Helferinnen und Helfern in Empfang genommen, die auf fast jede Frage eine Antwort parat hatten. Oder mindestens wussten, wer zur Problemlösung beitragen kann. An den Verpflegungsständen sind die üblichen Schlangen zu beobachten, zumeist aber geht es schnell voran - und wer ein paar Meter weitergeht, kann Glück haben, auch mal deutlich schneller dranzukommen.

Wie ist denn die Stimmung bei den Spielen?

Es klingt klischeehaft, aber tatsächlich fühlt es sich zumeist nach dem an, was viele sich von der EM erhofft haben: ein Fußballfest. Die Straßen rund um die Stadien werden schon Stunden vor Spielbeginn in die Landesfarben der beiden Mannschaften getaucht, ohne dass es dabei - mit ein paar Ausnahmen - zu größeren Rivalitäten kommt. Es ist viel mehr ein freundliches Miteinander, inklusive fußballüblicher, zumeist harmloser Provokationen. Beispielhaft dafür ist das Video albanischer Fans, die vor dem Spiel gegen Titelverteidiger Italien unter großem Gelächter Spaghetti zerbrechen. Eine vermeintliche Todsünde, die als scherzhaftes Necken herausragend funktioniert hat.

Das kollektive Singen der Nationalhymnen ist immer für Gänsehaut gut. Wer einmal die Inbrunst erlebt hat, mit der französische oder italienische Fans die Marseillaise oder die "Il Canto degli Italiani" anstimmen, vergisst das so schnell nicht - die Spanier haben sich indes angewohnt, bei ihrer textlosen Hymne laut mitzusummen. Die Österreicher haben "Oh, wie ist das schön" wieder im Stadion etabliert, die Niederländer mit "Links rechts" von Snollebollekes einen der EM-Hits mit nach Deutschland gebracht. Beim Duell der beiden in Berlin wurde sogar "Pyrotechnik ist kein Verbrechen" vom "Balkonultra" im Umlauf angestimmt.

Diese Liste ließe sich fast endlos fortführen: Die Schotten haben so viel Eindruck hinterlassen, dass eine Petition gestartet wurde, die ein jährliches Freundschaftsspiel mit der DFB-Auswahl fordert. Für die Türkei ist die EM ein gefühltes Heimturnier, die beiden Auftritte lieferten tolle Bilder. Und nach den beiden Siegen gab es deutschlandweit Autokorsos. Für besondere Momente sorgten auch die kriegsversehrten Ukrainerinnen und Ukrainer, die auf besondere Einladung den Spielen beiwohnten.

Weitaus weniger schön: Der Rechtsruck in Europa ist auch bei der EM zu beobachten. Seit Turnierbeginn kommt es immer wieder zu nationalistischen und rechtsradikalen Vorkommnissen. Hass-Plakate auf den Stadionrängen, Schmähgesänge, teils offener Rassismus, politisch motivierte Auseinandersetzungen: Die EM 2024 ist auch ein Schaufenster für Extremisten. So wird etwa im österreichischen Fanblock während der Partie gegen Polen ein Banner mit der Aufschrift "Defend Europe" hochgehalten, ein Slogan der rechtsextremen Identitären Bewegung. Albanische und kroatische Fans grölen Medienberichten zufolge beim Gruppenspiel in Hamburg gemeinsam: "Ubi Srbina!" ("Tötet Serben!").

Serbische Anhänger wiederum bringen bei ihren drei Gruppenspielen Fahnen in den Stadien an, auf denen die Umrisse des Kosovo zu sehen sind, eingefärbt in den Farben des serbischen Wappens. Der Kosovo hatte sich 2008 von Serbien unabhängig erklärt - Belgrad erkennt dies nicht an. Auch sollen Serben-Fans mit Sprechchören ehemalige Generäle - und Kriegsverbrecher - gefeiert haben. Unter türkischen Anhängern wird immer wieder der sogenannte Wolfsgruß gezeigt, ein Handzeichen und Symbol der Grauen Wölfe. Das ist eine rechtsextreme, antisemitische und rassistische Bewegung, der in Deutschland mehr als 12.000 Anhänger zugerechnet werden. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese Vorfälle international kaum größere Beachtung zu finden scheinen.

Und auf den Fanmeilen, wie läuft es da?

Für die EM-Organisatoren sind die Bilder der großen Menschenmassen beispielsweise am Brandenburger Tor, auf dem Hamburger Heiligengeistfeld oder am Mainufer in Frankfurt eine Art beruhigende Bestätigung. "Wir haben lange daran gearbeitet, damit wir diese Feste so erleben, dass man so ein positives Gefühl hat, sich positiv begegnet, sich versteht", sagte Turnierchef Philipp Lahm bereits Wochenbeginn in Leipzig. Für ihn sei immer klar gewesen: "Sobald der Ball rollt, gibt es diese Euphorie."

Der englische "Guardian" veröffentlichte eine Fotoreihe mit Motiven "abseits der Action", die auch das friedliche Miteinander von Fangruppen zeigen. "Die Fußballfans aus den unterschiedlichsten Nationen sorgen für eine einmalige und außergewöhnliche Atmosphäre in der Stadt", teilten beispielhaft die Organisatoren der Kölner Fanzonen mit. Die Polizei ist mit Großaufgeboten im Einsatz, das Deutsche Rote Kreuz zog für die ersten EM-Tage ein positives Zwischenfazit.

Getrübt wurde dies von einer Auseinandersetzung am letzten Vorrrundenspieltag in der Stuttgarter Fanzone. Nach einem Messerangriff beim Spiel Tschechien gegen die Türkei sitzt ein 25 Jahre alter Mann nun in Untersuchungshaft. Drei Menschen wurden am Mittwochabend verletzt. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wird ihm ein versuchtes Tötungsdelikt vorgeworfen. Bei den drei Verletzten handelt es sich um einen 19 Jahre alten Deutschen und zwei 38 und 60 Jahre alte türkische Staatsangehörige. Der zunächst lebensgefährlich verletzte 38 Jahre alte Mann ist mittlerweile außer Lebensgefahr, wie es hieß. Die näheren Hintergründe und Umstände der Tat sind Gegenstand der weiteren Ermittlungen.

Quelle: ntv.de, mit dpa und sid

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