
Carlo Ancelotti will den fünften Titel.
(Foto: picture alliance / GES/Marvin Guengoer)
Es gibt im Weltfußball kaum einen wie ihn: Carlo Ancelotti. Der 64-Jährige startet mit Real Madrid den nächsten Versuch, die Champions League zu gewinnen. Und die Chancen stehen nicht schlecht.
Irgendwann am Dienstagabend, es war schon spät geworden im ehemaligen Zentralstadion, da verlor man dann doch den Überblick. Es war ziemlich sicher, dass Carlo Ancelotti auf dem Podest der Pressekonferenz saß. Doch mit der Übersetzung hörte es sich ein wenig nach dem dauer-schwärmenden Super-Coach Josep Guardiola an. Das Traumtor von Brahim Díaz? Spektakulär, unglaublich! Die Leistung von Aurélien Tchouaméni? Fantastisch! Der ukrainische Aushilfskeeper Andrij Lunin? Sein bestes Spiel! Und die ganze Mannschaft? Sowieso fantastisch!
Ein Feuerwerk an Superlativen, ein verzückter Ancelotti: Beinahe klang es so, als hätte Real Madrid schon im Champions-League-Finale triumphiert, das am 1. Juni im Londoner Wembley-Stadion stattfindet. Dabei war es nur das Achtelfinal-Hinspiel, das gegen ziemlich ebenbürtige und kämpfende Leipziger knapp mit 1:0 gewonnen wurde. Das überschwängliche Lob drückte vielleicht auch aus, dass es am Ende doch knapper als gedacht war. Und dass der 64-Jährige wirklich begeistert war.
Real profitierte, wie auch schon in der Liga das ein oder andere Mal, von einem Schiedsrichtergeschenk. Das Tor von Benjamin Sesko, das schon nach anderthalb Minuten gefallen war, wurde zu Unrecht zurückgenommen. Es gab weder ein Foul noch stand jemand strafbar im Abseits - und doch hatten der bosnische Schiedsrichter, sein Assistent an der Seite und der Niederländer vor dem VAR-Bildschirm irgendetwas davon erspäht. Nur waren sie die Einzigen, die das so gesehen haben.
Die "Notlage" und Bellingham
Für Real ist das ziemlich egal. Im Stile eines Topteams errangen sie diesen Arbeitssieg. Auch wenn die Abwehr zwischenzeitlich wankte und die Offensive oft behäbig unterwegs war. Eine andere Erkenntnis begeisterte Ancelotti: Er nehme mit, sagte er, dass seine Mannschaft eine unheimliche Solidarität habe. Die braucht sie derzeit auch, denn aktuell befinden sich die Madrilenen in einer akuten "Notlage". Mit Abwehrchef David Alaba, DFB-Star Antonio Rüdiger, dem Brasilianer Éder Militão fallen nahezu alle Innenverteidiger aus. Jetzt fehlte auch noch Mittelfeld-Superstar Jude Bellingham verletzt.
Und dennoch, es sind magische Kräfte bei Real Madrid am Werk. Es ist das vielleicht größte Phänomen der Champions League, denn es ist jedes Jahr das gleiche: Die richtige Saison, so formulierte es der Vielleicht-DFB-Rückkehrer Toni Kroos jüngst, sie beginnt erst jetzt. Es ist die Zeit der Madrilenen, es ist die Zeit Ancelottis: In der K.-o.-Phase der Königsklasse, wenn es in jedem Spiel um alles geht. Wenn es plötzlich vorbei sein kann - wie im vergangenen Jahr nach bei der 0:4-Halbfinalpleite gegen Manchester City.
Dieses Jahr findet Real Madrid rechtzeitig vor dem Saisonhöhepunkt seine Bestform - trotz aller Notlagen. In der Liga demontierten sie erst am vergangenen Wochenende das zweitplatzierte Überraschungsteam aus Girona mit 4:0, der Vorsprung beträgt mittlerweile fünf Punkte. Nach einem zähen Saisonstart scheint ihnen der Titel kaum noch zu nehmen zu sein.
Zu verdanken haben sie das vielen. Etwa auch Jude Bellingham, sollte er fit sein. RB-Coach Marco Rose merkte schon vor dem Spiel an, dass es ihn überhaupt nicht überrasche, wie sehr dieser "unglaubliche Fußballer" in Spanien einschlägt. Einzig die Zahl der Tore, 16 sind es in La Liga, mit einer solchen Zahl habe sein Ex-Coach (beim BVB) nicht gerechnet. Wie der Engländer innerhalb kürzester Zeit das Spiel einer der größten Klubs der Welt prägte, es ist schon erstaunlich. Auch in der Leipziger Innenstadt schwenkten die Madridista eine große Fahne mit der Nummer 5, die nun mal Bellingham trägt.
Und das liegt auch wieder an Ancelotti und seinem knallharten Pragmatismus, aus dem vorhandenen Material das Beste zu machen. Er gilt nicht als Jürgen Klopp, nicht als Pep Guardiola, nicht als Diego Simeone. Es gibt nicht die eine Spielidee. Das zeigt das Beispiel Bellingham: Als Mittelmann in der Angriffsdreierkette stößt er mit seiner Wucht und Dynamik in den gegnerischen Strafraum vor. Ohne ein klassischer Torjäger zu sein, macht ihn das zu einer Gefahr für seine Gegner. Dort ersetzt er Karim Benzema, der bis zum Sommer, vor seinem Wechsel nach Saudi-Arabien, der wohl beste Strafraumstürmer der Welt war. Zwei völlig verschiedene Spielertypen, beide passen ins System des Italieners.
Ein "feines Händchen"
Bei Ancelotti werden solche taktischen Kniffe gerne unterschlagen. Er fand auch den perfekten Platz für Toni Kroos, der seit fast einem Jahrzehnt wie ein Feldherr das Spiel der Madrilenen steuert und dafür verehrt wird. "Seine Qualität war immer da, aber sie ragt noch stärker heraus, wenn er in einer Mannschaft mit viel Energie spielt, denn da kommt seine Fähigkeit zum Tragen, das Tempo des Spiels zu bestimmen", sagte Ancelotti vor dem Spiel gegen Rasenballsport und rahmte ihn mit den energiegeladenen, jungen Eduardo Camavinga und Federico Valverde im Dreiermittelfeld ein. Diese Formation könnte auch zur Blaupause für die DFB-Elf bei der Heim-EM werden.
Dabei verfügt der stets Kaugummi kauende Italiener über eine viel offensichtlichere Qualität: seine Ruhe, seine Ausstrahlung. Sie überträgt sich auf seine Mannschaften, schlägt aber nie in Lethargie um. Als einziger Trainer gewann er viermal die Königsklasse. Als einziger Coach holte er den Titel in allen fünf europäischen Topligen. FC Chelsea, AC Mailand, FC Bayern, Paris St. Germain, Real Madrid. Ancelotti hat alles gesehen, alles erlebt. Phasen des Erfolgs, Phasen der Enttäuschung, Phasen mit unruhigem Umfeld. Es gibt nicht viele Weltklassetrainer, die sich Zigarre rauchend mit Sonnenbrille bei einer Meisterfeier fotografieren lassen können.
Real Madrid hat mit Vinicius Jr. einen der besten Flügelstürmer der Welt in seinen Reihen. Bellingham verfügt über Qualitäten, die man derzeit vergeblich ein zweites Mal im Profi-Fußball sucht. Und Kroos und Luka Modrić sind millimetergenaue Passmaschinen. Aber Real hat zudem noch das Ancelotti-Spielverständnis. Auch gegen Leipzig, wirklich keinem guten Spiel der Madrilenen, gibt es nicht so etwas wie Panik oder Unruhe auf dem Feld. Vini jr. wartet an der Mittellinie auf Sprintduelle, Tchouaméni grätscht alles gnadenlos weg, Kroos spielt Pass um Pass um Pass.
Rose formulierte es so: Das Wichtigste im Profi-Fußball sei die Kabine, dort werde alles entschieden. Der Trainer habe zwar die Verantwortung, es sei aber wichtig, dass er einen Ort schaffe, an dem sich die Profis selbst gegenseitig erziehen, Dinge von ganz allein entwickeln. Und bei Real funktioniert das. "Wenn du so lange auf diesem Niveau arbeitest, dann hast du ein ganz feines Händchen dafür", erklärte der Leipziger Coach. Eben das zeichne Ancelotti aus.
Am Dienstag war er sogar noch in der Lage, spätabends zu witzeln. Tchouaméni hatte in der arg dezimierten Innenverteidigung ausgeholfen und das tatsächlich gar nicht so schlecht gemacht. Doch der Franzose sieht sich selbst in eher im Mittelfeld, nicht in der letzten Verteidigungslinie. So wie Spieler häufiger ein anderes Bild von sich haben als der Trainer. "Ich habe ihm gesagt, dass es sich um einen Notfall handelt", sagte Ancelotti, lachte und zog die linke Augenbraue hoch: "Mal sehen, was er dazu sagt, wenn er in der Innenverteidigung spielt, wenn das nicht mehr der Fall ist."
Quelle: ntv.de