Schäfer analysiert DFB-Debakel "Hansi Flick wollte niemandem wehtun"
03.12.2022, 15:17 Uhr
Flick setzte auf Müller, obwohl der seit 2014 kein WM-Tor geschossen hat.
(Foto: IMAGO/Shutterstock)
Der deutsche Fußball ist nach dem erneut frühen WM-Aus in Katar am Boden. Mal wieder. Es wird alles infrage gestellt, 80 Millionen Bundestrainer diskutieren, ob Hansi Flick noch der richtige für seinen Job ist. Trainer-Legende Winfried Schäfer sieht die Probleme aber auch woanders. Im Interview spricht er über Flicks Fehler und fatale Entscheidungen beim DFB.
Herr Schäfer, Deutschland scheitert zum zweiten Mal nacheinander in einer WM-Vorrunde. Die Frage, die in den Tagen danach leidenschaftlich diskutiert wird, lautet: Ist Bundestrainer Hansi Flick noch der richtige Mann? Bitte, klären Sie auf!
Schäfer: Man muss die Sache anders angehen und betrachten. Eine Nationalmannschaft ist immer nur so gut, wie es die heimische Liga ist. Schau mal auf den Anfang der 2000er-Jahre zurück, da hatten wir eine Chaotenliga und keine Nationalmannschaft. Die Liga hat sich zusammengerauft und Reformen auf den Weg gebracht. Zwischen 2010 und 2014 hatte Jogi (Anm. d. Red.: Löw, Ex-Bundestrainer) dann ein überragendes Team mit Schlüsselspielern vom FC Bayern und Borussia Dortmund. Und wie ich schon bei unserem ersten Interview nach dem Japan-Spiel gesagt habe: Auf Schlüsselpositionen in der Abwehr und im Sturm haben wir bei unseren Top-Mannschaften keine deutschen Weltklassespieler. Aber jetzt zu Flick, er hat auch Fehler gemacht …
Dann mal los, was ist alles schiefgelaufen?
Winfried "Winnie" Schäfer (*1950) ist als Fußballtrainer viel herumgekommen. Der frühere Profi, der lange für Borussia Mönchengladbach spielte, gilt als Entwicklungshelfer für den Fußball auf der ganzen Welt. Zwölf Jahre lang trainierte er von 1986 bis 1998 den Karlsruher SC, anschließend den VfB Stuttgart und Tennis Borussia Berlin, ehe seine Stationen deutlich internationaler wurden. Von Kamerun zog es ihn in die Vereinigten Arabischen Emirate, nach Aserbaidschan, Thailand, Jamaika, in den Iran und zuletzt sogar nach Katar.
Er hat keinen klaren personellen Plan gehabt. Wie oft hat er vor und während des Turniers die Mannschaft verändert. Normalerweise musst du neun Spieler immer fix im Kopf haben und kannst dann vereinzelt tauschen. Aber nicht das Gerüst verändern. Er hätte den Joshua Kimmich nie nach rechts hinten stellen dürfen. Der ist unser bester Sechser und hat gegen Costa Rica auf der neuen Position ja auch nicht viel gebracht. Ebenso wie İlkay Gündoğan im Mittelfeld und Thomas Müller im Sturm. Aber ich sage auch: Nach dem Spiel lässt sich immer einfach reden.
Wie erklären Sie sich denn diese Rotationen? Gerade Müller war ja aufgrund seiner Leistungen im Turnier bisher ein reichlich diskutiertes Thema …
Der Hansi wollte niemandem wehtun. Er ist so ein Typ, das zeichnet ihn aus. Und er war mit dieser Art, mit seiner Art der guten Kommunikation und der Arm-um-die-Schulter-legen-Mentalität, beim FC Bayern ja auch sehr erfolgreich. Er hat bei diesem Turnier zu viel Rücksicht genommen, das ist bei drei Spielen zu riskant. Da musst du auch mal auf die gute Stimmung pfeifen und einem Müller sagen: Pass auf, du bist heute draußen, weil wir den Füllkrug brauchen. Man weiß doch, dass er die Rolle als Mittelstürmer nicht kann. Das muss dann auch klar sein. Ebenso wie Kimmich, der muss auf der Sechs spielen, weil er der beste Mann dafür ist.
Auch wenn die Qualität im Mittelfeld hoch ist und rechts hinten eine Qualitätslücke klafft?
Ja, da sind wir beim Kernproblem des deutschen Fußballs. Wir müssen unsere Probleme selbst lösen, durch Ausbildung und nicht durch immer neue Aufstellungen. Und da schließt sich der Bogen zur Stärke der Nationalmannschaft im Verhältnis zur Stärke der Liga. Wenn ich sehe, wie sich ein Hasan Salihamidžić feiern lässt, dass er den Sadio Mané verpflichtet hat. Das ist wunderbar für Bayern und ich freue mich für sie. Aber da stimmt doch was nicht, die Spieler folgen dem Ruf des Geldes und Bayern hat Geld. Was Bayern wirtschaftlich geschafft hat, ist unbestritten, aber für den deutschen Fußball ist das nicht hilfreich. Er sollte sich vielmehr dann feiern lassen, wenn er zwei große Talente aus der dem eigenen Nachwuchs rausgebracht hat. Daran krankt es. Auch beim BVB, da staunen alle über Jude Bellingham, zurecht, aber solche Spieler bringen doch den deutschen Fußball nicht weiter!
Aber kann man dem BVB einen Vorwurf machen? Der Spieler kommt für wenig Geld und wechselt für viel …
Nein, wenn das der Anspruch ist, kann ich das verstehen und es ist gut für den BVB. Aber für einen Klub muss es doch viel attraktiver sein, Spieler aus dem eigenen Nachwuchs groß zu machen, das ist im Übrigen auch finanziell auch noch attraktiver. Als Karlsruher SC haben wir in den 90er-Jahren nur so überlebt. Da kam er Uli Hoeneß jedes halbe Jahr mit dem ICE angerauscht, hat Geld dagelassen und einen Spieler mit zum FC Bayern genommen. Und da haben wir als Trainer noch selbst entschieden, was wir brauchen. Da hätte niemand darauf gehört, wenn ein Chefausbilder ruft: Wir brauchen keine Neuner mehr. Wenn du damals bei einem der Jungs das Talent erkannt hast, ganz gleich welche Position, hast du deinem Nachwuchscoach gesagt: Den will ich nächstes Jahr oben bei mir haben.
Wann hat Fußball-Deutschland diesen Pfad denn verlassen und wie findet man den Weg zurück?
Das war ein schleichender Prozess und viele Faktoren spielen eine Rolle. Die Klubs und der DFB müssen sich zusammensetzen und analysieren, was schiefgegangen ist und wie man gegensteuert. Ich erinnere mich an das Jahr 2014, wir waren gerade Weltmeister geworden und ich als Trainer von Thailand bei einem Spiel einer mit Stars gespickten Traditionsmannschaft. Da war unter anderem Englands Verteidigerlegende Rio Ferdinand dabei und der sagte mir, was dann später in der Zeitung stand und ihm in der Heimat verbale Prügel einbrachte: Wir Engländer müssen uns in der Ausbildung nach Deutschland richten, was haben die für eine tolle Mannschaft aufgebaut. Und heute siehst du das Ergebnis, bei einem Bellingham oder auch einem Jamal Musiala, der ja auch in England (Anm. d. Red.: FC Chelsea) ausgebildet worden war. Wir müssen uns neu orientieren.
Aber wie und wohin?
Da nehme ich einen Oliver Bierhoff in die Pflicht, bei dem nicht klar ist, was dessen Aufgabe ist. Der muss seine Trainer nach England oder auch Frankreich schicken und sie schauen lassen, wie da methodisch gearbeitet wird. Aus beiden Ländern kommen doch seit Jahren die größten Talente. Eben auch für die Bundesliga. Und dann dürfen wir die Liga nicht mit solchen Spielern fluten, wie Anfang der 2000er-Jahre, als die Klubs auf billige Importspieler aus Osteuropa gesetzt haben. Und noch eine Sache muss der Bierhoff dringend übernehmen, er muss sich deutlich stärker vor die Mannschaft stellen, den Druck wie bei der "One Love"-Binde fernhalten.
Die politische Botschaft ist gut, aber die Kommunikation war furchtbar. Man hat niemanden überzeugt, ganz im Gegenteil. Im Mittleren Osten sieht man Deutschland nun als ein Land, das die Gastfreundschaft Katars verletzt hat. Ob das richtig ist oder nicht, mag dahingestellt sein, aber das ist die Wahrnehmung. Niemand wurde von der Sache überzeugt und niemand interessierte sich für die Botschaft. Man hat nichts gewonnen, nichts wird sich ändern. Der DFB muss an der Kommunikation arbeiten und sich mit den anderen Verbänden zusammensetzen, um direkt und vor allem transparent mit der FIFA zu sprechen. Die Spieler muss man da erst mal außen vor lassen.
Wie steht es denn aktuell um die Zukunft des deutschen Fußballs? Es klingt immer alles so rosig …
Das sehe ich nicht so. Wo sind denn die Top-Talente? Sie wären doch alle mitgefahren, wenn es sie gebe. Mal abgesehen von Jamal Musiala. Was ist mit Youssoufa Moukoko oder Armel Bella-Kotchap? Wenn du sie mitnimmst und überzeugt bist, dann lässt du sie spielen. Gerade für Niklas Süle, der hat mich nicht überzeugt, er hat zu viele taktische Fehler gemacht. Dann nutzt du so eine WM wie 2010, um eine neue Mannschaft aufzubauen. Eine, vor der die Gegner wieder Angst haben.
Das klingt irgendwie fatal!
Ja, schau dir die Gegner an. Costa Rica hat gegen uns phasenweise Pressing gespielt und Tore erzielt. Die Gegner haben keine Angst mehr. Das war 2014 anders. Da verzichtete Frankreich im WM-Viertelfinale gegen uns auf Olivier Giroud und richtete sich zu vorsichtig an der deutschen Taktik aus! Und als er dann später eingewechselt wurde, wäre das Spiel fast für Frankreich gekippt. Da haben wir Kredit verloren und müssen uns den langsam wieder zurückholen.
Dann nochmal die Frage: Wie kann das gehen?
Vielleicht wäre das Modell einer "Group of Excellence", wie man es aus Ländern mit schwächeren Ligen kennt. Da dürfen wir uns nicht zu schade sein, denn es steht wirklich nicht gut um den Deutschen Fußball. Da werden regelmäßig die besten Spieler zusammengezogen, trainieren eine Woche und werden dann heimgeschickt. So etwas könnte man mit der DFB-Akademie machen, die jungen Spieler müssen gallig sein, in diese Gruppe zu kommen, sie müssen dafür kämpfen. Abgesehen von Taktik und Technik, geht es eben auch um die Einstellung und den Geist. Bastian Schweinsteiger hat das auf den Punkt gebracht. Hansi Flick könnte das etwa anleiten, nach seinen Vorstellungen trainieren und ausbilden lassen. Ich sehe sein Talent eh mehr in der Nachwuchsarbeit.
Das Debakel wird nun aufgearbeitet, wie 2018 nach dem Schock von Russland. Was passiert?
Ja, der DFB hat angekündigt, Turnierleistung und die Gesamtsituation zu analysieren. Das ist richtig, aber wer kommt da zusammen? Welche Fragen werden gestellt? Wie auch bei den ethischen Fragen muss man hier vor allem die richtigen Leute zusammenbringen und transparent sein. Personalien müssen infrage gestellt werden. Lesen Sie mal den Kommentar des "Bild"-Kollegen Alfred Draxler. Damit hat der Alfred sich nun wahrscheinlich einige Feinde gemacht, aber recht hat er. Wir müssen eine Gruppe zusammenbringen, in der wir Fachleute haben, die auch Praxiserfahrung haben. Oliver Kahn zum Beispiel, der ja ein Kind einer guten Talentschmiede ist. Er hat auf der einen Seite mitbekommen, wie wir beim KSC mit minimalen Mitteln erfolgreich gearbeitet haben und weiß sehr genau, wie es an der Weltspitze des Fußballs aussieht und vor allem wie man kluge, vorausschauende Leute von außen integriert. Matthias Sammer wäre auch jemand, den man unbedingt einbeziehen sollte und weshalb nicht auch Schweinsteiger?
Mit Winnie Schäfer sprach Tobias Nordmann
Quelle: ntv.de