Das Wunder von Müngersdorf Der chaotische FC Bayern dreht völlig frei
28.05.2023, 08:30 Uhr
Alle Emotionen brechen raus aus Thomas Müller und Joshua Kimmich.
(Foto: REUTERS)
Auch nach der dramatischen Titel-Erlösung setzt sich das Chaos der Saison beim FC Bayern fort. Die Münchner bejubeln auf dem Platz ausgelassen die emotionalste Meisterschaft seit Jahren - während in diesen Minuten die Nachricht vom Aus der Bosse die Runde macht.
Thomas Müller atmete einmal tief durch, seinem FC Bayern war eine ganz große Peinlichkeit erspart geblieben. Als der Ersatzkapitän und seine Mitspieler das Handy, auf dem sie verfolgten, was der BVB so veranstaltete, am Mittelkreis wegwarfen, als sie aus ihrer Kurve enthemmte Gesänge gehört hatten, da rannten sie wie die Wilden zum Fanblock - und feierten. Sie feierten den elften Titel in Serie. Was sie indes nicht wussten: Das Parallelspiel zwischen der völlig verzweifelten Borussia aus Dortmund und dem FSV Mainz 05 war noch gar nicht abgepfiffen.
Sie waren in ihrer blinden Euphorie einfach dem Lärm der Kurve gefolgt. In der 96. Minute erzielte Niklas Süle den Ausgleich zum 2:2. Weitere Bälle fanden den Weg in den Strafraum der Mainzer. Ein einziges Tor noch und die feiernden Münchner wäre aus allen Träumen gerissen worden, so wie sie den FC Schalke 04 einst 2001 aus allen Träumen gerissen hatten. Noch einmal griff der BVB an. Ein allerletztes Mal. Verzweifelt. Abpfiff. Ekstase in Müngersdorf, Tränen in Dortmund. War knapp, sagte Müller. Das Wunder war tatsächlich geschehen.
Wenig bis nichts hatte vor diesem 34. Spieltag für den FC Bayern und seine zehnte Titelverteidigung gesprochen. Die Mannschaft des Rekordmeisters war eine Woche zuvor von RB Leipzig auf links gedreht worden, es herrschte Fassungslosigkeit aller Orten. Anders beim BVB: Auf beeindruckende Weise hatte der Verein die Feuertaufe zum Titel beim FC Augsburg bestanden - und alles war bereit, die Auferstehung in dieser Rückrunde mit voller Wucht eskalieren zu lassen. Die Hotelzimmer in der Stadt waren teurer als in Dubai. Hunderttausende waren bereit, die Stadt mit ihrer Liebe und Leidenschaft für ihre schwarzgelben Helden zu fluten. Und mit Mainz schien der beste Gegner für dieses Vorhaben zu kommen. Zwar hatte die Mannschaft vor einigen Wochen den FC Bayern ganz böse auseinandergenommen, doch seither eigentlich nur noch Schrott zustande gebracht.
Musiala sticht dem BVB ins Herz
Doch dann drehten sich die Dinge an diesem Samstag ab 15.38 Uhr in jene Richtung, in die sie sich in den vergangenen Jahren immer gedreht hatten. Sie drehten sich zum und für den FC Bayern. Kingsley Coman hatte sehenswert getroffen und den dramatischen Showdown damit eröffnet. München führte 1:0, war in der Blitztabelle wieder vorbeigezogen. Sie taten das, was sie tun mussten: ihre Hausaufgaben erledigen, den Druck erhöhen und hoffen, dass der Riese aus dem Pott stolpert. Und das tat er. Um 15.45 Uhr lag er 0:1 hinten. Die Bayern konnten ihr Glück kaum fassen. Um 15.46 Uhr donnerte durch das Stadion: "Deutscher Meister wird nur der FCB". Und es ging weiter, immer weiter. Dortmunds Herzensmensch Sébastien Haller vergab einen Elfmeter, Mainz stellte auf 0:2. Der emotionale Wahnsinn nahm nun unaufhaltsam seinen Lauf. Während der schwarz-gelbe Riese kollabierte, rappelte sich der rote Riese auf.
24 Minuten waren da gespielt. Niemand verstand, was da passierte. Nicht in Dortmund, nicht in Köln. Hoffnung starb, Hoffnung wuchs. Und noch einmal, nur andersrum: Als die bärenstarken Kölner in der 80. Minute aus elf Metern getroffen hatten, als der FC Bayern heftig wankte und fassungslos war, war der BVB plötzlich Meister. Effzeh-Trainer Steffen Baumgart hatte einen Heidenspaß. Das RheinEnergie-Stadion bebte, das Westfalenstadion in der Ferne noch viel mehr. Verrückt. Alles verrückt. Aber München hatte die Antwort: Jamal Musiala setzte den Ball in der letzten Minute ins Netz, alles an Emotionen frei und stach Dortmund tief ins Herz. Der Youngster und seine Kollegen rannten wie die Wilden in die Kurve. Sie feierten wie Kinder, schrien das Glück aus sich hinaus. Bis in die alte und geschockte Stahlmetropole dürfte das zu hören gewesen sein. So laut war das.
Das Wunder war wirklich geschehen. Und dann wurde es urplötzlich wundersam. Die Handys der Nation vibrierten und es gab nur noch ein Thema. Nicht die Meisterschaft, nicht die gigantischen Emotionen der sehr erlösten Bayern, sondern die Entlassung der Bosse Oliver Kahn und Hasan Salihamidžić. Wieder einmal waren die Münchner von den Medien überrascht worden. Wie schon bei Manuel Neuers wütender Interview-Abrechnung nach der Trennung von seinem Kumpel und Torwarttrainer Toni Tapalovic. Wie schon bei der Entlassung von Julian Nagelsmann. Die Medien waren stets einen Schritt schneller. So mischte sich hektische Betriebsamkeit in den Jubel. Salihamidžić, der auf dem Feld alles und jeden in Weiß (Meistershirts) herzte, der wie befreit von all den Lasten wirkte, wurde plötzlich ernst, gestikulierte wild mit Präsident Herbert Hainer. Szenen, die Raum für Interpretationen lassen.
Ein Vorgehen, das für Fassungslosigkeit sorgt. "Das ist dem FC Bayern unwürdig. Sie müssen aufpassen, dass sie sich nicht auseinanderdividieren", sagte Sky-Experte Dietmar Hamann. "Irre. Mir fehlen wirklich die Worte. Art und Weise, Zeitpunkt", sagte der ehemalige Bayern-Stürmer Sandro Wagner im ZDF. Der ehemalige Münchner Toni Kroos sagte dem Portal "Real total" zum Umgang der Bayern mit Kahn: "Das ist jetzt nicht meine Baustelle, aber es gibt mittlerweile schon ein Bild ab, das ein bisschen bedenklich ist." Auch die Art der Kommunikation verwundert den Strategen: "Das dann an so einem Tag zu bestätigen, offiziell vorherzusagen, er ist krank. Dann: Nein, ist er nicht, er durfte nicht kommen. Mehr habe ich bisher nicht gehört, aber ich glaube dem Olli mal."
Salihamidžić müht sich, Kahn zündelt
Auch im glücklichsten Moment der Saison stolpert der FC Bayern ins Chaos. Thomas Müller wurde im Interview nach Spielende überrascht und auch Trainer Thomas Tuchel war kaum in der Lage, diese Wucht der Lawine aufzuhalten. Tuchel wirkte entsprechend irritiert und konsterniert. Die Abberufung der Bosse passe ins Bild, sagte er mit finsterer Miene, "denn statt zu feiern, haben wir direkt wieder das nächste politische Thema". Er müsse abwarten, "was die Planungen und der weitere Weg sind", das Ganze erst einmal "verarbeiten".
Die beiden entmachteten Bosse waren es schließlich gewesen, die ihm, Tuchel, die Tür nach München geöffnet hatten, um die Saison der Münchner zu retten. Sie sahen alle Ziele in Gefahr - und verpassten sie, bis eben auf die Meisterschaft, das denkbar kleinste Happy End der Saison. Nicht emotional, aber in Silberware. Während Salihamidžić bemüht war, den Hammerschlag souverän wegzumoderieren, hielt der Titan Kahn nicht mit seiner Wut hinterm Berg. Der Klub habe ihm untersagt, nach Köln zu reisen, twitterte er. In den Katakomben sorgte das für reichlich Augenrollen bei den Münchnern. Wäre der Titan doch immer so emotional gewesen, womöglich hätte es den Amts-K.o. nicht gegeben. Dass er sich zu oft versteckt hatte, Debatten nicht einfangen konnte und Spieler oder Trainer, vor allem Nagelsmann, im Sturm stehen ließ, wurde ihm zum Verhängnis.
Unter anderem zumindest. Was auch nicht passte: die Kaderplanung. Eher Hoheitsgebiet von Salihamidžić, aber eben auch getragen vom Boss Kahn. Euphorisch gefeierte Top-Transfers erwiesen sich als sportliche Luftpumpen. Die Besetzung oder Nicht-Besetzung von Postionen wurde völlig falsch eingeschätzt. Über die Stürmerthematik ist alles geschrieben, über die Rolle des Sechsers auch. Dafür gab es indes neues Futter: Nationalspieler Leon Goretzka, eines der unglücklichsten Gesichter dieser Saison, kam gegen Köln spät und musste schnell wieder runter. Nach dem 1:1 (80.) musste Tuchel All-In gehen und hielt Goretzka für den verzichtbarsten Mann in diesem offensiven Halleluja. Er wurde belohnt. Joker Musiala stach. Tuchel bekannte danach: "Es tut mir leid für Leon. Aber es ging darum, die Meisterschaft zu gewinnen. Da darfst du als Trainer in diesem Moment keine Rücksicht nehmen, wie er sich fühlt. Auch wenn ich natürlich mit ihm mitfühle und mich auch entschuldigt habe bei ihm." Wie es weitergeht? Unklar, Goretzka droht intern weiter abzurutschen. Es passt irgendwie nicht. In der Hierarchie. Im Kader.
"Chapeau Männer!"
In der nächsten Saison wird der Druck noch größer. Noch so eine Zitterspielzeit kann und will der Klub sich nicht leisten. Gerade international steht der FC Bayern in der Pflicht, wieder zu liefern. Das ist der eigene Anspruch. Dreimal in Serie im Viertelfinale der Champions League zu scheitern, kratzt nicht nur an der Ehre, sondern auch am Selbstverständnis. Am geheiligten Mia san mia, das in dieser Saison zum großen Thema geworden war. Weil es nicht mehr da war. Nicht mehr als Hort des Familiären, nicht mehr als dieses Unerschütterliche auf dem Feld. Robust gegen alle Widerstände. Das ist der Klub nicht mehr. Die mächtige Festung FC Bayern ist nun angreifbar geworden. Anders als die Wächter noch Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge hießen. Sich stets vor den Klub, die Spieler warfen. Nebenkerzen zündeten, polterten, den Fokus auf sich zogen. Zum Schutz des Vereins.
Und die alten Recken kommen offenbar tatsächlich zurück. Über ein Comeback von Hoeneß, in welcher Rolle auch immer, wird schon länger diskutiert. Und jetzt bahnt sich offenbar auch die Rückkehr von Rummenigge an. Der 67-Jährige soll der "Bild am Sonntag" zufolge in den Aufsichtsrat rücken und die Münchner bei der umfassenden Kaderplanung für die kommende Saison unterstützen.
In Müngersdorf waren die alten Hüter nicht dabei, Hoeneß dann aber abends bei der Titelparty. Dort feierte sich der alte und neue Meister. Mit markigen Ansagen. Hainer, der in Köln alleine und mit gereckten Fäusten vor den Fans gefeiert hatte, sagte: "Was für eine Truppe! Es war extrem klasse, was die Mannschaft heute geleistet hat. Außer uns hat in der ganzen Republik keiner mehr daran geglaubt. Ich kann nur sagen: Chapeau Männer!" Erst feiern, dann nach vorne gucken - und international wieder angreifen. Eine Auferstehung aus Wunder. Und Chaos.
Quelle: ntv.de