Fußball

Völler rechnet mit DFB-Stars ab Hansi Flick fliegt alles um die Ohren

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Höchste Priorität im letzten Länderspiel der Saison hat ein Sieg. Das sagt Bundestrainer Hansi Flick vor dem abschließenden Duell gegen Kolumbien. Der Auftrag wird von seinen Spielern krachend in den Sand gesetzt. Es gibt Pfiffe, Ratlosigkeit und knallharte Ansagen.

Innerhalb von dreieinhalb Wochen erlebt die Fußballstadt Gelsenkirchen zwei ganz bittere Abstürze. Doch miteinander vergleichen lassen sich der Abstieg des ortsansässigen FC Schalke 04 Ende Mai und die nächste Grausamkeit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft an diesem Dienstagabend nicht. Beim Traditionsriesen scheiden sie kollektiv mit dem Gefühl aus der Saison, dass alles gut werden kann, auch weil sie den richtigen Trainer an der Seitenlinie wähnen, Thomas Reis sein Name. Beim ehemaligen Lieblingskind der Republik dagegen glauben derzeit nur noch die Bosse an ein Happy-End im kommenden Sommer, wenn die Heim-EM ansteht. Das Gefühl, dass die Nationalmannschaft dafür den richtigen Mann als Anleiter hat, das haben sie ziemlich exklusiv.

Die Stimmung rund um die DFB-Elf kippt immer weiter. Schon beim irgendwie noch herbeigekrampften 3:3 gegen die Ukraine in Bremen gab es Pfiffe. Diese wuchsen zu einem gellenden Konzert, als der Schiedsrichter das Duell mit Kolumbien in Gelsenkirchen abgewunken hatte. Mit 0:2 hatte Deutschland verloren, hatte die Mannschaft den Auftrag von Bundestrainer Hansi Flick, gewinnen nämlich, massiv in den Sand gesetzt. Die Bilanz des DFB-Dreierpacks: ein Remis, zwei Pleiten (0:1 gegen Polen noch).

Flick selbst hatte es nach der sehr erschütternden Leistung eilig, in den Katakomben zu verschwinden. Höflich gratulierte er seinem Gegenüber Nestor Lorenzo, dann tauchte er ab - und länger nicht wieder auf. Ungewöhnlich viel Zeit verstrich, ehe er zur Pressekonferenz erschien. Er hatte viel Redebedarf mit seinen Spielern gehabt, die hernach, viele wortlos, andere, wie Robin Gosens ohne Lust zu "labern", im geschützten Kollektiv in alle Richtungen verschwanden. Manche werden im September, wenn in der entscheidenden Phase der EM-Vorbereitung alles gut werden muss, wiederkommen. Andere nicht. Diese Botschaft verkündete jedenfalls DFB-Direktor Rudi Völler.

"Es ist dramatisch"

Der Weltmeister von 1990 war gekommen, um für gute Stimmung zu sorgen. Nun muss er schlechte Stimmung abwehren. Gewissermaßen "dunkle Wolken" vertreiben, die einst sein Vorgänger Oliver Bierhoff über dem Team ausgemacht hatte. Doch so ein richtiges Hochdruckgebiet will sich über der Nationalmannschaft einfach nicht einnisten. Aktuell tobt gar ein monströses Tief. "Ich weiß nicht, ob bedenklich reicht. Es ist dramatisch. Wir haben uns wieder viel vorgenommen", sagte Leon Goretzka bei RTL. "Es ist schwer zu erklären, warum wir es nicht auf den Platz bekommen. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Das ist viel zu wenig." Der Hansi-Hype ist längst abgeebbt. Er ist ins Gegenteil umgeschlagen.

Auch wenn das erste Jahr unter der Ägide von Flick noch ansprechend war, mit neun Siegen und vier Remis. In den elf Begegnungen des zweiten Spieljahres sind es drei Siege, drei Remis - und fünf Niederlagen. Es sind Zahlen einer Abwärtsentwicklung, die einen Furor an Kritik nach sich zieht. Vor allem Flicks experimentelle Wut eines wilden Professors stößt bei den hiesigen Experten und auf den Tribünen zunehmend auf Fassungslosigkeit. Statt des bisweilen wirren Trial-and-Error-Prinzips wächst der Wunsch nach einer stabilen Achse, nach einer klaren Hierarchie, nach Stabilität. Einzelne "Flick-raus"-Rufe waren in der Schalker Arena zu hören. Auch Plakate mit jener Botschaft wurden gezeigt. Um seinen Job muss der Bundestrainer nicht fürchten, zu vehement hatten sich die Bosse in den vergangenen Tagen vor ihn gestellt. Und dennoch fliegt ihm gerade alles fürchterlich um die Ohren. Und so musste er bitter gestehen: "Es ist in die Hose gegangen. Wir sind wahnsinnig enttäuscht über die Art und Weise. Das tut mir leid für die Fans. Was wir ausprobiert haben, hat nicht funktioniert." Etwa die Dreierkette, die Emre Can direkt für alle künftigen Mal abmoderierte. Die Mannschaft könne das nicht. Punkt.

Experimente, Worte, Erklärungen. Bei Flick passt derzeit nichts zusammen. Gegen Kolumbien rief er den Sieg zur obersten Priorität aus. Doch weiter weg als seine Spieler konnte man vom ausgerufenen Auftrag kaum sein. Den Fokus auf die Offensive hatte er legen wollen. Puh, schwierig. In den ersten 45 Minuten wurde geflankt, aber dort, wo ein Abnehmer stehen sollte, eine Neun, da war nix, da war niemand. Womöglich hätte Kai Havertz dort stehen sollen. Laut taktischer Anordnung war das so vorgesehen. Aber der Mann, der den FC Chelsea wohl verlassen und vom FC Arsenal umworben wird, hatte an diesem Abend andere Pläne. Welche genau? Unklar. Als Flick schließlich nach einer guten Stunde auf Niclas Füllkrug setzte, freute sich das gelähmte Publikum zwar, kamen die Flanken aber nicht mehr ins Zentrum, sondern segelten ins Nirwana, meistens ins Toraus. Das war erschreckend. Und wo war die Entwicklung der Mannschaft, die Flick zuvor gelobt hatte? Nicht da? In die falsche Richtung abgebogen?

Beim 0:1 macht Deutschland einfach nichts

Nun war das leidenschaftliche Kolumbien keineswegs ein Gegner von übernatürlicher Größe, sondern ein Gegner, bei dem einfach die Balance stimmt, die Hierarchie. Mit Yerry Mina hatte die Mannschaft einen hünenhaften Abwehrchef, der redete, der korrigierte, der antrieb und motivierte. Mit Juan Cuadrado und Luis Diaz orchestrierten zudem zwei starke Leute das Offensivspiel, mit guten Ballbehauptungen, mit klugen Dribblings, mit Spielintelligenz und Spielwitz. So waren beide auch für das 1:0 (54.) verantwortlich. Cuadrado guckte sich seelenruhig aus, wo Diaz lauerte, flankte perfekt, Kopfball, Tor. Kein Druck auf die Flanke, kein Druck auf den Abschluss. Schon lange zuvor hatte Deutschland komplett die Orientierung verloren, war nach den ersten schnellen Attacken der Gäste nach 25 Minuten in das Angsthasenhäuschen gekrochen. Die Quittung kam verhältnismäßig spät. Malick Thiaw grätschte einen Konter heldenhaft weg. Marc-André ter Stegen fischte einen Ball aus dem Eck. Andere sausten am Tor vorbei. Nicht aber Diaz perfekter Kopfball.

Dass Flick ausgerechnet Emre Can, den er äußerst überraschend als Mittelmann der Dreierkette aufgeboten hatte und damit den drei anderen Innenverteidigern Thilo Kehrer, Matthias Ginter und Nico Schlotterbeck auf der Bank ein Misstrauensvotum ausstellte, als Hauptschuldigen ausmachte, überraschte derweil schon. Er war Ausgangspunkt einer Reihe von Verfehlungen, auch Thiaw, Kai Havertz und Robin Gosens sahen alles andere als gut aus. Aber wer tat das an diesem Abend schon? Jamal Musiala noch, seine Dribblings waren recht schön anzusehen, aber sie waren das einzige offensive Mittel - und dann auch gut zu verteidigen.

Und angesichts der Leistung mancher Akteure platzte Völler nach dem Spiel der Kragen. "Am Ende ist Hansi Flick die ärmste Sau, er versucht alles, dass wir erfolgreich sind, probiert ein bisschen was aus", sagte er bei RTL: "Man muss sagen, dass wir es ein bisschen unterschätzt haben, dass die Qualität nicht die ist wie vor einigen Jahren." Und das werde spürbare Konsequenzen haben: "Es waren einige dabei, die werden wir im September nicht mehr sehen. Der ein oder andere ist an seine Grenzen gekommen." Das werde Flick sicher genau analysieren und bei der Nominierung für die September-Länderspiele gegen Japan und Frankreich entsprechend reagieren. Darauf angesprochen erbat sich der Trainer "Zeit." Er wolle in "Ruhe" und "sachlich" analysieren. Von der Emotion wolle er sich nicht leiten lassen. Vielleicht wäre es mal ganz gut gewesen. So fielen Namen an diesem Abend nicht.

Wolf wackelt, was war mit Can?

Aber es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass ein Marius Wolf zu den Wackelkandidaten zählt. Leistete sich früh zwei Fehler, war danach total gehemmt. Mitte der ersten Halbzeit erinnerte Flick ihn daran, dass er die Bälle als Außenverteidiger nach vorne spielen sollte. Wolf tat das Gegenteil. Auch Can konnte wenig für sich werben, der Ballverlust vor dem 0:1 war hanebüchen. Im Zweikampf agierte er zwar kompromisslos, aber im Spielaufbau äußerst fahrig. Was der eigentliche Plan mit dem Dortmunder war, der bei seinem Verein als Sechser eine starke Rückrunde als Stabilisator spielte, das konnte Flick kaum erklären. Wie so viele seiner Experimente in den vergangenen Tagen, von denen keines als Erfolg durchgehen kann. Aktuellste Belege: Musiala als eine Art Sechser bis Achter (dafür saß Joshua Kimmich auf der Bank). Oder auch Hoffnungsträger Ilkay Gündogan in einem seltsam definierten Halbraum links vorne, den er selbst so offenbar auch nicht für sich gesehen hatte.

Leon Goretzka rieb sich auf, kämpfte. Vom Publikum, das sich über Schmähgesänge gegen den Revierrivalen BVB als überwiegend Königsblau entlarvte, gab es Applaus für das Engagement. Vom Powerfußballer, der er einmal war, ist aber derzeit wenig zu sehen. Und Leroy Sané hatte gute Ansätze, aber nichts Handfestes im Gepäck. Positive Vibes löst das alles nicht aus, das gab die triste Stimmung im Stadion wieder. Die fand der DFB-Sprecher bei der Verkündung der Zuschauerzahl (knapp nicht ausverkauft) atemberaubend, als Echo bekam er eine Mischung aus Gelächter und Pfiffen. Lediglich die Kolumbianer verbreiteten einen feinen Hauch von WM-Flair. Das machte Spaß. Den spürt in Schwarzrotgold derzeit niemand mehr. Vermutlich auch Flick nicht, entgegen aller Beteuerungen. "So eine Situation habe ich in der Form noch nicht erlebt. Ich gewinne sehr gerne, ich hasse es zu verlieren. Ich kann mit den besten Spielern Deutschlands trainieren, mir macht die Arbeit Spaß."

Wer sorgt für Hoffnung?

Und so wirbt er für sich, für seinen Weg, für seinen Plan: "Meine Idee vom Fußball ist für diese Mannschaft die richtige", sagte er auf Nachfrage und schloss Konsequenzen aus. Innerhalb der Mannschaft genießt er den Rückhalt. "Wir haben absolutes Vertrauen in ihn", sagte Torwart Marc-André ter Stegen. Benjamin Henrichs antwortete auf die Frage, ob Flick noch der Richtige sei: "Ja, absolut." Emre Can sagte, er sehe "überhaupt" keine Diskussion über den Bundestrainer. "Der Trainer hat uns super eingestellt", sagte der Dortmunder. "Er wollte ausprobieren, was auch sein Recht ist. Es hat nicht geklappt, aber wir sollten den Trainer nicht infrage stellen. Wir Spieler sind dafür verantwortlich, dass wir auf dem Platz keine Leistung gezeigt haben."

In den kommenden Wochen wird Flick aber das leitende Thema aller Debatten. Zuletzt hatten sich die Experten schon auf Flick eingeschossen, eine Hierarchie, mehr Kontinuität gewünscht. Dieses Mal ließ er mit Kimmich die letzte Konstante 79 Minuten auf der Bank. Bitter: Kaum stand er auf dem Platz, pfiff der Schiedsrichter Elfmeter, 0:2. Cuadrado verwandelte nach dem Handspiel des Bayern-Spielers (82.). Flick ließ alle Kritik an sich abperlen, verwies stets mit kaum noch zu ertragenden Durchhalteparolen auf den September, auf die entscheidende Phase in der Vorbereitung auf das Heimturnier. Auch an diesem Dienstagabend wieder. "Wir werden versuchen, einen Stamm von 10, 12, 14 Spielern dann auch wirklich festzuzurren und zu benennen", kündigte er an. "Ich kann versprechen, dass wir im September eine andere Mannschaft sehen."

Aber welche? Und warum? Ein Gerüst ist längst nicht zu erkennen. Klar, mit Serge Gnabry fehlt ein wichtiger Offensivspieler verletzt. Auch Timo Werner ist nicht dabei, an ihm scheiden sich aber seit Jahr und Tag die Geister und werden das auch weiter Jahr und Tag tun. Auf Niklas Süle hat der Bundestrainer freiwillig verzichtet, weil er sein Potenzial nicht ausschöpfe. Aber womöglich ist ein Halbpotenzial-Profi Süle immer noch besser als manch anderer auf seiner Position? Und dann sind da noch Thomas Müller und Mats Hummels, die On-Off-Legenden mit undefiniertem Status. Klingt nach Hoffnung? Eher nach einem dringend benötigen Wunder.

Für den Sommer 2024 ist bereits höchstinstanzlich ein neues Sommermärchen verordnet worden. Rudi Völler wünscht es sich ganz dolle. Er glaubt auch daran, dass alles gut werden wird, wenn die Mannschaft ihren Teil mit starken Leistungen dazu beiträgt. Doch eben das ist mehr denn je die größte Unbekannte in dieser Gleichung.

Quelle: ntv.de

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